Wie deine gesamte Persönlichkeit ergänzender Teil eines Gemeinwesens ist, so soll auch jede deiner Handlungen das gemeinschaftliche Handeln dieses Gemeinwesens ergänzen. Wenn sie es nicht tut, wenn sie diesen Absichten mehr oder minder fern ist, so zerstückelt sie dein Leben, behindert seine Harmonie und ist aufrührerisch wie einer, der im Volk seine Partei dem Zusammenwirken mit den anderen entfremdet.

MARCUS AURELIUS IX 23

Zu viele Zufälle«, dachte er. Zufällig hatte Batrax ihn beim Amphitheater gesehen; zufällig hatte der Junge Lust, ihm zu helfen; zufällig hatte Batrax Alcimus gefunden, der ja auch in Trans Tiberim oder woanders hätte sein können; zufällig war Korinna misstrauisch genug gewesen, um Apollodoros eine Bitte zuzuflüstern; zufällig hatte der Händler die Bitte weitergeleitet; zufällig war Alcimus gerade dann von seiner Besprechung mit Pacuvius wieder zum Palast zurückgekommen, und zufällig war Pacuvius, als Alcimus’ Bote ihn benachrichtigt hatte, auf dem Weg zur Unterkunft der Wächter Septimius und seinen Männern begegnet.

Gaius Pacuvius mochte Zufälle nicht. Umbricius hatte ihm beigebracht, dass ein guter Offizier ohne glückliche Zufälle nie Erfolg haben würde, dass aber nur ein guter Offizier glückliche Zufälle sinnvoll nutzen konnte. Bis vor wenigen Tagen – bis zu jenem schlimmen Abend – hatte Pacuvius sich für einen guten Offizier gehalten; nun war das Selbstvertrauen dahin, und er wusste nicht einmal, ob er überhaupt noch Offizier war. Dass er sich zwischendurch immer wieder sagte, alles wäre anders gekommen, wenn Rusticus ihn hätte ausreden lassen, half nicht viel. Umbricius mochte längst schriftlich niedergelegt haben, dass Pacuvius den Anforderungen des Sonderdienstes nicht genüge und nur zum Centurio niedrigsten Ranges tauge. Umbricius hätte ihm dies gesagt, wenn er, wie angewiesen, morgens zu ihm gegangen wäre, statt in einem Kerker die Zeit totzuschlagen. Von der toten Zeit zerschlagen zu werden.

Rusticus hatte dem Sonderdienst zweifellos nicht mitgeteilt, dass Pacuvius nicht verfügbar sei. Wenn er ihn tatsächlich schützen wollte, wäre es unsinnig gewesen, dies jenen zu sagen, die möglicherweise zu denen gehörten, vor denen er geschützt werden sollte. Wenn, falls, hätte, wäre, sollte …

Während sie durch die Nacht hasteten, um einen unwilligen Atilius, einen erheiterten Lukianos, einen müden Batrax und eine schweigsame Korinna zu einem Haus in der Subura zu bringen, konnte er sich nicht mit Alcimus beraten; nachmittags hatten sie nicht genug Zeit für gründliche Beratung gehabt. Also nutzte er den Weg, um üble Gedanken zu denken und dafür zu sorgen, dass er sich noch schlechter fühlte. Er hatte versagt, danach wie ein wehleidiger Jüngling die struppige Seele in Wein zu glätten versucht, sich beim Gang durch die Unterwelt, wo er Mörder hätte fangen sollen, an Korinnas Hand und Alcimus’ Führung festgehalten, war unentschuldigt und unentschuldbar der Besprechung mit Umbricius (der Beschimpfung, dem Tadel, der Bestrafung durch Umbricius) ferngeblieben. »Ein guter Offizier«, sagte er sich, »wird durch glückliche Zufälle und eigenes Können erhoben; ein schlechter Offizier nutzt unselige Zufälle, um sich zu vernichten.« Korinna war da, wenige Schritte von ihm entfernt, aber am anderen Ende des Imperiums. Keine Hand für ihn, diesmal. Gut so, dachte er; er konnte sich nicht den ganzen Rest seiner Dienstzeit an Korinnas Hand festhalten.

Außerdem – Lukianos. Die Mimin, die auch schrieb, und der bedeutende Autor. Hier ein schlechter oder vielleicht schon entlassener Offizier, dort ein großer Dichter. Viel zu wählen, fürwahr. Bei diesem Überfall war der Mann kühl geblieben, hatte nicht geschrien, sondern versucht, Korinna mit seinem Leib zu schützen. Er hatte das Schwert von Septimius angenommen, als ergriffe er derlei nicht zum ersten Mal.

Und ehe sie Pacuvius gestreichelt und Batrax umarmt, hatte sie Lukianos’ Hand gehalten.

Die Leiber und die Hände. Ohne Zweifel hatten die beiden sich miteinander vergnügt. Ohne Zweifel hatten Batrax’ Augen deshalb die Leere gesucht, als er beider Namen erwähnte. Zweifellos stand es Pacuvius nicht zu, darüber zu befinden. Er wollte Korinna; ein wenig verblüfft stellte er fest, dass er sich plötzlich kaum an Remas Gesicht erinnern konnte. Er war nicht vorhanden gewesen, nicht zur Vergnügung noch zu anderem. Reden, zum Beispiel. Vielleicht hatte Korinna ihn für tot gehalten, halten müssen, schnell beseitigt, gleich nach der Verhaftung hingerichtet. Er selbst hatte ja nicht gewusst, wohin man ihn brachte; wie hätte Korinna mehr wissen können? Und der bedeutende Autor, Korinnas »Zunftbruder« … alles verständlich, alles abscheulich. Er verspürte Neid, wusste nicht, ob er dieses Gefühl Eifersucht nennen sollte, empfand Abneigung gegen den Mann. Eigentlich wollte er ihn hassen.

Aber er fühlte sich leer, verloren in einem Labyrinth, dessen Ausdehnung er nicht kannte und von dem er weder wusste, ob es überhaupt existierte, noch, wie er hineingelangt war oder ob es einen Minotaurus gab, einen Faden, eine Ariadne. Solange er in diesem Labyrinth steckte, würde er nicht fähig sein, zwischen Lukianos und Korinna zu treten, Korinna darum zu bitten, Ariadne zu spielen, einen Faden von ihrer Tunika zu lösen und das Gewand aufzuriffeln, damit er etwas hätte, woran er sich halten könnte. Aber ohne diesen oder einen anderen Faden käme er nie aus dem Labyrinth; und falls er es doch verlassen könnte – oder falls das Labyrinth nicht existierte –, gäbe es keinen Grund, um den Faden zu bitten. 

Wenn es wenigstens möglich gewesen wäre, diesen Etrusker zu sprechen, zu befragen, notfalls mit vorgehaltener Klinge … Aber das Tor der Bibliothek war versperrt gewesen und zu dick, als dass sie es hätten aufbrechen können. Außerdem war Vel Kuruna vielleicht längst gegangen. Verschwunden. Und der Name war nicht so selten. Es mochte einen anderen Vel Kuruna geben. Oder nicht? Alt, fett, mit Schriften befasst – zu viele Dinge, die mit Tyllus’ Auskünften übereinstimmten.

Dabei hatte er, als sie durch die Nacht gingen, das unwirkliche Gefühl, der Lösung aller Rätsel ganz nah zu sein. Wie im Kerker, nach dem Traum von den drei Köpfen, drei Strähnen und einem Zopf. Aber sosehr er sich auch bemühte – er konnte das Schwert und den Kaiser, Fufius und Vel Kuruna, Umbricius und Rema, Manlius und Fabricius Balbus nicht in eine sinnvolle Reihung bringen.

Das Haus in der Subura lag in einem Gewirr kleiner Gassen zwischen dem Hang des Viminalis und der Argiletum. Es war die Gegend der Flickschuster und Lederwerker, und im Herzen des Bezirks gab es Gerbereien, die die Werkstätten mit Leder und die Umgebung mit Gestank versorgten.

»Puh!« Lukianos, ein dunkler Umriss in der Mitte der Gasse, hob die Hände über den Kopf. »Der Schwamm der Nacht ist vollgesogen – Nashornpisse, Schlangengalle, Büffelkotze, aller Eiter des Hades!« Dann kicherte er und sagte:

»Unterließ nicht Homeros, eingedenk seiner Nase,

die er am Randsaum der Nacht von Subura sich stieß, wohlweislich,

diese Worte zu schreiben, deren Flügel die Mauser

schlimm gerupft hat, die siechen und von Schwären bedeckt sind:

›Wer ergriffe den Schwamm, wer wränge verwegen die Nacht aus?

Reicht mir lieber geschwind Pandoras Büchse, damit ich,

wenn ich den Ekel des Kosmos auswürgen muss, ein Gefäß hab,

das alles aufnimmt und sich vielleicht dabei noch verbessert.‹

Ist mir einfach so rausgerutscht, aber auch bessere Verse würden diesem Duft nicht gerecht.«

Pacuvius hörte Korinna leise lachen. Er verzog das Gesicht.

Atilius schnaufte. »Gibt es kein besseres Versteck?«

»Immerhin sind wir hier sicher vor Senatoren.« Alcimus deutete auf ein Haus rechts vor ihnen, fast am Ende der Gasse, aus der es keinen Ausweg zu geben schien. »Dort hinein.«

Über eine Schwelle aus tanzenden Ziegeln stolperten sie in einen unebenen Gang. Alcimus’ Stimme klang, als hielte er sich die Nase zu. »Geradeaus, ins letzte Zimmer links.«

Pacuvius stöhnte lautlos. Er kannte die Gegend flüchtig, die Gasse kaum, das Haus gar nicht und wäre nicht traurig gewesen, den Mangel nicht beheben zu müssen. Im Gang roch es nach verwesten Hunden, die nach einer Mahlzeit aus Knoblauch und fauligem Fisch in einer Jauchegrube ertrunken waren. Das Zimmer, in das Alcimus sie scheuchte, war dagegen beinahe eine Erholung; es mochte den ältesten Gerbern Roms als Latrine gedient haben, wenn sie an Darmkrankheiten litten.

Es dauerte einige Zeit, bis Alcimus Feuer geschlagen hatte und eine Fackel entzündete. Nie war Pacuvius der Duft harzigen Holzes so köstlich erschienen. Und selten ein Anblick entbehrlicher als der des Zimmers.

Denn es enthielt nichts, außer einigen Schemeln. Nichts, was den Geruch hätte rechtfertigen oder auch nur erklären können. Kein ältlicher Elefantenkadaver, kein Bottich, in dem sich Löwenblut und der Sud von Aftergeschwüren in gärender Vermählung befanden.

»Boden und Wände«, sagte Korinna, »hätten Schauspieler werden sollen. Sie haben gründliche Absonderungen sehr gut auswendig gelernt und geben sie nun vermehrt und vermengt wieder.«

Alcimus lachte. »Ihr solltet eure Gesichter sehen können! Ich preise Epulos treffliche Beherrschung; er lässt sich nichts anmerken.« Er fand ein beinahe passendes Loch in der Wand und steckte die Fackel hinein.

Pacuvius bemühte sich, die gerümpfte Nase zu entspannen. »Vielleicht riechen Kormorane nicht«, sagte er.

Atilius ließ sich auf einen Schemel fallen. »Und jetzt?«

Lukianos nickte. »Gute Frage. Wie lange sollen wir uns der guten Luft hier ergötzen?«

»Setzt euch doch erst einmal«, sagte Pacuvius. »Im Sitzen lässt sich besser beraten.«

Alcimus wartete, bis alle saßen; dann sagte er: »Dies nur zur Erklärung. Wir werden hier nicht lange bleiben; ich hoffe, morgen eine andere Unterkunft zu finden.«

Batrax, mit Epulo auf der Schulter, schob seinen Schemel in eine Ecke, wo er sich anlehnen konnte, und schloss die Augen.

»Auf dem Weg hierher habe ich ein wenig nachgedacht«, sagte Lukianos. »Nicht, dass dieses Unternehmen vieler Gedanken bedürfte. Was versprecht ihr euch davon?«

»Es ist ganz einfach und zugleich schwierig.« Pacuvius wollte tief Luft holen, atmete dann aber lieber flach. »Der schwierige Teil ist, dass wir nicht genau wissen, wer aus welchen Gründen seltsame Dinge tut, Pläne verfolgt, eine Verschwörung angezettelt hat.«

Atilius stieß ein hämisches Lachen aus. »Eigentlich wisst ihr also nichts. Und deshalb habt ihr uns entführt?«

»Nicht ihr, sondern er.« Alcimus deutete auf Pacuvius.

»Ach«, sagte Atilius, »du bist also ein wehrloses Opfer?«

»Gewissermaßen.«

»Verblüffend.« Atilius blickte auf das Schwert an Alcimus’ Gürtel; oder vielleicht auf den roten Stein im Griff.

Lukianos räusperte sich. »Das ist Unsinn«, sagte er. »Ich nehme an, du willst wirre Dinge ordnen und Trübes klären. Da du meinst, dass höhere Stellen entweder verantwortlich sind oder nicht genug unternehmen, nimmst du Geiseln. Mit diesen, also uns, willst du wen auch immer erpressen, zwingen, Finsteres zu erhellen und Unterfangen zu beenden. Ist das so?«

Pacuvius zögerte. Das Wort »entführen« hatte er vor der Bibliothek beinahe im Scherz verwendet. Er wollte erfahren, was geschehen war, wollte verhindern, dass Atilius, der sehr wohl an dem Anschlag (wenn es tatsächlich einer war und von Vel Kuruna ausging) beteiligt sein mochte, an der falschen Stelle große Reden hielt. Vor allem wollte er Korinna in Sicherheit wissen und mit allen sprechen, die etwas beitragen konnten.

Er entschloss sich dazu, Lukianos und die anderen zunächst in dem Glauben zu lassen, dass sie Geiseln seien. Vielleicht käme etwas Verwertbares heraus, wenn man darüber stritt. »Sehr abgehoben ausgedrückt«, sagte er; »aber – ja. Einigermaßen ja.«

»Einigermaßen, ja?« Lukianos lachte. »Darf ich das in einem absurden Dialog verwenden?«

»Wenn es dich erheitert.«

»Mäßig. Dann lass uns die Möglichkeiten bedenken.«

»Welche Möglichkeiten? Deine oder meine?«

»Deine; falls es da einen Unterschied gibt. Also: Deine Gegner sind entweder erfunden oder nicht. Einverstanden?«

Pacuvius nickte. Er drehte sich auf seinem Schemel so, dass er das Gesicht von Korinna, die ein wenig links von ihm saß, ebenso sehen konnte wie das von Atilius, ganz links an der Wand, und das von Lukianos, ihm gegenüber. Atilius’ Züge waren zu einer höhnischen Fratze erstarrt; Korinna blickte auf den Boden, und Lukianos schien bemüht, einem unzugänglichen Tölpel etwas zu erklären, ohne herablassend zu klingen.

»Wenn sie erfunden sind, müssten wir aufwendige Erklärungsversuche für einige Vorgänge aushecken – den Überfall eben, einen toten Fischhändler, einen ermordeten Senator, deine Verhaftung, die Gerüchte, die das Schwert des Spartacus betreffen, und noch einiges mehr. Überhaupt: das Schwert des Spartacus. Ist es das?« Er deutete auf Alcimus’ Waffe.

Alcimus legte die Hand an den Griff. »Wenn es nicht das Schwert des Spartacus ist, dann jedenfalls eines, das dem Märchen in allen Einzelheiten entspricht.«

Lukianos nickte. »Vorsichtig ausgedrückt. Ich würde es später gern einmal in die Hand nehmen. Aber weiter. Gehen wir davon aus, dass deine Feinde existieren, Pacuvius. Sie können hochgestellt sein oder niedrig. Wenn sie niedrig sind, wirst du sie nicht mit Geiseln erpressen können, an denen ihnen nichts liegt.«

Atilius schnaubte. »Wenn nicht alles Hirngespinst ist, wenn es sie gibt, wenn sie bedeutend sind … Wenn, wenn, wenn.«

Lukianos achtete nicht auf ihn. »Ich nehme an, du gehst davon aus, dass all dies zusammenhängt und nur von Leuten in hohen Ämtern ausgelöst oder angeordnet worden sein kann.«

»Ja.«

Lukianos blickte zu Korinna hinüber. »Sag du es ihm.«

»Was?« Pacuvius hob die Brauen.

Korinna löste die Blicke von Boden, den sie die ganze Zeit betrachtet hatte, als wolle sie sich jede Spalte, jede Fuge, jeden Schmutzfleck einprägen.

»Ich fürchte, Lukianos hat recht«, sagte sie. »Alle, die vielleicht mit dieser Sache befasst sind, wissen, dass Alcimus dein Freund ist. Niemand wird glauben, dass du ihn entführt hast. Batrax?«

Der Junge, der eingeschlummert war, öffnete ein Auge und schloss es wieder.

»Wen willst du mit Batrax erpressen?«

»Batrax hat mir geholfen; mit ihm will ich niemanden erpressen. Und ihr wollt mir das alles ausreden, nicht wahr?«

»Das müssen wir wohl.« Korinna klang beinahe traurig. »Atilius? Sicher ein kundiger und unersetzlicher antiquarius, aber bildest du dir ein, jemand, der vielleicht den Kaiser ermorden will, kümmert sich um Atilius?«

Der Mann aus dem Archiv blinzelte schnell. »Den Kaiser ermorden? Vielleicht erklärt mir irgendwann mal jemand, um was es hier eigentlich geht. Aber – nein, mit mir kann man niemanden erpressen. Eigentlich schade.«

»Bleiben Lukianos und ich. Eine unbedeutende Schauspielerin; niemand wird für mich eine Hand rühren. Ein berühmter Schriftsteller … Man wird seinen Tod beklagen und seine Werke, neu abgeschrieben, in Purpur binden.«

Lukianos lächelte. »Bestenfalls.«

Pacuvius beugte sich vor. »Aber er ist der Lukianos! Die ganze Oikumene kennt und preist ihn! Sie werden …«

»Sie werden nichts.« Korinna schüttelte den Kopf. »Sie umgeben sich mit Dichtern, Malern, Musikern, Philosophen; vielleicht schätzen sie sie tatsächlich oder bewundern sie sogar, aber vor allem genießen sie es, dass von glänzenden Personen ein wenig Glanz auf sie fällt, wenn sie nah genug danebenstehen. Ansonsten sind auch die größten Künstler entbehrlicher Zierrat.«

»Ist das dein … euer Ernst?«

»Manchmal nicht einmal Zierrat, sondern lediglich … abdingbar«, sagte Lukianos. »Bekundungen von Fürsten und Senatoren über die Größe anderer verschallen und sind schnell verschollen, wenn es die wirklichen Anliegen zu wahren gilt.«

Atilius hob den Zeigefinger. »Als Hüter von Schriften sehe ich das vielleicht nicht richtig; könntest du mich erhellen?«

»Augustus hat Ovidius gepriesen und verbannt«, sagte Lukianos. »Meinst du, Agamemnon hätte ein einziges goldenes Gefäß aus der trojanischen Beute für das Leben von Homeros geopfert? Und wer ist Lukianos, verglichen mit Homeros?«

Pacuvius lachte leise. »Dann wäre Epulos Leben vielleicht das wichtigste in diesem Zimmer?«

Batrax öffnete diesmal beide Augen. »Sowieso«, sagte er.

»Ich bin mir wichtiger«, sagte Atilius.

»Also haltet ihr das alles für sinnlos?«

»Sinnlos; der Gestank hier ist entsetzlich; ich will jetzt gehen.«

Zu seiner Überraschung hörte Pacuvius Lukianos sagen: »Bleib sitzen. Da wir nun hier versammelt sind, können wir vielleicht ein paar andere Fragen drehen und wenden, um zu sehen, ob Antworten in ihnen verborgen sind.«

Atilius schüttelte den Kopf. »Ich will nicht. Ich gehe jetzt.«

Alcimus zog das Schwert. »Setzen.«

Atilius hob die Arme, ließ sie fallen und kehrte zu seinem Schemel zurück.

»Welche Fragen?«, sagte Pacuvius.

Lukianos schlug die Beine übereinander, stützte den rechten Ellenbogen auf das oberste Knie und das Kinn in die Hand.

»Ich weiß zu wenig über Personen und Einrichtungen in Rom«, sagte er versonnen. »Deshalb taste ich im Nebel herum. Außerdem wüsste ich gern mehr Einzelheiten.«

»Welche Einzelheiten?«

»Korinna hat mir einiges erzählt, vielleicht sogar alles; ich würde es aber gern von dir hören, um besser zu verstehen.«

»Warum? Reine Neugier?«

Lukianos warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Findest du nicht, dass ich schon als Entschädigung für die Entführung und diesen Gestank ein paar Worte verdiene? Ich weiß nämlich nicht, ob dieser Geruch nicht schlimmer ist als der Tod, vor dem ihr uns bewahrt habt.«

Pacuvius zögerte.

»Außerdem«, setzte Lukianos hinzu, »kenne ich mich mit Geschichten aus. Ich weiß, wie eine gute Geschichte gebaut sein muss, damit sie nicht zusammenbricht. Und die Wirklichkeit ist nicht viel … bruchsicherer. Erzähl deine Geschichte; vielleicht kann ich dir danach sagen, ob sie in sich stimmig ist. Was nicht unbedingt heißen muss, dass sie stimmt.«

Alcimus hielt noch immer das Schwert in der Hand. Er hob den Griff vor sein linkes Auge, kniff das rechte zu und spähte die Klinge entlang. Die Spitze mochte auf Lukianos deuten, dachte Pacuvius.

»Ist das nicht zu gefährlich?«

»Was meinst du, Alcimus?«, sagte Korinna.

»Ich meine, es ist leichtsinnig, jetzt alle Einzelheiten zu besprechen. Lukianos müssen wir nicht hereinziehen, und Atilius gehört vielleicht zur Gegenseite.«

Atilius gluckste; er setzte wieder sein höhnisches Lächeln auf, sagte aber nichts.

Pacuvius begriff plötzlich, dass er nichts in der Hand hatte, nicht einmal dieses Gespräch. Die Erörterung der angeblichen Entführung hatte ihn keinesfalls weitergebracht. Er fühlte sich, als sei er tiefer gestürzt denn je zuvor. In den Kerker hatten ihn andere gebracht; in dieses Loch der Sinnlosigkeit dagegen hatte er sich selbst gestürzt, das Loch selbst gegraben. Alles, was misslingen konnte, war misslungen.

Dann sagte er sich, dass ein Krieger am besten kämpfte, wenn er mit dem Rücken an einer Felswand lehnte; dass er kaum noch tiefer fallen konnte, und dass es allein deshalb aufwärtsgehen würde; dass keiner der anderen in diesem ekelhaften Stinkloch säße ohne die Hirngespinste oder den begründeten Argwohn von Gaius Pacuvius Lentulus. Es war seine Pflicht, alle wieder ins Freie zu bringen, und zwar so, dass nicht seinetwegen andere, Finsterlinge, sich über sie hermachen würden, weil sie zu viel wussten. Und irgendwie war er sicher – vielleicht zum ersten Mal, seit alles begonnen hatte –, dass es ihm gelingen würde. Er würde die Knoten lösen, die Wirrsal entwirren. Aber dazu brauchte er Hilfe.

Er begann zu lachen. Links von ihm saß Korinna, mit der er, fast besinnungslos vor Wein, eine Nacht in Roms Cloaca verbracht hatte und nun eine zweite in noch übleren Gefilden. Er wollte mit Korinna Nächte verbringen, aber anders. So, wie Lukianos und Korinna vermutlich eine Nacht verbracht hatten. Die Cloaca und das scheußliche Hauptlager allen Gerbereigestanks – welche Orte, um mit einer Frau zusammen zu sein, und ihr Götter: welche Nächte! 

»Lass uns an deiner Heiterkeit teilhaben«, sagte Alcimus.

Pacuvius schüttelte den Kopf. »Das ist kaum möglich. Lasst uns lieber ein wenig austauschen, was wir wissen.«

»Was ist mit dem da?« Alcimus wies auf Atilius.

»Er wird zuhören und mitmachen oder …« Pacuvius klopfte auf sein Schwert.

Atilius’ höhnische Züge wurden ein wenig ernster; aber nicht viel.

»Vielleicht kann er auch zwei oder drei Dinge beitragen.« Lukianos streifte den antiquarius mit einem flüchtigen Blick. »Auskünfte über Roms Archive, zum Beispiel, und die Gepflogenheiten des Vel Kuruna.«

»Ich werde anfangen«, sagte Pacuvius, »weil ich mit diesem Unsinn angefangen habe. Korinna, unterbrich mich bitte, wenn du ergänzen oder verbessern willst.«

Sie nickte. Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, schien ihm einige Fragen, aber auch eine wichtige Bestätigung zu enthalten.

Pacuvius bemühte sich, nichts auszulassen. Er begann mit seiner Versetzung nach Portus, den Reden des alten Centurio auf dem Leuchtturm, den bestechlichen Wächtern, den Vorgängen um Fufius und Septimius. Korinna ergänzte hin und wieder, nannte genauere Einzelheiten über die Fahrten mit Manlius und dessen Gespräch mit dem ermordeten Senator Fabricius Balbus. Trans Tiberim, der Tod von Manlius, Überlegungen, Verdächtigungen, die Nacht vor dem Richterstuhl des Präfekten Iunius Rusticus, die Nacht in der Unterwelt, der Kerker, die Befreiung. Alles – nur eines nicht: Rema. Er blieb bei der Fassung, die er auch vor Rusticus erzählt hatte; dabei nahm er sich vor, Alcimus und auch Korinna einzuweihen, bald, demnächst, vielleicht. Dann, notfalls, auch Lukianos, dessen Scharfsinn nicht unbeträchtlich schien. Aber nicht jetzt, nicht vor Publius Atilius, der allem zunächst mit spöttischer Miene, dann immer aufmerksamer lauschte.

Schließlich räumte er ein, die »Entführung« sei nur ein Vorwand gewesen; das schien aber allen längst klar zu sein.

»Ich glaube, Septimius gefällt mir«, sagte Lukianos, als Pacuvius geendet hatte. »Aber – ihr werdet nach Portus geschickt, um einen zu suchen, der hinterher auf einem anderen Weg nach Rom kommt; der Leuchtturm wird mit einem alten Centurio besetzt, der Geschäftsleuten gewisse Gefälligkeiten erweist; dann versetzt man euch nach Trans Tiberim, wo ein Fischhändler Geschäfte mit einem Senator macht und bald darauf stirbt; wie der Senator. Alles ganz merkwürdig.«

»Und sehr wirr.« Atilius rieb sich die Nase; dann lachte er. »Gehört zwar nicht dazu, aber mir fällt auf, dass es gar nicht mehr so stinkt. Man gewöhnt sich. Vielleicht solltet ihr euch einfach daran gewöhnen, dass es immer wirr ist und stinkt, wenn man für das Imperium arbeitet. Wer sich daran gewöhnt hat, bemerkt es nicht mehr.«

»Mag sein«, sagte Alcimus; »aber manches kann man nur gut erledigen, wenn man sich nicht an Gestank gewöhnt.«

Batrax setzte sich plötzlich auf; der Kormoran erschrak und stieß einen seltsamen Piepston aus. »Und wenn es wirklich zwei sind?«, sagte der Junge.

»Wen meinst du?« Korinna schien die Ohren zu spitzen; jedenfalls kam es Pacuvius so vor.

»Ich meine: Was, wenn der, den ihr in Portus abfangen solltet, tatsächlich umgebracht worden ist, am Hexagon, und der andere, den euer Meister vor dem Präfekten hat antanzen lassen, nur so ähnlich aussieht und einen ähnlichen Ring hat?«

»Wisst ihr eigentlich, wie der heißt, auf den ihr da gewartet habt?«, sagte Lukianos.

Pacuvius schüttelte den Kopf. »Ich habe nur eine Beschreibung bekommen, und dass er aus Olbia unterwegs wäre.«

»Und der Mann, den Umbricius in den Saal geholt hat?«

Alcimus blickte Batrax an. »Gut, Junge«, sagte er; »zwei, das könnte sein. Nein, Lukianos, auch da kennen wir keinen Namen. Das lässt sich aber vielleicht herauskriegen.«

»Versuch das«, sagte Lukianos. »Es könnte nämlich sein …«

»Verzeih die Unterbrechung.« Korinna beugte sich vor. »Mir kommt gerade ein Gedanke. Atilius, bist du sicher, dass der Mann, der uns überfallen hat, dieser Philippus ist?«

»Philippos«, sagte Atilius mit Nachdruck. »Ein Grieche aus, uh, Smyrna, glaube ich.«

»Kennst du ihn? Was weißt du sonst über ihn?«

Atilius überlegte. »Ein ehemaliger Seemann«, sagte er dann; »ist jetzt Vorarbeiter oder so …« Er unterbrach sich. »War Vorarbeiter bei einem Trupp, der Lasten befördert, Umzüge macht, so etwas. Er arbeitet oft auf dem Markt, in der Basilica Ulpia, wenn da zum Beispiel Möbel versteigert werden oder andere schwere Dinge zu bewegen sind.«

Pacuvius runzelte die Stirn. »Woher kennst du ihn?«

»Die Bibliothek ist vor ein paar Monaten mit neuen Gestellen versehen worden; Philippos und seine Leute haben sie gebracht und aufgebaut. Seitdem war er einige Male da; er hat gelesen.« Atilius hob die Schultern. »Soll auch bei ehemaligen Seeleuten schon mal vorkommen.«

Lukianos und Korinna wechselten einen Blick; sie sagte: »Aber Vel Kuruna hat Charinus aufgetragen, einen Philippus zu grüßen, der Gladiator war.«

»Philippos, Philippus, leicht zu verwechseln«, sagte Pacuvius. »Aber ehemaliger Seemann und ehemaliger Gladiator?«

Atilius setzte ein etwas verlegenes Lächeln auf. »Da muss ich wohl unaufmerksam gewesen sein«, murmelte er.

»Aber du warst doch dabei«, sagte Lukianos.

»Anwesend abwesend.« Atilius breitete die Arme aus; dann ließ er sie sinken und legte die rechte Hand auf das Gemächt. »Der da hat mich abgelenkt. Er – oder ich, das ist in diesem Fall gleich – war damit beschäftigt, an nette Dinge zu denken. Die Tochter des Ulpius, was man mit ihr machen könnte und so weiter.«

Pacuvius lächelte Batrax an. »Danke, mein Freund«, sagte er; »ich glaube, du hast uns auf einen guten Weg gebracht. Also: vielleicht zwei Männer mit Siegelring, und offenbar ein ehemaliger Seemann und ein ehemaliger Gladiator mit fast gleichen Namen.« Er wandte sich an Atilius. »Kennst du den anderen, den Gladiator?«

Ehe der antiquarius antworten konnte, sagte Korinna: »Ich kenne ihn zwar nicht, aber vielleicht weiß ich etwas.«

»Und zwar?«

»Die Agoraphonier, diese Mimentruppe, die ein gewisser Tolmides leitet … Ich weiß nicht, wo sie jetzt gerade sind, aber in Portus habe ich gehört, sie hätten einen ehemaligen Gladiator namens Philippus angeheuert, um falsche Schwertkämpfe aufzuführen.« Sie schloss die Augen, als könne sie sich so besser auf Einzelheiten besinnen. »Philippus, ja – Schwertfuchtler, hieß es. Außerdem hat dieser Tolmides angeblich einen Ägypter in die Truppe aufgenommen, der die Leute in Schlaf versetzt, indem er sie anstarrt, und dann lässt er sie allen möglichen Unsinn machen, an den sie sich später nicht erinnern.«

»Die Agoraphonier?«, sagte Pacuvius. »Die waren doch bei Umbricius, auf dem Fest, als wir da waren, Alcimus, oder?«

Alcimus hob die Schultern; er grinste flüchtig. »Ich habe zuerst mit ein paar Prätorianern Beschimpfungen ausgetauscht und danach mit einer Frau, eh, geredet. Ich weiß nicht, wer da für Zerstreuung oder Trübsal der Gäste gesorgt hat.«

Pacuvius wandte sich wieder an Korinna. »Weißt du, wie viele Mitglieder die Truppe hat?«

»Zuletzt, als ich sie gesehen habe, im frühen Sommer, waren es sieben. Wenn einer gestorben oder gegangen wäre, hätte ich das wahrscheinlich gehört.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, da sind nur einige hinzugekommen. Der Gladiator. Der Ägypter. Ah ja, und Arkesilaos; war vorher bei den Mimystikern von Catulus.«

»Was macht der? Auch Schwertkämpfer?«

Sie lachte. »Nein. Ganz brauchbar als Schauspieler, aber besonders gut als Imitator. Stimme, Gebärden, Gang, und wenn er gut geschminkt ist, macht er dir sogar die Gesichter von Senatoren, Strategen oder Wagenlenkern nach.«

»Also zehn Leute?« Pacuvius überlegte. Neun, hatten die Wächter an der Porta Portuensis verzeichnet, und acht hatte er auf dem kleinen Platz nahe der Prätorianerfestung gesehen. »Und gehört hast du das in Portus? Waren die da?«

»In der Nähe. Auf einem Gut in den Hügeln.«

Pacuvius gelang es, keine Überraschung zu zeigen. Er hatte das Gefühl, nicht allen in der Runde jede Einzelheit verraten zu sollen. Er überlegte, wie er das Gespräch wieder in eine andere Richtung lenken könnte, als Batrax plötzlich sagte: »Philippus habe ich, glaube ich, schon mal gesehen.«

»Wo?« Alcimus musterte den Jungen aufmerksam. »Und wie sieht er aus?«

»Also, er ist …« Batrax schien nach Worten zu suchen, dann zuckte er mit den Schultern. »Schön, sagen wir mal so. Er ist einfach schön. Schlank, aber kräftig, sieht gut aus, hat fast so was wie ein Tänzeln im Gang. Und wo? In Portus; vor, uh, zweieinhalb Jahren? Er hat da einen Schaukampf gemacht. Und ich glaube, er hatte was mit Marullus zu klären.« Er lächelte verlegen. »Das hab ich aber nur von Weitem gesehen.«

Atilius schob die Unterlippe vor. »Ein schöner Mann? Erinnert mich an was, aber ich bin nicht sicher; wo sollte Charinus den suchen?«

»Irgendwas Rasendes.« Korinna schaute zu Lukianos. »Rasender Stier? Rasender Löwe?«

»Wildschwein«, sagte Lukianos. »Kennt das jemand?«

»Südlich von der Sublicius-Brücke«, sagte Alcimus. »Wo die Cloaca in den Tiber mündet. Ziemlich schäbig. Nicht gerade der Ort für den Herrn der Archive.«

»Ich glaube, da wird scharf gespielt.« Atilius lächelte. »Der Ehrwürdige spielt gern.«

»Aber wenn sie da zum Spielen verabredet sind, warum lässt Kuruna Charinus dann ausrichten, Philippus oder Philippos soll ihm entgegenkommen?«, sagte Lukianos.

»Keine Ahnung. Aber ich weiß jetzt, wer das ist, dieser Philippus. Hat auch einen Ring im Ohr. Er ist mal bei uns gewesen und hat mit dem Ehrwürdigen gesprochen. Wenn es nicht ein anderer schöner Mann war.« Er lächelte.

»Liest er denn?«, sagte Pacuvius.

»Weiß ich nicht.«

»Zwei Leute aus Olbia, jedenfalls angeblich«, dachte Pacuvius; »zwei Muskelmänner; einer davon Gladiator und bei den Agoraphoniern, und die waren auf einem Gut in den Hügeln und später bei Umbricius?« Er kratzte sich den Kopf. Dann sah er, dass Alcimus endlich das Schwert wieder wegsteckte, und schnipste mit den Fingern.

»Weiß einer von euch« – er blickte Lukianos und Atilius an – »mehr über dieses sogenannte Schwert des Spartacus?«

»Vel Kuruna schien sich dafür zu interessieren«, sagte Lukianos. »Korinna hat ihm etwas dazu gesagt.«

»Was denn?«

»Ich habe ihm gesagt, dass es in Portus aufgetaucht ist, angeblich von Fufius vergessen, und dass ein Offizier es jetzt trägt.«

»Und damit war er zufrieden?«

»Er hat jedenfalls nicht weiter gefragt.«

»Vel Kuruna.« Lukianos faltete die Hände hinter dem Kopf und schloss die Augen. »Dieses Archiv … Es gibt in Rom doch noch andere Archive, nicht wahr?«

»Mehrere, für verschiedene Dinge.« Atilius gähnte und rieb sich die Augen. »Ich bin müde und habe Durst. Müssen wir dieses Spiel hier noch lange betreiben?«

»Nicht mehr lange«, sagte Pacuvius. »Aber warum fragst du nach Archiven, Lukianos?«

»Ich wüsste gern, warum das Archiv da unter der Bibliothek all diese – nun ja, Kostbarkeiten und ausgefallenen Schriften versammelt. Kannst du mir mehr dazu sagen, Atilius?«

Der antiquarius seufzte. »Wenn es sein muss«, sagte er.

»Es muss.« Alcimus grinste. »Je eher du unseren Wissensdurst stillst, desto eher kommst du hier raus, um etwas gegen deinen Durst zu unternehmen.«

»Also. Kurz gesagt: Anfangs, das heißt in der frühen Republik, wurden alle für die Öffentlichkeit bestimmten Dinge wie Gesetze und sonstige Urkunden in den Tempeln und an den öffentlichen capitolinischen Gebäuden ausgestellt. Dann kamen die vom Senat erlassenen Gesetze, oder wichtige Verträge, ins Aerarium des Saturnus, unter der Aufsicht der Quästoren. Das wurde irgendwann zu klein dafür und ist heute nur noch eine Art Steuerarchiv. Vor ungefähr zweihundertdreißig Jahren wurde am Capitolium das Tabularium Civitatis eingerichtet, zur Aufbewahrung gesetzlich und rechtlich wichtiger Texte. Natürlich haben alle Behörden eigene Archive, und es gibt im Kaiserpalast, in der Kanzlei, alle Erlasse, Bekanntmachungen und so weiter der Kaiser. Zufrieden?«

»Ja. Und nein.« Lukianos löste die Verschränkung der Hände wieder, öffnete die Augen und sah Atilius an. Pacuvius glaubte, Zweifel in dem Blick zu lesen.

»Ja, weil es ein paar Fragen beantwortet und schließt – und nein, weil es andere offenlässt. Oder öffnet.«

»Was meinst du?«

»In den Bibliotheken sind Abschriften aller Werke, die ganz allgemein für Leser bestimmt sind. In eurem Archiv unter der Bibliothek sind die kostbaren Erstschriften von eigener Hand, und zwar von Dichtern wie von Staatsmännern. Dann gibt es da noch die geheime Sammlung unerhörter Werke …«

»Was ist das?«, sagte Pacuvius. Auch Alcimus, der zuletzt ein wenig gelangweilt auf den Boden geschaut hatte, hob den Kopf.

»Darüber können wir später reden«, sagte Lukianos.

»Muss das sein?« Atilius verzog das Gesicht. »Was meint ihr denn, warum es geheim ist?«

»Wenn es sein muss, wird es wohl sein müssen.« Lukianos grinste. »Aber bleiben wir bei den Fragen – bei der einen großen Frage, die ich habe. Es gibt dort Dramen und Gedichte, Berichte, Briefe, Aufzeichnungen, Prophezeiungen; aber … nichts, was den Kern des Staats betrifft: die Verfassung.«

»Ah«, sagte Atilius. Er schien wirklich überrascht zu sein. »Die Verfassung? Ja, uh, also.« Er verstummte.

»Könntest du ein bisschen ausführlicher werden?«, sagte Korinna. »Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.«

Lukianos zupfte an seinem Kinn, als wolle er die nachgewachsenen Bartstoppeln ausrupfen. »Ich habe – das gehört zur Ausbildung als Rhetor – einige Zeit auf das Studium der Verfassungen verwandt. Die athenische, die spartanische, die römische, die Kommentare des Aristoteles, die vielen anderen Verfassungen, die im Lauf der Jahrhunderte entstanden sind und über die Aufzeichnungen existieren – Makedonien, Persien, Karthago, Syrakus, das hellenische Ägypten und so weiter. Daher weiß ich natürlich, dass ihr vor sechshundert Jahren all eure Gesetze auf zwölf Tafeln geschrieben habt. Die sollen bei der Eroberung Roms durch die Gallier zerstört worden sein, aber es gab Abschriften, und kluge Leute haben Kommentare geschrieben. Cicero, zum Beispiel, oder der ältere Cato.« 

Pacuvius betrachtete aufmerksam das Gesicht des antiquarius, war sich aber nicht sicher, ob er dort Ablehnung las – Ablehnung, wichtige Dinge zu erörtern – oder lediglich eine Mischung aus Ratlosigkeit und Überdruss. Unlust und Durst vielleicht.

Lukianos fuhr fort: »Ich kann nicht glauben, dass in eurem Archiv nicht eine der älteren Abschriften aufbewahrt wird. Eine mit den Kommentaren der gelehrten Männer. Ciceros Kommentar, Catos Kommentar. Cicero hat sich, als die Republik unterging, Gedanken über andere Verfassungen gemacht; er hat versucht, die alte Verfassung zu retten oder neu zu beleben, diese Geschichte mit einem abgehobenen Staatslenker – nichts davon im Archiv? Gaius Iulius Caesar, dessen Schriften ihr hütet, einschließlich« – er lächelte boshaft – »bekritzelter Papyrusfetzen, hat in seinen Tagen als dictator auf Lebenszeit doch ohne Zweifel darüber nachgedacht, was aus Rom werden sollte. Das Königsdiadem, das Marcus Antonius ihm anbot, hat er abgelehnt – aber hat er nicht wenigstens drei oder vier Gedanken, Bemerkungen, Entwürfe niedergeschrieben? Und die Männer, die ihn ermordet haben: kein Brief, kein Wort von Brutus, Cassius und ihren Freunden über die Republik, die sie sich vorstellten? Was ist mit all den anderen, die noch in der Republik versucht haben, die Verfassung zu ändern oder eine neue zu erarbeiten – Gaius und Tiberius Gracchus und alle, die eine Bodenreform und eine neue Machtverteilung zwischen den Schichten anstrebten? Augustus, heißt es, wollte zurück zu einer veränderten republikanischen Staatsform; angeblich hat die Kaiserin Livia ihn daran gehindert, allzu laut nachzudenken – aber hat er nichts geschrieben? Kaiser Claudius wollte das Kaisertum abschaffen; wo sind seine Arbeiten dazu? Nicht zu reden von all den anderen Arbeiten und Gesetzen – Drakon, Solon, Aristoteles, Platon, und nichts von ihren Staatsschriften in diesem Archiv?«

Lukianos brach plötzlich ab, lächelte breit und schnalzte. »Atilius hat recht – Durst, vor allem bei einer so langen Rede.«

»Du bist aber noch nicht fertig, nicht wahr?« Korinna schien ihn aufmerksam zu betrachten, mit, wie Pacuvius fand, zu viel Bewunderung. Bewunderung wofür? Für den Autor? Den überraschend belesenen Staatskundler? Oder doch den Mann?

»Nicht ganz. Bestimmt haben noch andere außer den Genannten sich Gedanken gemacht. Darüber, dass die alte republikanische Verfassung, für eine Stadt entworfen und vereinbart, lange vor Caesar und Brutus nicht mehr ausreichte, nicht ausreichen konnte, ganz Italien zu leiten, nicht zu reden vom ausgedehnten Imperium. Jährlich wechselnde Leitung, öffentlich von den Bürgern auf dem Marsfeld gewählt; und die römischen Bürger außerhalb der Stadt? Immer schwerer zu bewältigende Aufgaben überall – soll nicht vielleicht eine entlegene Provinz wie Britannien von Beamten geleitet werden, die sich dort auskennen, statt von ehemaligen Konsuln, die am Ende ihrer Amtszeit ein, sagen wir, Ehrenamt in der Ferne erhalten und es nutzen, um die ihnen übergebene Provinz auszubeuten?«

»Aber das haben wir doch alles!«, sagte Atilius. »Die Verwaltung des Imperiums, die umsichtig und umfassend arbeitet, auch wenn in Rom selbst gerade kein Kaiser ist. Oder« – er kicherte – »wenn mehrere Kaiser da sind, deren Hauptanliegen es ist, einander umzubringen.«

»Jetzt habt ihr das.« Lukianos beugte sich vor und richtete den Zeigefinger wie eine Waffe auf Atilius. »Jetzt – aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die von den Kaisern erschaffene Maschine nicht vorher schon von anderen bedacht, erwogen, erdacht wurde. Und dass es nicht kluge Männer« – er blickte Korinna an und lächelte – »oder Frauen gegeben hat und sicherlich noch heute gibt, die wissen, dass die Art, wie Kaiser zur Macht gelangen, große Mängel hat. Dass ein Mann – Sohn oder Adoptivsohn eines anderen, oder gestützt auf die Waffen der Legionen – nur dann die beste Lenkung sein kann, wenn er gut ist. Wie Caligula, wie Nero, wie Domitianus? Otho? Galba? Vitellius? Dass ein Senat, in dem nicht nur die Bürger – ach was, die Reichen der Stadt Rom sitzen, sondern Männer, die gewählt wurden in Athen, Antiochia, Alexandria, Karthago, Londinium, Lugdunum, Mediolanum, Colonia oder wo auch immer, meinethalben sogar Samosata, dass solch ein Senat vielleicht besser und dauerhafter geeignet wäre, Ämter zu besetzen, Gesetze zu erlassen und einen Oberbefehlshaber zu bestimmen?« Leiser, fast als müsse er sich dazu zwingen, sagte er dann: »Einen, der kein Kaiser ist … Das Reich ist zu groß, um an einer einzigen Person hängen zu können. Eine Person, die alles in der Hand hält. Und alles muss fallen, wenn diese eine Hand abgeschlagen wird.« 

Atilius hielt die Augen geschlossen. Korinna nickte langsam. Pacuvius räusperte sich, um etwas zu sagen, aber Alcimus kam ihm zuvor.

»Für solche Reden, ruhmreicher Lukianos, sind schon viele Männer hingerichtet worden. Am Ende verlangst du noch, dass das römische Bürgerrecht über Italien hinaus ausgedehnt und allen Bewohnern des Imperiums verliehen wird?«

Lukianos presste die Lippen zu einem Strich. »Ich verlange überhaupt nichts«, sagte er. »Ich denke nur – und ich glaube nicht, dass nicht andere das schon gedacht und aufgeschrieben haben. Und ich frage mich, warum nichts Derartiges in diesem Archiv liegt.«

»Das mag ja alles sein«, sagte Pacuvius. »Aber es tut doch gar nichts zur Sache. Wir sollten …«

»Du irrst«, sagte Korinna. »Es tut, fürchte ich, sehr viel zur Sache. Sind wir … bist du nicht überzeugt davon, dass alles, womit du dich plagst, mit einem Anschlag auf den Kaiser zusammenhängt? Marcus Aurelius ist Stoiker, wie wir nur allzu gut wissen, und ich glaube, die Stoiker haben, wie alle Philosophen, immer wieder über gute und schlechte, mögliche und unmögliche Staatsformen nachgedacht. Angeblich ist doch sogar Marcus Aurelius selbst im Herzen ein Republikaner.«

Pacuvius schwieg ein paar Atemzüge lang; dann sagte er: »Mag sein. Trotzdem: Ich fürchte, es bringt uns nicht weiter. Außer, Lukianos sieht etwas, und du, Korinna, auch, was wir anderen nicht sehen.«

»Nur Fragen«, sagte Lukianos. »Oder Zufälle. Das Fehlen solcher Schriften im Archiv. Nun gut, vielleicht ist derlei im Palast zu finden, aber – unter der Bibliothek nicht einmal Abschriften?«

Atilius räusperte sich; er wirkte beinahe verlegen. »Ich weiß nicht«, murmelte er, »ob ich das sagen darf, aber … Ich glaube, es hat solche Schriften gegeben. Zuständig dafür war aber nur der Meister selbst. In den vergangenen Monaten ist der Kaiser mehrmals in der Bibliothek gewesen; manchmal hat er auch einen seiner Berater geschickt. Und sowohl der Fürst als auch die Berater sind immer mit Rollen oder Tafeln weggegangen.«

»Du meinst«, sagte Pacuvius, »alle Schriften, nach denen Lukianos fragt, hat Marcus Aurelius aus der Bibliothek geholt? Aber wozu?«

Alcimus kicherte. »Vielleicht will er eine neue Verfassung ausarbeiten und dazu alle alten studieren.«

Sie schwiegen ein paar Atemzüge lang; dann sagte Lukianos: »Dieses Gerede über das Schwert des Spartacus, das den Kaiser töten soll – dabei wurde auch ein geheimnisvoller etruskischer haruspex erwähnt. Der Einzige, den ich bisher getroffen habe, ist Vel Kuruna, der sich ›Ehrwürdiger‹ oder ›Meister‹ nennen lässt, wie es einem etruskischen haruspex zukommt. Vel Kuruna, der seine Gäste mit einer Mahlzeit bewirtet, die vielleicht nur ein Zitat ist, vielleicht aber auch mehr.«

»Was ist mit der Mahlzeit?«, sagte Pacuvius.

»Wir haben gegessen, was vor langer Zeit sechs Priester, sechs Priesterinnen und der neue Pontifex Maximus zu seiner Amtseinführung aßen. Der Pontifex Gaius Iulius Caesar. Kein Pontifex am Tisch – aber damals waren es mit ihm dreizehn, wir waren zwölf. Fehlte jemand? Hat Vel Kuruna einen Platz frei gehalten? Für wen? Oder ist alles Zufall?«

»Husili«, sagte Batrax plötzlich.

»Was?« Atilius starrte den Jungen an; die anderen machten mehr oder minder ratlose Gesichter.

»Husili«, wiederholte Batrax. »In Portus habe ich gehört, ein Etrusker wird in Rom husili machen.«

»Was ist das?«, sagte Lukianos. »Kennt jemand das Wort?«

Korinna blickte ratlos drein, Alcimus schüttelte den Kopf. Atilius schluckte und hustete.

»Ich nicht.« Er hustete noch einmal. »Klingt – ja, könnte Etruskisch sein. Aber was bedeutet es?«

»Wer hat das gesagt, Batrax?«, sagte Pacuvius.

Der Junge blickte verdrossen. »Weiß ich nicht mehr«, murrte er. »Oder? Ich glaube … ich glaube, das waren einfach ein paar Männer am Hafen. Am Hexagon. Stauer, oder Matrosen. Oder – ja, vielleicht auch in einer Schenke, oder davor.« Er schüttelte sichtlich unzufrieden den Kopf. »Ich weiß es nicht genau. Aber es war irgendwie ganz gewöhnlich, zwischendurch.«

»Du meinst, ohne Umstände, an die du dich erinnern würdest? Kein Einbeiniger, der das im Kopfstand gesagt hat? Oder vier Gladiatoren im philosophischen Gespräch?«

Batrax lachte. »Nein. Einfach so, irgendwie nebenher.«

»Weißt du, was das bedeutet?«, sagte Korinna.

»Nein.« Die Lüge fiel Pacuvius nicht schwer. »Aber ich dachte, wenn man wüsste, wer es unter welchen Umständen gesagt hat, könnte man daraus vielleicht Schlüsse ziehen.«

Nach kurzem Schweigen seufzte Korinna. »Wir beide« – sie blickte Lukianos an – »sind eigentlich dumme Fremde. Griechen. Ich bin zwar schon lange in Rom, aber irgendwie …« Sie hob die Schultern. »Bestimmte Dinge, die ihr vermutlich mit der Muttermilch aufnehmt, fehlen mir einfach. Etrusker … Ich habe keine Ahnung von Etruskern.«

»Sie haben Rom und große Teile Italiens beherrscht«, sagte Alcimus. »Zusammen mit den Karthagern haben sie vor, ach, ungefähr siebenhundert Jahren die Ausdehnung der Griechen im westlichen Meer beendet. Kurz danach hat Rom sich von den etruskischen Königen befreit und Etrurien erobert. Seitdem ist nichts Wichtiges mehr zu vermelden, abgesehen davon, dass einige bedeutende römische Sippen angeblich von etruskischen Adligen abstammen. Ah ja, und natürlich die etruskischen Wahrsager, die haruspices. Reicht das?«

»Diese Opferpriester, zu denen offenbar Vel Kuruna gehört.« Lukianos grinste matt. »Lesen die Zukunft aus den Eingeweiden vergangener Tiere, ja? Seltsame Beschäftigung für einen Archivar. Weiß jemand, ob die Etrusker auch, wie die Babylonier früher, besondere Namen für jeden einzelnen Leberzipfel haben?«

»Weiß ich nicht«, sagte Alcimus. »Vielleicht liest er die Zukunft ja auch aus den Eingeweiden vergangener Schriften.« Er stand auf und musterte Pacuvius. »Mir stinkt’s. Was machen wir denn jetzt? Von wegen Entführung und so weiter?«

Publius Atilius war bereit, heilige Eide darauf zu leisten, dass er schweigen würde, unter der Bedingung, dass er später alles erführe. Alcimus versicherte ihn der innigen Eindringlichkeit seines Schwerts für den Fall »unziemlichen Plauderns«.

Als sie das grässliche Haus verließen und auf der Gasse standen, dachte Pacuvius flüchtig daran, wie abhängig Wahrnehmungen von den Umständen sind. Der Gestank des Gerberviertels, der ekelschwangere Schwamm der Nacht, den Lukianos beinahe besungen hatte, erschien ihm nach den Gerüchen des Hauses als köstliche frische Brise. Den anderen ging es offenbar ähnlich.

»Wo werdet ihr denn nun die Nacht verbringen?«, sagte Atilius. »Wenn ich all das Gerede halbwegs verstanden habe, Pacuvius, kannst du dich ja nirgendwo sehen lassen.«

Pacuvius schwankte immer noch. Er glaubte nicht an Eide. Vielleicht wäre es besser, sagte er sich, Atilius zu töten. Aber der antiquarius mochte tatsächlich vertrauenswürdig und harmlos sein. Und wenn nicht …

»Du musst nicht alles wissen«, sagte er. »Du weißt ohnehin zu viel. Ich glaube, du solltest dich auf den Heimweg machen.«

Lukianos tippte Atilius mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Und dich dabei heftigen Vergessens befleißigen. Manchmal ist die beflissene Anhäufung von Nichtwissen heilsam; sie verlängert das Leben.«

Atilius öffnete den Mund, besann sich, schloss ihn wieder, nickte und verschwand in der Nacht.

»Die andere Unterkunft«, sagte Alcimus, »von der ich gesprochen hatte, wäre sofort verfügbar.«

»Du hast doch gesagt, du hoffst, sie morgen zu finden.«

»Man hätte ein bisschen arbeiten müssen, um uns alle unterzubringen. Aber das ist ja nicht mehr nötig.«

Über dem kleinen Platz, den sie eben erreichten, war noch ein Stückchen des sinkenden Mondes zu sehen; im fahlen Licht sah Pacuvius, wie Lukianos die Zähne bleckte.

»Fürwahr«, sagte er. »Mich bewegen vier Wünsche dazu, möglichst schnell das Gästehaus des Präfekten aufzusuchen.«

Korinna blieb stehen. »Welche vier Wünsche sind es?«

»Erstens: ein großer Becher mit Wasser und Wein und ein ruchloses Bett. Zweitens schlafen. Drittens ein Bad und ein Frühstück, in dieser oder der umgekehrten Reihenfolge.«

Korinna lächelte. »Und viertens?«

»Ah, jetzt wird es schwierig.«

Pacuvius stampfte auf. »Geht das etwas schneller?«

»Das hängt von dir ab.«

»Wieso von mir?«

Lukianos betrachtete Korinna, die von Pacuvius zu ihm und wieder zurück blickte. »Zunftschwester«, sagte er, »gewisse Entscheidungen liegen bei dir. Wer bei dir liegt, zum Beispiel. Andere Entscheidungen liegen bei Pacuvius – ob er allein weitermachen will oder Rat annimmt oder Vorschläge hat.«

Alcimus kicherte. »Das Leben so kurz, die Lebenskunst so lang zu lernen.«

Batrax gähnte, tätschelte Epulos Kopf und ging zur Platzmitte, wo er sich an die Umrandung des Brunnens lehnte.

»Rat? Vorschläge? Was meinst du?«, sagte Pacuvius.

»Ich will nicht behaupten, dass ich in diese Sache verwickelt wäre. Andererseits … wenn, was wahrscheinlich ist, der Überfall heute Abend kein Zufall war, bin ich doch verwickelt. In jedem Fall finde ich eine gute Geschichte immer reizvoll. Sodass ich überlege, ob ich mich einmischen soll.«

Pacuvius nickte langsam. »Du könntest auf einer anderen Ebene vielleicht etwas erreichen. Wenn du magst.«

Alcimus hob eine Braue.

Korinna schüttelte den Kopf. »Du bist Gast des Präfekten und sollst Vorschläge für die Feiern zum Triumph im nächsten Jahr machen, nicht dich mit Wächtern und Dolchmännern balgen«, sagte sie.

Pacuvius suchte in ihrer Stimme Untertöne, fand aber keine.

»Zunftschwester, du vergisst meine Neugier.«

»Marcus Aurelius«, sagte Pacuvius.

»Daran dachte ich auch.« Lukianos kniff ein Auge zu. »Ist das dein Wunsch für meinen vierten Wunsch?«

»Du bist nicht nur der ruhmreiche Dichter und Gast des Präfekten; du hast ja auch Zugang zum Mitkaiser Lucius Verus gehabt und freundliche Dinge über seine Beischläferin Panthea geschrieben. Vielleicht möchte der Erhabene sich gern von dir mehr über die dortigen Verläufe und, sagen wir, die Nebenschauplätze des Kriegs gegen die Parther erzählen lassen.«

»Und in die Erzählung könnte ich natürlich einige Fragen flechten, nicht wahr? Aber wie? Soll ich Rusticus bitten, mir ein Stückchen von der Zeit des Kaisers zu beschaffen?«

»Nicht nötig«, warf Alcimus ein. »Er hält wenig von Ruhe und viel von Pflicht. Kurz nach Sonnenaufgang empfängt er im Palast jeden, der von ihm gerichtet werden möchte.«

Lukianos schaute Pacuvius an. »Warum bist du nicht längst selbst zu ihm gegangen?«

»Er war nicht da; ich war eingesperrt, und für uns gilt der Dienstweg. Der Kaiser empfängt Bürger; wenn ich etwas will, habe ich mich an Umbricius zu wenden.«

»Wie heißt noch der Berater«, sagte Alcimus, »der die Audienzen verwest? Dem wir hin und wieder im Bad begegnen?«

»Meinst du Quirinus?«

Alcimus nickte. »Genau den.«

»Vielleicht hat Quirinus morgen früh, das heißt heute, keinen Dienst. Aber jeder Schreiber wird Lukianos aus Samosata sofort zum Kaiser vorlassen. Was willst du ihn fragen?«

Lukianos lächelte. »Bis dahin werde ich mir einige hübsche Fragen überlegen. Ist das also mein vierter Wunsch?«

Gegen seinen Willen fand Pacuvius den Schriftsteller plötzlich angenehm. Er überlegte, ob ein kleiner Wächter im Sonderdienst mit einem berühmten Mann befreundet sein könnte; dann sagte er sich, dass der berühmte Mann Rom vermutlich im Frühjahr wieder verlassen würde und dass der kleine Wächter nicht wusste, ob er überhaupt noch Wächter war. Außerdem hatten Empfindungen in dieser Sache keine Bedeutung.

»Dein vierter Wunsch, edler Lukianos, ist genau dies, verbunden mit dem Begehren, kurz zu schlafen und früh geweckt zu werden, damit du früh im Palast sein kannst.«

»Ei«, sagte Lukianos, »das habe ich fast befürchtet. Wie halten wir Verbindung?«

Alcimus räusperte sich. »Ich komme gegen Mittag zu dir ins Gästehaus des Präfekten; einverstanden?«

»Natürlich. So wollen wir denn scheiden.«

»Die Frage ist«, sagte Alcimus mit einem Gluckser, »wer ohne wen, wer mit wem, außerdem wie wohin.«

Pacuvius schaute in Korinnas Gesicht. Sie kaute auf der Unterlippe, schüttelte kaum merklich den Kopf, streifte Batrax, der am Brunnen lehnte, mit einem Blick, sah Lukianos an, lächelte, wandte sich wieder zu Pacuvius und sagte: »Sag was.«

»Er traut sich nicht«, sagte Alcimus. »Er lebt zurzeit ein bisschen gefährlich; da will er keinen hineinziehen.«

»Ich bin doch längst hineingezogen«, sagte Korinna.

Pacuvius war noch immer unschlüssig. Nicht, was seine Wünsche betraf; aber die Gefahr, die Dinge, die er in dieser Nacht erledigen wollte, dazu anderes, was er lieber getan hätte, wozu aber vermutlich keine Zeit bliebe … Zunftschwester und Zunftbruder. Mimin und Wächter. Wächter ohne Zukunft. Und plötzlich eine heftige Abneigung dagegen, all dies hier mehr oder minder öffentlich auszutragen.

Er holte Luft, streckte die Hand aus und sagte: »Was soll ich sagen?«

»Nichts.« Korinna lächelte und nahm seine Hand.