VARG
Varg lehnte mit dem Rücken an einem Baum und kaute auf einem Stück gedörrtem Hammelfleisch herum. Seine Kiefermuskeln schmerzten, und er war sicher, dass es einfacher wäre, die Ledersohle seiner Wendeschuhe durchzukauen. Es war mitten in der Nacht; jedenfalls sah es für Varg so aus. Sólstöður hatte begonnen, der Mond des Tageslichts, in dem die Nacht für dreißig Tage verbannt war. Es war noch nicht richtig hell, und das Zwielicht hing in der Luft wie ein Schleier. Sie hatten ihr Lager auf einer kleinen Waldwiese inmitten eines Kiefernwaldes aufgeschlagen. Varg konnte schwach den Umriss des Mondes erkennen, der bleich am fahlen Himmel hing. Aber sein Körper sagte ihm, dass es Nacht war, und er zog seinen Mantel fester um sich.
Er saß allein. Torvik hielt Wache, ebenso Svik und Røkia. Sie hatten sich im ganzen Wald verteilt. Glornir saß mit Vol zusammen und schärfte seine langstielige Axt, die quer auf seinem Schoß lag. Einar Halbtroll saß neben Sulich und beschwerte sich über das Loch in seinem Bauch, das unbedingt gefüllt werden müsste. Sulich rasierte derweil mit seinem Scramasax die Stoppeln auf seinem Schädel.
»Ich kann nur ans Essen denken. An eine heiße Mahlzeit«, murmelte Einar.
»Kein Feuer.« Glornir fuhr weiter mit seinem Wetzstein über die Schneide, ohne den Kopf zu heben.
Sie alle kannten mittlerweile die Regel und wussten auch, wie klug sie war, aber kaltes Hammelfleisch war einfach kein Ersatz für eine heiße Mahlzeit.
Skalk saß flankiert von Olvir und Yrsa nicht weit entfernt. Die beiden Krieger unterhielten sich leise. Olvirs Gesicht wirkte angespannt, wie schon die ganze Zeit, seit sie die verstümmelten Leichen in den Kiefernästen gefunden hatten. Skalk hielt den Kopf gesenkt, und sein Gesicht lag im Schatten. Varg war wegen dieser Leichen immer noch beunruhigt. Er hatte jede Nacht von ihnen geträumt, von den gehäuteten, an knarrenden Seilen schwingenden Kadavern. Er dachte an sein Gespräch mit Skalk vor diesem Leichenfund, daran, dass Skalk eine Akáll durchführen konnte, falls Varg bereit wäre, die Blutgeschworenen zu verlassen und dem Galdurmann einen Bluteid zu schwören. Unwillkürlich fuhr seine Hand zu dem Beutel an seinem Gürtel, und er dachte an Frøya, seine ermordete Schwester. Er wusste weder, wo ihre Leiche lag, noch wer sie umgebracht hatte. Das nagte an ihm, wie eine Ratte Mark aus einem Knochen nagte.
Er hörte Schritte, und Torvik tauchte zwischen den Bäumen auf. Er sah Varg, ging zu ihm und lächelte, als er sich neben ihn setzte.
Varg hielt ihm ein Stück Hammelfleisch hin.
»Was hast du da in deinem Beutel?«, erkundigte sich Torvik, während er das Fleisch nahm.
Vargs Hand zuckte von dem Beutel weg, als wäre er bei einem Diebstahl erwischt worden.
»Du bewachst ihn, als wäre er voller Gold.« Torvik zuckte mit den Achseln. »Es ist deine Sache, aber wenn ich dir helfen kann, tue ich das gern.«
Varg seufzte und atmete bebend aus. Dann griff er wieder in den Beutel, öffnete den Verschluss und zog eine Locke schwarzen Haares heraus.
»Es ist das Haar meiner Schwester«, erklärte Varg. »Ich brauche es für die Akáll, die mir offenbaren wird, wer sie ermordet hat.«
Torvik nickte. »Ich werde dir helfen«, sagte er.
»Wobei?«, fragte Varg verwirrt.
»Wenn Glornir dir diese Akáll gewährt«, erklärte Torvik. »Dann helfe ich dir, die Mörder deiner Schwester zu jagen. Edel hat mir gesagt, ich hätte eine gute Nase und dass ich ein guter Jäger werden würde. Ich helfe dir, die Mörder deiner Schwester zu finden und sie zu töten.«
Varg starrte Torvik nur an. Er wollte etwas sagen, aber er spürte einen Druck auf seiner Brust, und ein Kloß saß ihm in der Kehle, sodass er kein einziges Wort herausbrachte. Sein ganzes Leben lang war er allein gewesen, nur mit Frøya als Gefährtin und einzige Freundin, die einzige Person, der er je vertraut hatte. Und nun saß er da und starrte Torvik an und wusste, dass dieser junge Mann vor ihm ernst meinte, was er da sagte.
Falls Glornir mich jemals für würdig erachtet, meldete sich eine Stimme in seinem Kopf.
Ob Glornir mich bei den Blutgeschworenen aufnimmt und mir eine Akáll gewährt oder nicht, ändert nichts an dem, was Torvik mir da gerade angeboten hat, antwortete er der Stimme.
Er wandte den Blick ab und wischte sich eine Träne aus dem Auge.
»Danke«, murmelte Varg.
Es wird mir schwerfallen, diese Leute zu verlassen. Torvik, Svik, Einar, selbst Røkia, dachte er. Ich habe mich an sie … Ich mag sie. Aber nachdem er mit Skalk gesprochen hatte, wusste er, was er tun würde – für Frøya, um sein Gelübde zu erfüllen.
Torvik zuckte mit den Achseln und lächelte.
»Bannað jörð!«, rief jemand, und Varg drehte sich um. Skalk hatte gesprochen. Der Galdurmann hatte den Kopf gehoben und starrte Vol an. »Verbotener Grund«, fuhr Skalk fort. »Diese Rune war in die Leichen meiner Drengr geritzt.«
»So ist es«, stimmte Vol ihm zu.
»Was bedeutet das?«, wollte Skalk von ihr wissen.
Vol runzelte die Stirn. »Es ist eine Warnung fernzubleiben«, sagte sie ruhig. »Mehr weiß ich nicht.«
»Für mich klingt das wie die Warnung eines Besessenen«, fuhr Skalk fort. »Ich bin ein Galdurmann, habe die Runen-Kunde und die Galdur-Gesetze mein ganzes Leben lang studiert, bin durch ganz Vigrið und durch die Länder jenseits gereist, habe das Knie in zwei Dutzend Galdur-Türmen gebeugt, und doch habe ich eine solche Rune noch nie zuvor gesehen. Und du wusstest, was sie bedeutet. Sie gehört zu deinem besessenen Seiðr-Dreck, richtig?«
Glornir hob den Blick von seiner Axt und musterte Skalk scharf.
»Fang gar nicht erst an, mir zu drohen«, meinte Skalk und machte eine abfällige Geste mit der Hand. »Ich bin kein Thrall und kein Kind, das man mit einem Blick oder seinem Ruf einschüchtern kann.«
Sein Blick glitt zu Einar, dessen Brauen sich wie eine Gewitterwolke zusammenzogen. »Du willst ein Feuer für deinen Haferbrei, Halbtroll?« Skalk streckte die Hand aus. »Eldur«, flüsterte er. Ein Funke entzündete sich in seiner Handfläche, und eine Flamme flackerte hoch.
Varg durchlief es kalt. Er hatte noch nie Galdur-Magie gesehen, und jetzt, da er sie mit eigenen Augen erblickte, stellte er fest, dass es ihm nicht sonderlich gefiel. Er spürte die Macht, die von Skalk ausging, wie Hitzewellen von einem Feuer.
Glornir blickte von Skalk zu der knisternden Flamme in seiner Hand.
»Mach es aus!«
»Kein Feuer«, murmelte Einar.
Skalk schloss die Hand zu einer Faust, und die Flamme flackerte und erstarb.
»Ist das hier heiliger Boden für euch Besessene?« Skalk wandte sich wieder an Vol.
Sie zuckte mit den Schultern. »Wir gehen über Snakas Knochen. Ich fühle sie selbst jetzt, ein Lied im Boden, tief unter uns. Er hat uns erschaffen, hat die Welt erschaffen – selbstverständlich ist das hier heiliger Boden. Aber das ist kein Grund, eine Kriegerhorde aus Drengr aufzuknüpfen und auszubluten.«
Varg sah, wie Olvir zusammenzuckte und das Gesicht verzerrte.
»Aber die Rune bedeutet nicht geheiligt«, fuhr Vol fort. »Sie bedeutet verboten.«
»Manchmal geht beides Hand in Hand«, sinnierte Skalk. »Warum ist das hier verbotener Grund?«, wiederholte Skalk seine Frage.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Vol.
»Zweifellos werden wir es herausfinden, wenn wir den finden, der das deinen Kriegern angetan hat«, mischte sich Glornir ein.
Sie schwiegen eine Weile.
»Was ist der Unterschied zwischen einem Galdurmann und einer Seiðrhexe?«, unterbrach Varg die Stille. Der Gedanke beschäftigte ihn, und er merkte erst, dass er ihn laut ausgesprochen hatte, als er seine Stimme hörte.
Skalk sah Varg an, als hätte er gerade die schlimmste Beleidigung geäußert.
»Ich habe mein ganzes Leben auf einem Gehöft gearbeitet«, erklärte Varg unbeeindruckt. »Für mich ist Magie Magie, ganz gleich, wer sie wirkt.«
»Galdur-Magie wird von den Weisen gelehrt, von Gelehrten, und es werden nur diejenigen darin unterwiesen, die ihrer würdig sind. Es kostet Jahre des Lernens, Jahre der Suche nach Wahrheit. Sie beruht auf Ehre und Fähigkeit und Geduld. Seiðr-Magie ist ein Gift im Blut der Besessenen. Ein Überrest des alten Snaka in ihren Adern, des prahlerischen Gottes. Diese Magie wurde nicht erarbeitet, wie meine Macht.« Skalk schüttelte den Kopf. »Es liegt keine Ehre darin, keine Fertigkeit. Sie ist einfach in ihnen.«
»Und warum ist das so schlimm?«, wollte Varg wissen.
Yrsa schnaubte verächtlich, und Skalk starrte ihn eine Weile sprachlos an. Dann richtete er sich gerade auf. »Die Götter haben diese Welt fast zerstört«, sagte er, als spräche er mit einem Kind. »Sie haben uns, haben die Menschheit fast zerstört. Und ihre Nachkommen sind kein bisschen besser. Sie haben ebenfalls in diesem Krieg gekämpft.«
»Die Menschheit auch«, warf Sulich ein, der noch immer seinen Schädel rasierte.
»Die Menschen wurden dazu gezwungen, kaum anders als Thralls«, erwiderte Skalk. »Aber die Besessenen wollten kämpfen, haben sich freiwillig dafür entschieden, so wie ihre verfluchten Eltern es taten.« Er starrte Vol an, während er sprach. »Verfluchtes Blut fließt in ihren Adern, und deshalb haben die Menschen, als sie sich aus der Asche des Guðfalla erhoben, geschworen, all jene Götter zu jagen, die den Untergang der Götter überlebt hatten, und auch die Nachkommen aus ihren Verbindungen mit dem menschlichen Geschlecht. Erst als Ulfrirs Kette gefunden wurde, begannen wir, die Besessenen zu versklaven, statt sie hinzurichten.«
»Ulfrirs Kette?«, fragte Varg. Geschichten darüber waren auf Kolskeggs Gehöft erzählt worden, rund um die Feuergruben und die Esstische, aber schon von frühestem Alter an hatten Frøya und er gelernt, dass es besser war, sich von den anderen fernzuhalten. Er kannte nur wenige dieser Geschichten.
»Ulfrir, der Wolfs-Gott, war bis zum letzten Tag angekettet«, sagte Yrsa. »Mit einer mit Runen bedeckten Kette, die mit Seiðr-Magie verzaubert war, von Lik-Rifa, dem Drachen, Ulfrirs Schwester. Sie hat ihn gebunden und ihn am Boden gehalten, und dann sind Lik-Rifas Anhänger über ihn hergefallen und haben ihn am Ende abgeschlachtet.«
»Ja, die Geschichte habe ich gehört«, gab Varg zu.
»Und als Snaka getötet wurde und fiel, zertrümmerte er die Welt«, fuhr Yrsa fort. »Die Kette zerbrach, und einzelne Glieder und Bruchstücke davon wurden in tausend verschiedene Richtungen verstreut.«
»Das ist richtig.« Skalk nahm den Faden wieder auf. »Viele Jahre später, als die Menschheit sich wieder über die Welt verteilte, fanden wir einige dieser Kettenglieder im Boden, im Wasser von Flüssen oder Fjorden. Wir zerbrachen sie mit Galdur-Magie, vermischten sie mit Eisen und schmiedeten die Thrall-Kragen. Wo sie gefunden wurden, entstanden die ersten großen Festungen. Darl, Snakavik, Svellgarth im Osten. Und auch in diesem Thrall-Kragen um Vols Hals ist ein Überbleibsel von Ulfrirs Kette eingeschmiedet. So wird sie beherrscht. Das Gleiche gilt für Königin Helkas Úlfhéðnar und für Jarl Störrs Berserkir. Mit der Galdur-Zunge werden sie beherrscht. Glornir hat ebenfalls diese Machtworte gelernt, als er den Kragen gekauft hat.«
»Das stimmt.« Glornir nickte zustimmend.
»Es ist sonderbar, einen Mann oder eine Frau nach ihrer Herkunft zu beurteilen«, sagte Sulich. Er war mit der Rasur seines Kopfes fertig und schob den Scramasax in die Scheide. »Es ist weit besser, sie nach ihren Taten einzuschätzen, denke ich.«
Skalks Blick schoss von Vol zu Sulich.
»Diese Worte klingen sonderbar aus dem Mund eines flüchtigen Mörders«, sagte Skalk. »Soll ich dich aufgrund deiner Taten richten?«
Sulich sah ihn an, dann stand er auf und ging zu ihm hinüber.
»Ich bin kein Mörder«, sagte er. Seine Stimme klang kalt und hart.
Olvir und Yrsa waren ebenfalls aufgestanden. Ihre Hände schwebten über ihren Schwertgriffen.
»Da erzählt Prinz Jaromir etwas anderes.« Skalk saß immer noch ruhig und gelassen da.
Sulich blieb ein paar Schritte vor ihm stehen. Olvir und Yrsa waren bereit einzuschreiten.
»Ich bin kein Mörder«, wiederholte er.
Skalk zuckte mit den Schultern. »Mit dieser Angelegenheit werden wir uns befassen, wenn das hier erledigt ist und wir wieder in Darl sind.«
»Sulich«, sagte Glornir. »Setz dich hin.«
Der kahlköpfige Krieger drehte sich um, sah Glornir an und ging dann zu Einar zurück.
Varg spürte, wie sich die Haare auf seinen Armen aufrichteten. Es hatte nicht viel gefehlt, und es wäre zum Blutvergießen gekommen.
Dann hörten sie Schritte zwischen den Bäumen. Alle griffen reflexartig nach ihren Waffen, was zeigte, wie hoch die Anspannung im Lager war.
Svik trat zwischen den Bäumen heraus und blieb stehen.
»Was ist los?«, fragte er und blickte erstaunt in die Runde.