KAPITEL DREI

ORKA

Orka ging neben dem Fuhrwerk her, auf dessen Pritsche die Leichen von Asgrim und seiner Frau Idrun lagen. Eine grobe, an einigen Stellen bereits blutgetränkte Wolldecke bedeckte sie. Orka sah sich um. Der Wald um sie herum lichtete sich, und der Boden wurde flacher, als sie über den verschlungenen Pfad nach Fellur hinabgingen, dem Fischerdorf am Ufer des Fjords.

Breca führte das Fuhrwerk. Mit einer Hand hielt er das Führungsseil des zotteligen Ponys, das sie in Asgrims Stall gefunden hatten, in der anderen Faust den Speer, den er als Gehstock nutzte. Orka hatte ihm die Aufgabe übertragen, damit er sich nach dem Anblick in Asgrims Gehöft auf etwas anderes konzentrieren konnte. Außerdem wollte sie den Wald neben dem Pfad im Auge behalten.

Hier in diesen Hügeln sind Schlächter unterwegs.

Sie hatten Asgrims Gehöft durchsucht, aber keine Spur von Harek gefunden. Thorkel war jedoch auf Spuren auf dem Weg gestoßen, der den Hügel hinabführte. Der Boden war aufgewühlt, aber die Spuren waren schon bald von dem Pfad in den Wald abgebogen. Nach einer hitzigen Diskussion hatten sie entschieden, dass Thorkel den Spuren weiter folgte, während Orka und Breca die Leichen nach Fellur brachten. Orka hätte gern den gefährlichen Pfad genommen und Asgrims Mörder verfolgt, aber sie wussten beide, dass Thorkel der bessere Spurenleser war. Am Ende hatte Thorkel ihr zugelächelt und war zwischen den Bäumen verschwunden, trotz seiner Größe so leise wie Rauch. Orka hatte ihm finster hinterhergesehen und ihre Sorge als Zorn maskiert. Dann hatte sie noch einmal missbilligend geschnaubt und war wütend weitermarschiert, nachdem sie Breca befohlen hatte, das Pony zu führen.

»Wird Papa Harek finden?« Breca blickte auf den Boden vor sich. Sie hatten den Schnee in den Hochlagen hinter sich gelassen. Hier waren Eis und Schnee geschmolzen und hatten den Pfad in eine Schlammspur verwandelt.

»Vielleicht.« Orka blickte zu den wolkenverhangenen Hügeln zurück. Thorkel hatte ihr einen heiligen Eid geschworen, dass er sofort zu ihr zurückkehren würde, wenn er den Jungen und Asgrims Mörder gefunden hatte; er würde sie nicht allein angreifen.

Aber natürlich lügt er. Und es wird ihn zerreißen, den Jungen zurückzulassen, wenn er in Gefahr schwebt. Falls er überhaupt noch lebt. Sie hatte es eilig, die Leichen von Asgrim und Idrun an Fellurs Jarl zu übergeben und sich dann auf die Suche nach ihrem Ehemann zu machen, bevor der sich in Schwierigkeiten brachte.

Schließlich tauchte Fellur zwischen den Bäumen auf. Die Siedlung bestand aus ein paar Dutzend riedgedeckten Lehmhäusern, die sich dicht zusammendrängten und in deren Mitte ein größeres Langhaus stand. Eine kleine Palisade umgab das Dorf, aber das Holz war an etlichen Stellen bereits verfault und endete weit vor dem dunklen Sandstrand.

Aber hier unten sind sie sicher genug. Die Vaesen bevorzugen ruhige, dunklere Orte, wo sie verborgen bleiben können.

Orkas Blick streifte die Fischernetze, die am Strand zum Trocknen aufgespannt waren, wo sie auf Ausbesserungen warteten. Die wenigen Holzstege, die in den Fjord reichten, waren meist leer. Nur ein paar Fischerboote und Küsten-Byrdings lagen hier vor Anker.

Ziegen meckerten, als das Fuhrwerk an ihnen vorbeirollte. Orka machte größere Schritte, um Breca einzuholen.

An einem der Torpfosten lehnte ein Wächter. Orka hatte den Mann schon gesehen, kannte seinen Namen jedoch nicht. Er nickte Orka zu, ohne sich die Mühe zu machen, einen Blick auf ihr Fuhrwerk zu werfen. Wann immer Thorkel und sie die Siedlung aufsuchten, hatten sie Felle zum Handeln auf ihren Wagen geladen. Also warum sollte es diesmal anders sein? Orka nickte dem Mann ebenfalls zu und ging durch das Tor. Dabei spürte sie plötzlich einen Druck in Kopf und Brust und blickte zu dem Querbalken des Turms hinauf. Ein Knochen war tief in das Holz eingelassen, der Knöchel eines toten Gottes, in dem immer noch ein letzter Rest seiner Macht pulsierte. Er half, die Vaesen von der Siedlung fernzuhalten. Der Druck in Orkas Kopf ließ nach, als sie das Tor hinter sich ließ und auf der schlammigen Straße weiterging. Obwohl es keine weiteren Wachen am Tor gab, herrschte im Dorf geschäftiges Treiben. Die Leute strömten zu dem Langhaus der Siedlung. Dorthin wollte auch Orka, weil sie in dem Haus Sigrún zu finden hoffte, die Jarl von Fellur.

Sie führte Breca an schlammigen Schweinekoben vorbei, an einer Schmiede, deren Esse glühte und aus der Hammerschläge tönten, und schließlich an der Schänke, die eine Dunstwolke aus Bier, Gerste und Urin umgab.

»Was ist das?« Ein Mann trat aus der Schänke und blinzelte im blendenden Licht. Orka kannte ihn. Virk war ein Fischer, mit dem Thorkel und sie häufig gehandelt hatten. Er war groß, hatte ein breites Gesicht und war geradeheraus. Bei einem Sturm hatte er sich auf seinem Fischerboot den Arm verletzt und überließ den Fischfang jetzt seinen beiden Söhnen, während er heilte. Er hatte verquollene Augen, und seine Wangen waren rot geädert. Orka stieg sein Geruch in die Nase, und sie verzog das Gesicht. So wie er stank, war er auf dem Meer besser aufgehoben.

»Asgrim und Idrun.« Orka deutete mit dem Kopf auf das Fuhrwerk.

Virks Blick blieb an den Blutflecken auf der Wolldecke hängen, mit der die Leichen bedeckt waren.

»Und Harek ist verschwunden«, warf Breca ein.

»Wie sind sie gestorben?«, fragte Virk, während sich andere um das Fuhrwerk scharten.

»Jedenfalls nicht an Altersschwäche«, murmelte Orka und ging weiter.

Virk folgte ihnen mit den anderen, während sich die Nachricht herumsprach.

Der Karren rollte auf den Hof vor dem Langhaus, wo sich etwa fünfzig Leute versammelt hatten. Das war gut die Hälfte der Bevölkerung der Siedlung, und es kamen immer mehr dazu.

Ein junger Mann trat aus dem Langhaus. Guðvarr, ein Neffe von Jarl Sigrún und einer ihrer Drengr. Drei weitere Krieger folgten ihm. Guðvarr stolzierte weiter und blieb zwischen den beiden Holzpfeilern am oberen Absatz der Treppe zum Vorhof stehen. Ein Schwert hing an seiner Hüfte, und seine rote Wolltunika war am Hals, dem Ärmelsaum und dem Saum mit einem verschlungenen Webmuster geschmückt. An einem Arm trug er einen Silberreif. Sein schwarzes Haar war geölt und im Nacken mit einem Lederband und Silberdraht zurückgebunden, und der erste Flaum zeigte sich an seinem Kinn. Unter seiner spitzen Nase schimmerte ein Tropfen. Orka blickte zu ihrem Sohn. Brecas Augen leuchteten. Er hatte den Kopf voller Sagen und war von jedem Mann beeindruckt, der ein Schwert trug.

»Was ist hier los?«, fragte Orka Virk, der sich neben sie gestellt hatte. Er war groß, musste aber trotzdem den Kopf heben, um ihr in die Augen zu sehen.

»Guðvarr ist heute Morgen mit einer Snekke angekommen. Man sagt, Jarl Sigrún hätte ihn vorausgeschickt, um ihre Ankunft zu verkünden.«

»Jarl Sigrún ist nicht hier?«

Virk sah Orka an, als wäre sie schwachsinnig.

»Jarl Sigrún wurde an Königin Helkas Hof in Darl bestellt …« Er hustete. »Ich meine eingeladen. Sie ist dort seit mehr als zwei Monaten.«

Orka hob eine Braue und nickte.

»Ich habe Neuigkeiten!«, rief Guðvarr, und die Leute verstummten.

Er ließ das Schweigen andauern. Ganz offensichtlich genoss er die Aufmerksamkeit der Menge.

»Ich kann euch sagen, dass Jarl Sigrún in neun Tagen wieder bei uns sein wird. Sie hat mich gebeten, euch mitzuteilen, dass Königin Helka gerecht, gut und weise ist, und dass uns Schlechteres passieren könnte, als ihr unsere Treue zu schwören. Unter ihrer Obhut zu stehen wäre förderlich für unsere Siedlung.«

»Förderlich?«, murrte Virk. »Aber nicht, solange wir als freigelassene Männer und Frauen in Fellur leben und Königinnen und Könige nur beschissene Jarls sind, die vor lauter Größenwahn nicht mehr in ihre eigenen Stiefel passen.«

Orka widersprach ihm nicht.

»Du meinst Knute, nicht Obhut!«, schrie Virk. Andere aus der Menge stimmten lautstark zu.

»Die Zeiten ändern sich!«, gab Guðvarr mit einem finsteren Blick auf Virk und die Menge zurück. »Jarl Störr im Westen ist eine Bedrohung für uns, und die Vaesen werden immer frecher – sie morden und stehlen. Wir sind besser dran, wenn wir uns mit den Starken verbünden, und Königin Helka ist nun einmal die Stärkste.«

Gemurmel brandete auf.

»Wenn Jarl Sigrún zurückkehrt, gibt es ein Althing am Schwurstein, wo alle das Wort ergreifen können, die bei dieser wichtigen Angelegenheit etwas zu sagen haben!«, rief Guðvarr und deutete auf eine Felseninsel im Fjord. Sie war von Moos überwuchert und mit Farn und verkrüppelten Bäumen bewachsen.

Die Leute protestierten und schrien Fragen.

»Spart euch euer Gejammer für meine Tante und das Althing auf!«, knurrte er. »Das ist alles.« Er wandte sich ab.

Orka nahm Breca das Führungsseil ab, schnalzte dem Pony zu und zog das Fuhrwerk durch die Menge. Die Leute bildeten eine Gasse.

»Drengr Guðvarr!« Orkas laute Stimme übertönte die Rufe der Leute.

Guðvarr hielt inne, drehte sich wieder um und sah auf Orka, Breca und das Fuhrwerk herunter. Dann wischte er sich die laufende Nase.

Schweigen begleitete Orka, als sie das Fuhrwerk zu den Stufen des Langhauses führte. Die Räder knarrten, bis das Pony stehen blieb.

»Was ist das?« Guðvarr trat die ersten beiden Stufen herab und blickte auf die blutbefleckte Decke auf der Pritsche. Die drei Krieger in seiner Begleitung, zwei Frauen und ein Mann, bauten sich hinter ihm auf. Sie waren mit Speeren bewaffnet und trugen Faustäxte und Scramasaxe an ihren Waffengürteln.

»Asgrim und Idrun«, antwortete Orka. »Ich habe mit meinem Mann und meinem Sohn in den Hügeln gejagt. Wir hörten Schreie, haben nachgesehen und fanden Asgrim und Idrun ermordet auf ihrem Gehöft.« Sie zog die Decke zurück.

Die Umstehenden stöhnten und schnappten nach Luft.

»Da seht ihr es!«, rief Guðvarr. »Vaesen morden in unseren Hügeln. Wir brauchen die Stärke von Königin Helka.«

»Das waren keine Vaesen«, sagte Orka.

»Oh-ho, und woher weißt du das?« Guðvarr starrte Orka misstrauisch an. Allmählich bildete sich erneut ein Schnoddertropfen unter seiner Nase. »Bist du eine Seiðrhexe, die in die Vergangenheit blicken kann?« Er starrte Orka höhnisch an, als hätte er gerade einen wichtigen geistigen Wettstreit gewonnen.

»Ich muss keine Seiðrhexe sein, um eine Schwertwunde zu erkennen, wenn ich sie sehe«, entgegnete Orka. »Vaesen jagen mit Zähnen und Krallen, nicht mit Schwertern aus Stahl.« Sie hielt inne und blickte auf Guðvarrs höhnisch verzogene Lippen. »Ich hätte erwartet, dass Guðvarr, der wilde Drengr, das auf den ersten Blick erkennen würde.« Sie bedauerte ihre Worte, noch während sie sie aussprach, weil sie wusste, dass sie ihr nur Ärger einbringen würden. Aber sie mochte ihn nicht; sie verabscheute sein selbstgefälliges, arrogantes Gesicht.

Etliche Leute auf dem Hof begannen zu lachen, und Guðvarr lief rot an. Er musterte Orka finster. »Einsiedler, die in der Wildnis leben. Sie fordern den Ärger selbst heraus.«

»Asgrim und Idrun haben das nicht herausgefordert«, widersprach Orka.

»Und Harek, ihr Sohn, wurde entführt«, warf Breca mit seiner hellen Stimme ein.

»Gestohlene Kinder.« Virk war Orka durch die Menge gefolgt. »Das höre ich nicht zum ersten Mal.«

Orka sah ihn finster an.

Guðvarr kam die Stufen des Langhauses herunter und baute sich vor Orka auf. Sie war größer und breitschultriger als er, aber aus seinen Augen leuchtete die Überheblichkeit der Mächtigen, der Glaube, besser zu sein, schneller. Ihre Haut kribbelte, und ihre Sinne schärften sich. Der Herold der Gewalt.

»Wenn ich sage, dass sie den Ärger herausgefordert haben, dann haben sie den Ärger herausgefordert«, zischte Guðvarr mit einer Stimme, die klang wie ein Schwert, das aus der Scheide fuhr. »So wie du.«

Die drei Krieger auf den Stufen traten näher, und ihre Hände näherten sich den Griffen ihrer Waffen.

Orka starrte Guðvarr an und spürte, wie die Muskeln in ihrem Kiefer zuckten. Ihr Blut rauschte durch ihre Adern, und sie hörte ferne Stimmen in ihrem Kopf, Schreie, ein Bild, wie eine Axt sich in einen Schädel grub …

»Du zitterst«, stellte Guðvarr fest. »Fürchtest du mich? Es wäre klug von dir, wenn du das tätest.«

Orka blinzelte und sah das Zittern ihres Arms, ihrer Faust, das sich auf ihren Speer übertrug. Dann sah sie Breca an, der besorgt von ihr zu Guðvarr blickte.

Orka holte tief Luft.

»Ich habe sie hergebracht, weil ich der Meinung war, dass Jarl Sigrún es wissen sollte, wenn sich Mörder und Kinderdiebe in ihren Hügeln herumtreiben.« Orka wählte ihre Worte mit Bedacht. Ihr Herz hämmerte, und das Blut rauschte durch ihre Adern. Sie entschied sich, es zu kontrollieren. Es zumindest zu versuchen. »Und zu sehen, ob Asgrim und Idrun hier Familie haben. Wir sollten ein Hügelgrab errichten, uns um eine angemessene Bestattung kümmern.«

In dem folgenden Schweigen starrte Guðvarr zu Orka hoch. Sie erwiderte seinen Blick gleichgültig. Die Aufwallung ihrer Emotionen legte sich wieder und wurde von einer Kälte in ihren Adern verdrängt. Tief drinnen wusste sie, dass das ein schlechtes Zeichen war.

»Mama.« Eine Stimme drang durch den eisigen Nebel in ihrem Kopf.

»Mama, Papa kommt.« Jemand zupfte an ihrem Ärmel.

»Orka.« Thorkels Stimme.

Orka blinzelte, riss ihren Blick von Guðvarr los und sah Thorkel, der sich durch die Menge drängte. Er hatte den Speer in der Hand, und seine Wollmütze war durchgeschwitzt.

»Ist alles in Ordnung?« Thorkels Blick wanderte von Orka zu Guðvarr und den anderen Drengr auf den Stufen. Seine schwarzen Brauen zogen sich zusammen wie eine Gewitterwolke, und sein Mund wurde zu einer harten Linie. Er schien größer zu werden, und Orka sah, wie die Wut ihn erfüllte, als der Ausdruck in seinen Augen von Sorge in einen kalten, starren Blick umschlug.

»Wir haben gerade darüber geredet, dass ein Grabhügel für Asgrim und Idrun errichtet werden sollte.« Orka atmete langsam aus, zwang sich zu einem grüßenden Lächeln, und die harten, kalten Linien auf Thorkels Gesicht wurden etwas weicher.

Guðvarr blickte von Orka zu Thorkel. Sie sah, wie er Thorkels Speer musterte, seine Größe wahrnahm.

»Mein Mann hat Asgrims Mörder verfolgt. Sie haben seinen Sohn Harek mitgenommen.«

»Hast du sie gefunden?«, wollte Guðvarr von Thorkel wissen.

»Nein«, gab Thorkel zurück.

Guðvarr verzog erneut die Lippen zu seiner, wie Orka mutmaßte, ständigen höhnischen Grimasse.

»Ich bin den Spuren bis zu einem Fluss gefolgt«, fuhr Thorkel fort. »Einem der zahlreichen Flüsse, die aus den Hügeln in den Skarpain münden. Am Ufer gab es Schleifspuren von drei angelandeten Booten. Wer auch immer Asgrim und Idrun ermordet hat, ist zum Fluss gegangen und verschwunden.«

Guðvarr nickte. »Wir kümmern uns darum.«

Orka spielte einen Moment mit dem Gedanken nachzuhaken, Guðvarr zu fragen, wie viele Speere er mitnehmen wollte, ob er seine Hunde einsetzte, ob er Leute und Schiffe den Skarpain hochschicken würde.

Stattdessen blickte sie von Thorkel zu Breca.

Das ist nicht unser Kampf. Und nicht unser Problem.

»Lasst uns nach Hause gehen«, sagte sie zu ihnen, drehte sich um und ging davon.