ORKA
Orka wurde von einem rhythmischen Schütteln geweckt. Sie blinzelte, sah sich um und versuchte, aus ihrer Umgebung schlau zu werden. Sie hörte Wasser, rauschendes Wasser, eine Holzwand, Stimmen. Ihr Kopf schmerzte stechend, dröhnend, eine Seite ihres Gesichtes war nass. Sie schmeckte das metallische Aroma von Blut. Sie versuchte sich zu bewegen, aber ihre Hände und Füße waren gefesselt. Dann merkte sie, dass man sie wie ein erlegtes Rotwild über den Sattel ihres Pferdes Trúr geworfen hatte.
Sie drehte den Kopf und erhaschte einen Blick auf den blonden Mann, der sie mit seinem Stab niedergeschlagen hatte.
Ein Galdurmann. Er hat Machtworte gesprochen und sein Stab ging in Flammen auf. Sie roch verbranntes Haar, wahrscheinlich ihres, wo er sie getroffen hatte.
Andere Gestalten bewegten sich um sie herum. Berittene Krieger und welche zu Fuß. Hunde sprangen neben ihnen her. Dann hörte sie Schreie, Tore knarrten, sie drehten sich, und Hufe schlugen dumpf auf harte Erde, als sie durch ein offenes Tor in einen großen Hof kamen.
Der Grimholt, sagte sich Orka. Das ist nicht unbedingt die listigste Art, sich Zugang zu verschaffen.
Sie ritten über einen sanften Hang und folgten dem Bogen eines Kanals, den man vom Fluss abgeleitet hatte. Zwei schlanke Snekken waren an einer Pier vertäut. Ihre Rümpfe waren frisch gelb und schwarz bemalt, in den Farben Königin Helkas. Rund um den Hof erhoben sich unterschiedliche Gebäude. Scheunen, eine Schmiede, aus der der helle Klang von Hammer auf Eisen hallte. Stallungen, Hühnerställe und Schweinekoben. Ziegen meckerten und Hühner rannten gackernd davon, als die kleine Gruppe durch den Hof ritt. Dann blieb Trúr stehen, und Orka wurde grob von seinem Rücken gezerrt und auf den Boden geworfen. Sie sah Mort, der bewusstlos und gefesselt war, und Lif, der immer noch zitterte und dessen Adern blau waren vom Gift der Frostspinnen. Aber er hatte die Augen geöffnet und war offensichtlich bei Bewusstsein.
»Wenn ich dir die Fesseln um deine Knöchel durchschneide, bist du dann eine gute Gefangene und gehst ruhig weiter?«, sagte jemand hinter ihr. »Du bist ein großer Brocken, und ich werde auch nicht jünger.« Sie drehte sich um. Ein älterer Mann blickte auf sie herab. Sein schütteres Haar war kurz geschoren, ebenso wie sein weißer Bart, und über seine große, klumpige Nase verlief eine Narbe.
Orka nickte. Sie hörte, wie ein Scramasax gezückt wurde, und dann sägte der Mann an dem Strick um ihre Füße. Arme zogen sie hoch.
Sie streckte sich, lockerte ihren Nacken und sah sich um.
Der Galdurmann stieg ab und die Kriegerin, die bei ihm war, ebenfalls. Eine blonde Frau nahm die Zügel und ritt zu den Stallungen. Sie führte ein anderes Pferd mit einer bewusstlosen Frau und einer aufgeschnallten Kiste auf dem Rücken weiter. Orka zuckte zusammen, als sie die beiden ansah. Der Schmerz in ihrem Kopf verstärkte sich.
»Keine Zeit, um sich umzusehen«, erklärte der weißhaarige Mann und zog an dem Seil um ihre Handgelenke. Orka taumelte weiter. Das Blut kehrte prickelnd in ihre Füße zurück, nachdem die Fußfesseln verschwunden waren. Andere Krieger begleiteten sie, als sie zu der großen Holzhalle und dem Turm gingen. Mort und Lif schleppten sie mit. Die Halle hatte ein Dach aus Birkenborke und Torf. Die Holzplatten des Turms waren an die Stützstreben genagelt.
Frauen und Männer, Thralls und Handwerker, hielten in ihrer Arbeit inne und starrten Orka und die beiden Brüder an. Ein Schrei ertönte aus einer Scheune dicht am Fluss.
Es war die Stimme eines Kindes, ein Weinen.
Orka blieb stehen und starrte zur Scheune.
»Breca!«, krächzte sie. Aber ihre Kehle war trocken und ihre Stimme kaum verständlich.
Der weißhaarige Mann zog sie weiter und ein anderer Krieger stieß sie in den Rücken.
»Breca?«, rief Orka lauter.
»Beweg dich, du großes Miststück!«, fuhr der Krieger hinter ihr sie an und stieß sie erneut.
Ein Klatschen ertönte, ein Schlag, und das Kind weinte erneut.
Orka riss ihre Hände aus dem Griff des weißhaarigen Mannes, drehte sich um und rammte ihren Schädel in das Gesicht des Kriegers hinter ihr. Seine Nase brach mit einem lauten Knacken, er fiel zu Boden und seine Bartaxt fiel ihm aus den Händen. Dann trat sie eine Frau gegen das Knie, die noch auf den gestürzten Krieger starrte und versuchte, das Geschehen zu verarbeiten. Die Frau krümmte sich mit einem Schrei zusammen. Orka hob ihre gebundenen Hände und hämmerte sie auf den Kopf der Frau. Sie landete rücklings auf dem Boden.
Ein Schlag traf Orkas Schulter und sie wirbelte herum. Der weißhaarige Mann sah sie wütend an und rammte ihr seinen Speerschaft in den Bauch. Der nächste Schlag traf die Kniekehlen, und sie sank zu Boden. Dann schlugen die Krieger um sie herum knurrend mit ihren Speerschäften und den Fäusten auf sie ein. Ein Stiefel traf ihr Kinn, und in ihrem Kopf explodierte weißes Licht.
Eiskaltes Wasser klatschte ihr ins Gesicht, und Orka fuhr mit einem Keuchen hoch. Sie war an den Händen aufgehängt worden, was der Schmerz in ihren Handgelenken ihr sagte, die gefesselt und über ihren Kopf hochgezogen waren. Der Strick war an einem eisernen Ring in der Wand festgebunden, und ihre Füße schleiften auf dem Boden. Sie setzte sich auf, richtete sich auf und erleichterte so den Druck an ihren Handgelenken. Sie blinzelte und schüttelte den Kopf, dass das Wasser nur so sprühte.
Sie befand sich in einem Raum des Turms, jedenfalls nach dem Blick aus einem Fenster mit einer aufgespannten und abgeschabten Schweinsblase zu urteilen. Unter sich sah sie Torfdächer und das eisige Glitzern des Flusses. Mort und Lif waren ähnlich gebunden, auch sie waren an eiserne Ringe gefesselt, die in die Wand eingelassen waren. In einem Eisenkorb brannte ein Feuer, und an einer Wand stand ein langer Tisch. Darauf waren alle möglichen scharfen und sehr bedrohlich aussehenden Werkzeuge ausgebreitet. Eine Zange wurde gerade im Feuer erhitzt. Der Weißhaarige war ebenfalls da, und auch der mit der gebrochenen Nase. Er lehnte an einer Wand und hielt seine Bartaxt wieder in den Händen. Auch die Frau war da, der Orka gegen das Knie getreten hatte. Sie humpelte mit einem leeren Eimer durch den Raum. Es waren noch andere Personen im Raum verteilt – ein Kahlkopf mit einer Lederschürze mit vielen Brandlöchern und aufgerollten Ärmeln stand am Feuer. Und der blonde Galdurmann saß in einem Stuhl neben der Tür.
»Wieso schleichst du durch die Wälder am Grimholt?«, fragte der weißhaarige Mann Orka.
»Ich … war auf der Durchreise«, murmelte Orka.
»Du bist durch das Knochenmassiv gereist, eine halbe Wegstunde weit von jeder Straße entfernt, und dann mitten in einem Nest aus Frostspinnen gelandet«, sagte er.
»Ich habe mich … verirrt.« Orka fuhr mit der Zunge durch ihren Mund und spürte einen lockeren Zahn. Dann spuckte sie einen Blutklumpen aus. »Ich bin Händlerin.«
»Eine Händlerin.« Der Weißhaarige lächelte. »Gerüstet mit einem schönen Brynja, einem Speer, einer Axt und zwei Scramasaxen.« Er hob ihren Waffengurt hoch und ließ ihn von der Hand baumeln. »Was ist denn wohl dein Handel? Krieg?«
»Vigrið ist ein gefährlicher Ort«, erwiderte Orka. »Es ist besser, gewappnet zu sein.«
Der Weißhaarige lachte und betrachtete sie von Kopf bis Fuß. »Ich habe Leute deiner Art schon gesehen, aber noch nie auf einem Marktflecken. Sondern öfter über den Rand meines Schildes, im Schlachtgetümmel.«
Orka zuckte mit den Schultern. »Mein Vater war auch ein großer Mann.«
»Du hast einen meiner Männer getötet«, sagte der Weißhaarige. »Das heißt, eigentlich nicht du, sondern er.« Er deutete auf Mort. »Haga, weck ihn auf.«
»Ja, Häuptling«, sagte die Frau, füllte ihren Eimer aus einem Fass in der Ecke und ging zu Mort. Sie kippte ihm das Wasser ins Gesicht, und er erwachte prustend und keuchend. Dann schüttelte er den Kopf, sah sich um und bemerkte Lif, der kaum bei Bewusstsein war. Er lag in einer Ecke, immer noch zitternd. Lif hustete und spuckte eisigen Schleim aus.
»Bruder«, sagte Mort zu ihm. Sein Blick war besorgt.
»Er wird es überleben«, sagte der Weißhaarige. »Diese fahlen Spinnen mögen ihr Fleisch gern lebendig, nur nicht allzu lebhaft. Und jetzt«, er nahm die Zange, die im Feuer erhitzt worden war, und ging zu Lif. »Ich kann dir das Eis aus den Adern brennen, wenn du das möchtest.« Er hielt die Zange dicht an Lif. Hitze strahlte in Wellen von ihr aus. Dann sah er Mort an.
»Also, wer seid ihr?«, fragte er Mort.
»Fischer«, sagte Mort. Er war immer noch erledigt.
»Aha.« Der Weißhaarige lachte. »Ich stelle zweimal dieselbe Frage und bekomme zwei verschiedene Antworten. Welche stimmt? Fischer oder Händler?« Er sah von Mort zu Orka. »Ich denke, ich werde dem hier ein Auge rausbrennen, nur um euch zu überzeugen, dass ich es ernst meine. Und dann frage ich euch noch einmal: Wer seid ihr, und warum seid ihr hier?«
Er schob die Zange in Richtung von Lifs Gesicht, der sich gegen die Wand presste und wimmerte.
Mort schrie und riss an seinen Fesseln.
»Drekr«, sagte Orka.
Der Weißhaarige hielt inne und starrte Orka finster an.
»Ich verfolge einen Mann namens Drekr«, fuhr Orka fort. »Er hat meinen Sohn geraubt, und ich will ihn zurückhaben. Man hat mir gesagt, dass Drekr hierherkäme.«
Der Weißhaarige und die anderen Wachen wechselten vielsagende Blicke.
Der Galdurmann richtete sich auf seinem Stuhl auf.
»Ich habe noch nie von einem Drekr gehört«, behauptete der Weißhaarige.
»Ich hörte ein Kind im Hof weinen«, sagte Orka.
»Das war ein Balg von Rog«, platzte der mit der gebrochenen Nase heraus, etwas zu schnell. Orka sah, wie sein Blick zum Galdurmann zuckte.
»Drekr«, wiederholte Orka. »Ich habe ihn bis nach Darl verfolgt, und dann von Darl hierher. Mein Informant hat mir gesagt, er handele mit besessenen Kindern, und dass er mit ihnen durch den Grimholt wollte.«
»Halt’s Maul!«, fuhr der Weißhaarige sie an. »Bring sie zum Schweigen!«
Der Mann mit den aufgerollten Hemdsärmeln nahm einen Hammer vom Tisch und ging damit langsam auf Orka zu.
»Ich habe Drekr in einer Schänke in Darl gesehen«, fuhr Orka fort und sah jetzt nur den Galdurmann an.
»Der Tote Drengr heißt das Gasthaus. Dort hat er sich mit Hakon Helkasson getroffen.«
Der Kahlkopf hob seinen Hammer.
»Halt«, befahl der Galdurmann, und der Hammer schwebte in der Luft. »Skap?« Er stand auf und sah den Weißhaarigen finster an.
»Ich weiß nicht, wovon sie redet, Herr«, erwiderte Skap, aber er konnte dem blonden Mann nicht in die Augen sehen.
»Du hast in Svellgarth gekämpft, stimmt das?«, fragte der Galdurmann.
»Ja, Herr. Ich wurde dort für meine Tapferkeit ausgezeichnet.« Er deutete auf einen silbernen Armreif an seinem Handgelenk.
»Wer hat dir diesen Reif gegeben? Wer hat deine Kriegerhorde angeführt?«
Skap blickte weg, zu den anderen Wachen in dem Raum.
»Prinz Hakon«, sagte er schließlich.
In dem darauffolgenden Schweigen hörte man, wie der Mann mit der gebrochenen Nase sich bewegte und seine lange Bartaxt fester packte.
Das sah auch Skalk, der Galdurmann. »Versuch etwas Dummes, und ich brenne dir das Fleisch von den Knochen!«, knurrte er und sah den Krieger finster an. Der erwiderte seinen Blick einen Moment, trat dann von einem Fuß auf den anderen und sah weg. »Und jetzt«, sagte Skalk zu Skap, »erzählst du mir, was Hakon hinter dem Rücken seiner Mutter treibt.«
In dem erneuten Schweigen holte Skap schließlich tief Luft.
»Wir erlauben Drekr einfach nur, seine … seine Waren hierherzubringen. Manchmal … lagert er sie eine Weile hier, manchmal gehen sie nach Westen, manchmal nach Norden. Der Befehl des Prinzen lautet, dass wir Drekr freie Hand lassen sollen.«
»Hmmm.« Skalk zupfte finster an seinem blonden Bart.
»Ist mein Sohn hier?«, knurrte Orka. Das Bedürfnis, ihn wiederzufinden, spürte sie bis in die Knochen, und in Anbetracht der Möglichkeit, dass er gerade ganz in der Nähe sein könnte, geriet ihr Blut ins Sieden.
»Halt’s Maul!«, fuhr Skap Orka an.
Von draußen drangen Schreie in den Raum und das Trommeln von Hufen, die durch die Tore galoppierten. Dann hörten sie Stimmen im Hof. Haga humpelte zum Fenster und spähte hinunter.
»Reiter«, verkündete sie. »Drengr, einige davon mit Helkas Adlerschwingen.«
»Bringt sie hoch«, befahl Skalk. Ein Krieger dicht an der Tür stand auf und ging hinunter.
Orka wusste, wer dort im Hof war, jedenfalls vermutete sie es. Sie prüfte ihre Fesseln, doch das Tau um ihre Handgelenke war dick und fest. Aber wenn sie sich auf die Zehen stellte, dann konnte sie den Knoten mit den Zähnen erreichen.
»Sei ruhig, Miststück!«, sagte der mit der gebrochenen Nase zu ihr.
Sie hörten Schritte in der Halle, dann auf den Treppen, und schließlich flog die Tür auf. Der Krieger, der hinausgegangen war, führte die Männer an. Hinter ihm kam ein Drengr, ein junger Mann in einem Kettenhemd, mit einem Schwert an der Hüfte, dunklen Haaren und einer spitzen, laufenden Nase.
Mort gab ein kehliges Knurren von sich.
»Guðvarr«, murmelte Orka. Arild stand hinter ihm in der Tür, und hinter ihr drängten sich noch weitere Drengr.
In der Ferne hörte Orka erneut ein Kind schreien.
»Ist das mein Sohn?«, schnarrte sie. Ihr Blut kochte in ihren Adern und ein roter Nebel breitete sich in ihrem Kopf aus.
Guðvarr stand da und sah sich in dem Raum um. Dann fiel sein Blick auf Mort und Lif, und er lächelte. Während er auf sie zuging, zückte er sein Schwert.
»Warte!«, schrie Skalk, aber Guðvarr hatte bereits ausgeholt und rammte die Klinge in Morts Bauch. So tief, dass sie aus Morts Rücken wieder herausdrang. Blut spritzte und Guðvarr drehte die Klinge herum. Mort brüllte und krümmte sich.
Lif schrie entsetzt auf. Eis spritzte aus seinem Mund.
Guðvarr packte Morts Haar, hob den Kopf und starrte ihm in die Augen.
»Ich bin also ein Wieselarsch, ein Niðing, ja?«, fragte er, als er sein Schwert erneut drehte. Morts Schreie wurden schriller.
Lif kreischte und riss an seinen Fesseln, als Guðvarr sein Schwert aus Mort herausriss. Blut strömte aus der Wunde, und Mort sackte zusammen.
Wieder drang das klagende Geschrei eines Kindes vom Hof herauf.
In diesem Moment veränderte sich etwas tief in Orka. Ihr Bewusstsein und ihre Klarheit schärften sich zwischen zwei Herzschlägen. Sie spürte, wie das Blut durch ihre Adern rauschte, wie die Hitze der Wut sich veränderte, unvermittelt erkaltete, durch ihren Körper strömte und sich Eis und Feuer mischten. Kraft durchströmte ihre Muskeln, ihre Sehkraft und ihre Sinne wurden schärfer. Sie sprang hoch und biss in den Knoten des Seils, mit dem ihre Handgelenke gefesselt waren. Ihre Zähne waren scharf, rissen an dem Strick und zerfetzten ihn. Das Seil fiel herunter.
Alle hatten nur Augen für Guðvarr und Mort. Orka ging zu ihrem Waffengurt, der noch auf dem Tisch lag.
Die humpelnde Haga sah sie zuerst. Sie ließ den Eimer fallen und griff nach ihrem Speer, der an einer Wand lehnte. Dann riss sie den Mund auf, um eine Warnung zu rufen.
Orka heulte, als sie ihren Waffengurt hochriss, ihren Scramasax und die Faustaxt zückte und Haga angriff. Sie trat den Speerschaft zur Seite und rammte der Frau ihren Scramasax in den Bauch. Blut floss über Orkas Faust, als sie die Frau wegstieß. Dann erhob sie sich in einem Sturm aus Eisen, brüllend, während Blutrausch und Macht sie zu verzehren drohten.
Die Krieger um sie herum schrien und zückten ihre Waffen. Guðvarr schrie ebenfalls, taumelte von Mort und Lif zurück zu der offenen Tür, wo sich noch mehr Krieger drängten. Orka hackte ihre Axt in den Schädel des kahlköpfigen Mannes und riss sie heraus, als er in den Feuerkorb fiel. Brennende Glut verteilte sich überall im Raum, und Feuer brach aus. Die Krieger griffen Orka an. Sie warf sich auf sie, lachte und heulte, während die Männer schrien und starben. Dann war sie plötzlich bei Lif und durchtrennte das Seil, mit dem seine Handgelenke gefesselt waren.
Er griff nach einer am Boden liegenden Waffe.
»Nein!«, knurrte Orka. »Bleib hinter mir!« Das war eine Warnung. Dann warf sie sich wieder auf die Krieger, die in den Raum drängten, aber jetzt nur noch zögernd.
»Eldur logar björt!«, schrie jemand. Es war der Galdurmann, Skalk. Flammen erwachten knisternd an seinem Stab zum Leben. Orka schleuderte ihre Axt nach ihm. Die Klinge wirbelte durch die Luft und grub sich in seine Schulter. Er stürzte in die Gruppe der Krieger an der Tür und verlor dabei seinen Stab.
Jetzt bildeten die Drengr eine Schlachtreihe gegen sie. Speere, Schwerter und Äxte richteten sich auf sie. Es waren acht Männer und Frauen im Raum, und immer mehr drängten sich in der Tür und dem Gang dahinter. Sie hielt inne, spreizte die Füße, und selbst der Wolf in ihrem Blut wusste, dass sie gegen diese Übermacht nichts ausrichten konnte.
Sie lächelte sie trotzdem an, blutig und wölfisch.
Dann ertönte ein Krachen über ihr, ein ohrenbetäubender Lärm. Erneut schrien die Krieger und blickten hoch.
Tageslicht fiel in den Raum, als ein Teil des Dachs verschwand, zerfetzt von den Krallen eines riesigen Raben. Er schlug mit den Flügeln, und ein Sturm toste durch den Turm, fachte die Glut an, die überall verstreut lag. Balken fingen Feuer, loderten knisternd und Rauch quoll hoch.
»Gefallen für einen Gefallen!«, krächzte der Rabe. Im nächsten Moment sank ein zweiter Rabe herab, riss noch mehr von dem Dach ab und packte einen Krieger, der auf Orka zulief, mit den Krallen. Er hob ihn hoch in die Luft und schleuderte ihn vom Turm. Der Mann stürzte, mit Armen und Beinen rudernd, kreischend, in Richtung Erdboden.
»Haben deine Freunde gefunden, die nach dir suchen«, krächzte der erste Rabe, der höher stieg. In dem Moment näherten sich zwei kleinere Gestalten. Sie summten mit schemenhaften Flügeln in den Raum.
Eine landete auf der Schulter einer Frau. Sie hatte einen hornartigen, gegliederten Körper und ein viel zu menschliches Gesicht mit hervorstehenden Augen und einer grauen, schlaffen Haut. Ihr Mund war mit viel zu vielen spitzen Zähnen gespickt. Ein Schwanz bog sich über ihren Rücken. Er lief an der Spitze nadeldünn zu, zuckte nach vorn und stach die Frau in die Wange.
»Endlich, Spert hat dich gefunden, Herrin!«, verkündete Spert, während die Frau taumelte, würgte, ihr Schwert fallen ließ und nach ihrem Gesicht griff. Ihre Adern wurden schwarz und verbreiteten sich von der Einstichstelle in ihrer Wange über ihr Gesicht wie ein verseuchtes Spinnennetz. Sie liefen den Hals hinab, und sie versuchte zu sprechen, zu schreien – vergeblich, weil ihre Zunge bereits schwarz und angeschwollen war. Dann brach sie zusammen, und Sperts Schwingen summten, als er sich wieder in die Luft erhob und auf sein nächstes Opfer zuschoss.
Eine andere kleine Gestalt flog mit pergamentenen Flügeln durch den Raum. Vesli, mit ihren scharfen Krallen und Brecas Speer in der Faust. Sie stach damit nach den Gesichtern, als sie an den Kriegern vorbeiflog.
Orka lächelte und knurrte, suchte nach anderen Opfern, die sie töten konnte.
Der mit der gebrochenen Nase ging auf sie zu und lockerte seine Schultern, während er seine lange Bartaxt schwang. Die Krieger wichen zurück, um ihm Raum zu geben. Er schwang die Axt in einem großen Bogen nach Orka, die aber duckte sich darunter weg, sprang dicht vor ihn und rammte ihm den Scramasax unter das Kinn in die Kehle, drückte mit aller Macht zu, bis die Spitze des Dolchs an seiner Schädeldecke schabte. Er brach zusammen und ließ seine Bartaxt fallen. Orka ließ ihren Scramasax in seinem Schädel stecken und fing die Bartaxt im Fallen mit beiden Händen auf. Sie spürte die ihr so vertraute und so lange vermisste Waffe, und ein Schauer überlief sie, wie unter der Berührung eines alten Liebhabers.
Sie trat den Leichnam des Kriegers mit der gebrochenen Nase zur Seite und stand dann vor den Kriegern, die sich in der Tür drängten. Spert und Vesli schwebten über ihr.
Schweigen herrschte, und Flammen knisterten. Die Sterbenden stöhnten, und man hörte das schwere Keuchen der Lebenden, als die übrigen Krieger sie anstarrten.
Dann wandten sie sich um und flüchteten.
Orka rannte hinter ihnen her, schwang die Bartaxt, schlug zu, und Blut spritzte durch die Luft. Leichen fielen polternd die Treppe des Turms hinab, aber Orka hackte immer noch auf sie ein, in einer Flut von Schlägen, mit denen sie die Krieger zerstückelte. Als sie blinzelte und hochsah, den Kopf schüttelte, um das Blut aus ihren Augen zu vertreiben, fand sie sich auf den Stufen der Methalle wieder und blickte in den Hof. Sie wusste nicht, wie sie dorthin gekommen war, aber sie stand in einem Ring aus Leichen, vollkommen blutüberströmt, keuchend, knurrend, nur auf eines aus: zu töten.
Weitere Leute, Krieger, befanden sich im Hof. Einige rannten auf sie zu, aber die meisten flüchteten. Wieder einige sprangen in die Boote an der Pier und durchtrennten hektisch die Schiffstaue. Sie sah Skalk und Guðvarr bei ihnen.
Erneut durchströmte sie Wut und Kraft, als sie alle mit ihrem Blick streifte, die Toten und die Lebenden. All diese Leute, die sie von ihrem Kind trennen wollten.
Zerhacke sie, zerfetze sie, zerreiße sie!
Knurrend rannte sie los und schwang ihre Bartaxt.