ORKA
Orka zog an Trúrs Zügeln, und der Wallach wurde langsamer und blieb schließlich stehen. Er stampfte mit den Hufen und stieß schnaubend seinen warmen Atem aus. Sein Fell dampfte vor Schweiß. Orkas Atem bildete ebenfalls Wolken. Die Temperatur war gefallen, während sie ständig höher geklettert waren.
Jetzt betrachtete sie die Szenerie vor sich.
Sie waren im Hochland, zwischen weiten Hügeln, die allmählich in die Flanken des Knochenmassivs übergingen. Düstere Kiefernwälder dehnten sich vor ihr aus, und an den Borken der Bäume glitzerte Frost. Orka beugte sich zur Seite und spuckte aus, dann drehte sie sich im Sattel herum und warf einen Blick über die Schulter.
Mort und Lif galoppierten nicht allzu weit hinter ihr über eine offene Weide und waren kurz vor dem Waldsaum. Hinter den beiden Brüdern fiel der Hang zu einem Flusstal ab, das sich durch das Land zog. Orka folgte dem Lauf des Drammur in der Ferne, der immer schmaler wurde, bis er schließlich verschwand. Sie wusste, dass er bis nach Darl führte und ihre Verfolger höchstwahrscheinlich über diese Strecke kommen würden. Guðvarr verfolgte sie über Land, was die Rauchsäulen der Feuergruben verrieten, die er jeden Abend entzündete.
Was für ein Idiot!, dachte Orka verächtlich. Aber sie vermutete, dass ihnen ebenfalls Boote über den Drammur folgten. Wahrscheinlich eher schlanke Snekken als Drachenboote, wegen der vielen Untiefen und Stromschnellen. Im Osten fielen die Hänge, die sie gerade hinaufstiegen, zum Drammur ab. Der Fluss wurde schmaler und reißender, als sie sich seinem Oberlauf im Knochenmassiv näherten. Rauchfahnen verrieten, dass es eine Siedlung am Ufer des Flusses gab, eine von vielen, die Orka und die beiden Brüder auf ihrem Ritt zum Grimholt gemieden hatten. Doch weniger genutzte Pfade zu wählen hatte sie viel Zeit gekostet. Orka fürchtete, dass der Abstand zwischen ihr und Drekr allmählich größer wurde.
Wenn er jedoch tatsächlich dorthin unterwegs ist, wohin er Skefils Worten zufolge reitet, rastet er da vielleicht eine Weile. Also werde ich ihn an diesem Ort einholen. Am Grimholt.
Orka blickte nach Norden und verengte die Augen zu Schlitzen, als sie die Lücke zwischen den Gipfeln des Knochenmassivs fand, die verriet, wo der Grimholt-Turm lag. Die Festung war zum Schutz einer der wenigen Pässe errichtet worden, die durch dieses Gebirgsmassiv führten. Im Norden streiften die Vaesen in größerer Zahl durch die Landschaft, aber der Grimholt versperrte ihnen den Weg in die südlichen Lande von Vigrið.
Das Trommeln von Hufen kündigte Mort und Lif an. Die beiden zügelten ihre Pferde, als sie die weichen Weiden verließen und den von Nadeln übersäten Boden zwischen den Bäumen erreichten. Sonnenlicht tanzte über die Erde, als die Zweige im Wind schwankten.
»Warum halten wir an?«, wollte Lif von ihr wissen.
Orka deutete mit einem Nicken nach vorn.
Sie waren ein Stück in den Kiefernwald geritten. Orka war einem Pfad gefolgt, den sie für einen Fuchswechsel hielt. Vor ihnen lag eine kleine Lichtung, in deren Mitte die zerschmetterten Reste eines Schwursteins lagen. Sie ähnelten dem auf der Insel im Fjord, bei Fellur.
Der gewaltige Stein ragte aus dem Boden auf. Er war zersplittert und zertrümmert, und überall auf der Lichtung waren Granitbrocken verteilt. Sie waren von Gras und Moos überwuchert. Auf dem noch stehenden Steinbrocken fiel eine frische Inschrift auf. Es war ein eingemeißelter verschlungener Knoten mit aufgerissenen Reptilienfängen am Ende. Er war von etwas Dunklem, Rissigem überzogen, das fast so schwarz war wie Öl.
Aber nicht das zog Orkas Blick an.
Über dem zerschmetterten Stein hing ein toter Adler vom Ast eines Baumes herunter. Ein Seil war an einer Kralle befestigt. Das Tier war riesig, doppelt so groß wie Orka, und seine großen rostroten Schwingen streiften den Boden der Lichtung. Das getrocknete, glänzende Blut war aus einer Halswunde gelaufen und von seinem gekrümmten Schnabel herabgetropft. Das Seil knarrte, und der tote Adler drehte sich gemächlich, während der Wind durch die Zweige seufzte.
Orka schnalzte, und Trúr ging langsam auf die Lichtung und wieherte leise, um sein Unbehagen zu zeigen. Orka stieg ab, schlich über das Gras, duckte sich unter den Adler und kniete sich vor den Schwurstein. Sie berührte die neue Inschrift, die vom Blut des Adlers bedeckt war. Es war getrocknet und schwarz und rissig wie Schorf. Sie blickte zu den beiden Brüdern zurück, die auf ihren Pferden sitzen geblieben waren, und Orka mit sichtlichem Unbehagen beobachteten.
»So etwas wie diese Inschrift habe ich in Liga gesehen«, erklärte Orka, als sie aufstand und zu ihrem Pferd zurückging.
»Anhänger von Snaka, und das in Helkas Reich.« Mort klang ungläubig, hustete und spuckte aus.
»Nicht von Snaka.« Orka stieg wieder in den Sattel. »Sieh genauer hin.«
Mort und Lif trieben ihre Pferde auf die Lichtung und beugten sich im Sattel vor, um den Schwurstein zu betrachten. Lif bemerkte es als Erster und zischte.
»Es hat Schwingen«, stellte er fest.
»Ja. Wer auch immer das getan hat, folgt Lik-Rifa, der gefangenen Drachengöttin.«
Orka spreizte die Füße und wartete.
Mort und Lif bezogen links und rechts von ihr Stellung. Sie hatten ihre Scramasaxe in den Händen. Die Klingen waren mit Wolle umwickelt. Mort bewegte sich als Erster. Er schoss pfeilschnell vor, aber Orka wich aus und schlug seinen Scramasax weg. Dabei drehte sie sich und fühlte, wie Lif mit seiner Waffe ihre Taille streifte. Erneut stach Mort zu, und Orka trat ihm entgegen, packte seine Handgelenke und zog ihn nach vorn. Schmerz zuckte in seinem Blick auf, wegen seiner Schulterwunde. Aber Orka ignorierte das, zog ihn herum und schleuderte ihn in Lifs Weg. Der hatte bereits zum Stoß ausgeholt, aber sein Hieb traf Mort im Bauch. Eine tödliche Wunde, wäre sein Scramasax nicht mit Wolle umwickelt gewesen.
»Schon besser«, stellte Orka fest. »Ihr beide benutzt jetzt euren Kopf, und ihr reagiert besser. Wenn ihr das oft genug gemacht habt, braucht ihr nicht mehr zu denken, denn dann übernimmt euer Körper das für euch.«
»Nicht zögern«, sagte Lif.
»Genau.« Orka nickte knapp. »Also, noch mal.«
Sie kämpften weiter. Orka blieb stumm und wehrte sie jedes Mal ab, obwohl sowohl Lif als auch Mort sie mittlerweile mit ihren Klingen fast getroffen hätten. Vor allem Lif. Er war ruhiger, besonnener und hörte auch genauer zu. Ohne die Überheblichkeit, die Mort verblendete. Er wollte gern ein geschickter, tödlicher Kämpfer sein und konnte nicht zugeben, dass er noch nicht gut genug dafür war. Deshalb hatte er keine Geduld und stürzte sich blindlings auf Orka, was stets damit endete, dass er auf dem Hintern landete.
»Halt.« Orka hob die Hand. Dann zog sie die Wollmütze vom Kopf, Thorkels Mütze, und wischte sich den Schweiß von der Stirn. So hoch oben in den Hügeln war es kalt, und ihr Schweiß dampfte auf ihren Körpern. Orka hatte an diesem Nachmittag bereits das verräterische Schimmern eines Frostspinnen-Netzes in den Kiefern gesehen. »Das reicht für heute Abend.«
Mort und Lif schienen über ihre Entscheidung nicht allzu enttäuscht zu sein.
Obwohl es noch einigermaßen hell war, selbst im Schutz des Kiefernwaldes, wusste Orka, dass der Tag schon fortgeschritten war. Wenn sie Guðvarrs und Sigrúns Drengr entkommen wollten, war es lebenswichtig, sich auszuruhen.
»Kümmert euch um eure Waffen«, befahl Orka, ging zu einem Beutel und suchte darin nach dem Käse und dem Brot, das sie gestern auf der Straße bei einem alten Bauern gekauft hatte. Er hatte ein Maultiergespann am Zügel geführt und wollte zu einer nahe gelegenen Siedlung, um seine Waren dort auf dem Markt zu verkaufen. Nachdem sie ihn überzeugt hatten, dass sie keine Gesetzlosen waren, die ihn berauben wollten, hatten sie ihm ein paar Münzen für Brot und Käse gegeben, einen Krug mit Milch, ein Dutzend Getreidefladen und eine gepökelte Schweinekeule. Sie nahm das alles aus dem Beutel, schnitt für jeden eine Portion ab, verteilte sie und lehnte sich dann an einen Baum. Die Wunde in ihrem Rücken, die Drekr ihr zugefügt hatte, schmerzte, als sie sich dehnte. Die Haut war straff gespannt. Lif hatte die Nähte durchtrennt und herausgezogen, und für Orka fühlte es sich gut an. Sie war nur ein wenig steif und zog leicht bei bestimmten Bewegungen. Sie hüllte sich fester in ihren Mantel, weil die Kälte ihr in die Knochen drang, da sie sich jetzt nicht mehr bewegte, und sie kein Feuer machen konnten, um sich zu wärmen.
Zwielicht hatte sich herabgesenkt, und die langen Tage und die fehlende Dunkelheit verwirrten Orkas Körper. Das Brennen in ihren Augen sprach von Erschöpfung. Sie fühlte die Müdigkeit bis in ihre Knochen, und Brecas Fehlen setzte ihr zu.
Du musst dich ausruhen. Die Stimme in ihrem Kopf klang sehr nach Thorkels rauem Bass.
Ich werde mich ausruhen, wenn Breca wieder sicher bei mir ist, und wenn du gerächt bist, mein Geliebter, antwortete sie der Stimme. Ihr Gehirn fühlte sich an, als müsste es überfließen, und arbeitete nur langsam. Bruchstücke von Bildern von der Lichtung mit dem toten Adler und dem mit eingemeißelten Runen bedeckten Schwurstein ließen ihr einfach keine Ruhe.
Inschriften von Lik-Rifa. Anhänger der Drachengöttin. Und gleichzeitig hat einer der Drachengeborenen, die der allgemeinen Meinung nach nur Sagengestalten sein sollten, meinen Ehemann getötet und meinen Sohn geraubt. Was hat das zu bedeuten? Es fraß an ihr, wie Salzwasser die Klinge eines schönen Schwertes zerfrisst und rosten lässt. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Die Vorstellung, Drekr zu finden und ihm eine Klinge in den Leib zu rammen, sie zu drehen, nur um ihn schreien zu hören, tauchte immer wieder in ihrem Kopf auf.
Aber erst will ich Antworten, dann Rache, sagte sie sich. Dennoch, ich werde mich damit begnügen, Breca zurückzuholen und Drekr unter die Erde zu bringen. Sie löste ihren Waffengurt, nahm einen Wetzstein aus einer kleinen Tasche, die an der Scheide eines Scramasax befestigt war, und fuhr damit über die Schneide.
Lif sah nach ihren Pferden. Die drei Tiere standen mit Fußfesseln neben einem Fluss, und Mort saß dicht bei Orka. Er legte seinen Speer, den Scramasax und die Faustaxt auf den von Kiefernnadeln übersäten Boden. Dann reinigte er sie mit Sand und einem Leinentuch und schärfte anschließend die Schneiden. Lif kam zurück, und die drei saßen schweigend da, aßen und kümmerten sich um ihre Waffen.
»Wie sieht der Plan aus?«, fragte Mort schließlich in die metallischen Schleifgeräusche der Wetzsteine hinein.
Orka antwortete nicht sofort. Sie war immer noch dabei, das Ganze zu durchdenken.
Nachdem sie so gut wie entkommen waren, hatte sie vorgehabt, Drekr nach Norden zu verfolgen, zum Grimholt, in der Hoffnung, ihn entweder einzuholen oder einen Platz zu finden, der für einen Hinterhalt auf Guðvarr geeignet war. Bis jetzt hatte sich keine dieser beiden Hoffnungen erfüllt.
»Wir reiten zum Grimholt und sehen dann weiter«, murmelte Orka. »Er ist vielleicht noch einen Tagesritt entfernt, auf keinen Fall länger als zwei.«
»Was ist der Grimholt?«, erkundigte sich Lif.
»Eine Festung. Sie wurde errichtet, um diese Lücke im Knochenmassiv gegen die Vaesen des Nordens zu verteidigen«, erwiderte Orka. »Sie besteht aus einer Halle und hat im Norden und im Süden Wälle.«
»Du hast sie also schon gesehen?«, folgerte Mort.
»Ja«, bestätigte Orka. »Vor langer Zeit.«
In einem anderen Leben. Jedenfalls fühlt es sich so an.
Mort und Lif wechselten einen Blick.
»Wir enden vielleicht zwischen Hammer und Amboss«, meinte Mort. »Mit Feinden vor und Feinden hinter uns.«
Orka gefiel dieser Gedanke ebenfalls nicht.
»Du hast die Lagerfeuer auf unserer Fährte selbst gesehen«, antwortete sie schließlich. »Guðvarr ist nicht einmal klug genug, um seine Feuer zu verbergen. Wir haben den Abstand zwischen uns und ihm vergrößert. Er beträgt jetzt vielleicht anderthalb Tage.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn wir den Grimholt erreichen, treffen wir eine Entscheidung. Entweder ziehen wir weiter, oder wir bleiben und kämpfen gegen Guðvarr.« Sie sah die beiden an. »Blut wird vergossen werden, und zwar bald.«
Lif nickte und Mort lächelte.
»Gegen mich zu kämpfen ist eine Sache«, sprach Orka weiter. »Und ihr macht euch dabei auch ganz gut.«
»Jedenfalls haben wir weniger blaue Flecken.« Lif lächelte.
Orka nickte. »Aber um euren Racheschwur zu erfüllen, müsst ihr gegen Guðvarr kämpfen.«
»Das ist es ja auch, was wir wollen«, antwortete Lif. »Und ich glaube nicht, dass er so schwer zu töten ist wie du.«
»Er ist ein Haufen Trollscheiße, ein Feigling!« Mort zuckte mit den Schultern, als wäre es ein Leichtes, Guðvarr zu erledigen.
»Das stimmt«, bestätigte Orka. »Er ist ein Haufen Trollscheiße und ein Niðing, aber er ist ein Haufen-Trollscheiße-Niðing, der einen Kettenpanzer trägt und mit Schwert und Schild bewaffnet ist, mit der Ausrüstung eines Drengr. Und er wird zweifellos noch mehr Drengr bei sich haben, zum Beispiel solche wie Arild, und dazu Helkas Krieger, die mit ihm auf dem Gehöft waren. Also müsst ihr darauf vorbereitet sein, gegen einen Drengr zu kämpfen, und vor allem müsst ihr wissen, wie ihr euch gegen einen verteidigen könnt. Ihr müsst ihre Stärken und Schwächen kennen. Ihr werdet nur Wolle tragen, und höchstwahrscheinlich einen Scramasax oder eine Faustaxt halten.«
»Ja.« Lif sah sie aufmerksam an.
»Also, seid ihr bereit dazu? Wie verteidigt ihr euch gegen einen Krieger in einem Kettenhemd, der mit Schwert und Schild bewaffnet ist? Sie sind besser geschützt als ihr, und sie sind erfahrenere Krieger.«
Die beiden Brüder schwiegen einen Moment.
»Schnelligkeit«, sagte Lif schließlich.
Orka nickte wieder. »Gut. Ihr müsst nutzen, was ihr habt, um das zu kontern, was sie haben. Also, ihr seid leicht, habt keinen Kettenpanzer auf dem Körper. Ein Brynja scheuert die Schultern wund und verlangsamt eure Bewegungen. Bewegt euch schnell, aber greift nie überstürzt von vorn an. Kleine Schritte, tänzelt hin und her, versucht nah heranzukommen, in ihre Verteidigung, erschwert es ihnen, ihr Schwert zu schwingen oder euch mit einem Speer zu stechen. Die Schilde sind ein Problem. Noch mal, greift von den Seiten an, aber niemals von vorn. Wenn ihr eure Faustaxt einsetzt, verhakt sie mit dem Schildrand und zieht den Feind aus dem Gleichgewicht. Sobald ihr ihnen nah genug seid, ist der Kettenpanzer das nächste Problem.« Sie hörte auf, ihren Scramasax zu schärfen.
»Schlagt hier zu.« Sie berührte ihre Kehle. »Oder hier.« Sie legte ihre Hand auf die Innenseite ihres Schenkels, dicht an ihren Lenden. »Hier. Öffnet ihr diese Adern, ist euer Widersacher tot. Und ein Brynja deckt diese Stellen nicht vollkommen ab.« Sie zuckte mit den Schultern. »Natürlich werden sie, während ihr versucht, ihnen das anzutun, genauso angestrengt versuchen, euch irgendwo zu stechen. Und ihr tragt Wolle, die sich unter einer Klinge so leicht teilt wie Butter.«
»Das ist sehr ermutigend«, sagte Mort missgelaunt.
»Das ist realistisch«, erwiderte Orka gleichgültig. »Geschwindigkeit wird euch zur Rache verhelfen. Und vergesst nicht, auf keinen Fall …«
»… zögern«, sagten beide gleichzeitig.
Orka lächelte.
»Und was ist mit dir?«, erkundigte sich Mort. »Als du Drekr das letzte Mal gesehen hast, hast du vor ihm gekniet und er hatte seine Hände um deine Kehle gelegt. Wie genau willst du ihn töten?«
Orka sah Mort nachdenklich an.
»Sehr langsam«, sagte sie und schärfte ihren Stahl dann weiter mit dem Wetzstein.