ELVAR
Elvar ging durch ein Land mit nebligen Tälern und Hügeln voller Wälder. Eschen, Ulmen, Eichen und Linden wuchsen in kleinen Gehölzen und breiten Streifen, Bäche gurgelten, Krähen kreischten in den Ästen, und in der Nacht heulten Wölfe und schrien Füchse.
Das sind also die Dunkelmond-Hügel, von denen die Skalden im ganzen Land seit dreihundert Jahren singen. Sie sind nicht anders als das Land südlich des Knochenmassivs.
Außer dass hier keine Menschen leben. Sie waren an einem Haufen Trolldung vorbeigekommen, mit dem ein Bulle die Grenzen seines Reviers markierte. Aber sonst hatten sie nur wenig Lebewesen zu Gesicht bekommen.
Elvar war etwas enttäuscht.
»Was ist los?«, knurrte Grend neben ihr.
Er war vor fast zwei Tagen aufgewacht, und jetzt schien es, als wäre er nie verletzt worden, wäre da nicht der Verband unter seinem Eisenhelm sichtbar gewesen. Alle Schlachtgrimmen trugen ihre Kettenhemden, selbst wenn sie marschierten. Die Lektion vom Tennúr-Hügel an der Brücke war ihnen noch frisch im Gedächtnis. Elvar hatte ihren Eisenhelm an ihren Gürtel geschnallt und spürte sein Gewicht an ihrer Hüfte.
»Ich dachte, es wäre … gefährlicher«, sagte sie.
»Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst, Elvar Feuerfaust«, sagte Biórr lächelnd. Er ging neben ihr. Er war jetzt nie weit von ihr entfernt.
»Ich weiß, du hast recht.« Elvar lächelte den jungen Krieger an.
Grend warf Biórr einen mürrischen Blick zu.
Elvar hatte seit jener Nacht unter dem Weidenbaum Biórr jede Nacht zu sich geholt, und sie machte keinen Hehl daraus. Grend hatte darauf verzichtet, einen Kommentar abzugeben, aber dass er selbst diese Worte zu ihr hätte sagen können, die Biórr gerade geäußert hatte, und den jungen Krieger dennoch nur böse ansah, zeigte, dass er Elvars Wahl nicht billigte.
Ihre kleine Kolonne hielt an. Agnar, der sie anführte, war irgendwo weiter vorne und nicht zu sehen, zusammen mit Uspa, Sighvat und dem Hundur-Thrall. Sie folgten einem gewundenen Pfad einen Kamm hinauf und kamen wegen ihrer Fuhrwerke nur langsam voran. Elvar blickte sich stirnrunzelnd um. Es war kein besonders geeigneter Platz, um ein Lager aufzuschlagen, und sie waren ohnehin noch nicht lange genug marschiert, um jetzt schon anzuhalten.
»Ich sehe mal nach, was da los ist«, sagte Elvar mürrisch. Grend folgte ihr, wenig überraschend.
Sie gingen an der Kolonne entlang nach vorne, an Fuhrwerken und Pferden und den anderen Schlachtgrimmen vorbei. Die Krieger starrten in den Wald um sie herum, während schattige Gestalten zwischen den Bäumen umherliefen, die Kundschafter der Schlachtgrimmen. Eine Atmosphäre von Erregung und Erwartung hatte sie gepackt und schärfte ihre Sinne. Elvar spürte es in der Luft. Es kribbelte auf ihrer Haut wie vor einem Gewitter.
Die Aussicht, Oskutreð zu finden. Es fühlt sich so nah an, dass ich es fast riechen kann. Ich schmecke, höre im Wind, wie es uns flüsternd ruft.
Der vordere Teil der Kolonne kam in Sicht. Agnar stand auf dem Kutschbock eines Gespanns. Er starrte über die Kolonne zurück, über Elvars Kopf hinweg dorthin, woher sie gekommen waren.
»Was gibt es?«, erkundigte sich Elvar, als sie näherkam.
Sighvat zuckte mit den Schultern. »Der Häuptling dachte, er hätte etwas gesehen«, sagte er. Der Hundur-Thrall lehnte an einem Baum; Uspa stand neben ihm. Ihre Miene war angespannt und starr, anders als die der Krieger um sie herum. Sie tätschelte abwesend die Schulter des Hundur-Thralls neben sich, als wäre er ein treuer Hund.
Elvar setzte ihren Fuß in eine Speiche des Rads und kletterte neben Agnar hinauf. Er blickte zurück über die Hügel und die Wälder und hatte eine Hand zum Schutz gegen die grelle Sonne am wolkenlosen Himmel über die Augen gelegt. Elvar folgte seinem Blick. Der Pfad, auf dem sie gekommen waren, wurde von vereinzelten Gehölzen gesäumt, und Bäche schimmerten silbrig dazwischen. In der Ferne kreisten dunkle Flecken am Himmel, Krähen, deren Silhouetten sich vor Eldrafells rotem Glühen weit im Westen abhoben.
»Was gibt es, Häuptling?«, flüsterte Elvar. Sie konnte seine Anspannung fühlen.
Agnar blieb eine Weile stumm.
»Nichts«, antwortete er schließlich, ließ die Hand sinken und sah sie an. »Es ist nur so ein Gefühl.« Er seufzte, drehte sich um und sah Uspa an.
»Wie lange noch?«, fragte er sie.
»Schon bald«, erwiderte sie gleichmütig.
»Das behauptest du jetzt seit zwei Tagen«, gab Agnar drohend zurück.
»Mehr kann ich nicht sagen«, entgegnete Uspa. »Das Graskinna war ein Galdur-Buch, keine Landkarte.«
»Schön.« Agnar schlug dem Mann auf dem Kutschbock des Karrens auf die Schulter und sprang herunter.
»Weiter!«, schrie er.
Elvar fuhr mit einem Finger über Biórrs Schulter, als sie neben ihm lag. Sie folgte einer geschwungenen blauen Tätowierung, die bis auf seine von Narben überzogene Brust führte. Schweiß schimmerte auf den dichten Locken seiner dunklen Brusthaare. Weiße Narben verliefen diagonal von rechts nach links über die Haut, ein Flechtwerk aus silbernen Linien.
»Was hat dir das angetan?« Elvar war immer noch etwas atemlos von ihrem Beischlaf.
Biórr drehte sich auf die Seite und sah ihr in die Augen.
»Eine Peitsche«, antwortete er. »In dem Leder waren Knoten.« Er wollte noch mehr sagen, hielt jedoch inne und wandte unbehaglich den Blick ab. Elvar bemerkte seine Anspannung, die sich im Laufe des Tages verstärkt hatte.
»Wann?« Elvar war verwirrt über die Veränderung, die plötzlich mit ihm vorging.
Das Schweigen zog sich in die Länge.
»Es ist zu lange her, als dass ich mich noch klar daran erinnern könnte«, sagte Biórr schließlich.
Elvar wusste, dass er log. Also warst du jung. Wahrscheinlich noch ein Kind. Mitgefühl für Biórr durchströmte sie, und Wut auf die, die ihm so etwas angetan hatten. »Wenn wir das Gold von Oskutreð besitzen, dann werde ich einer Kriegerhorde eine Kiste Silber geben, damit sie all jene zur Strecke bringen, die dir das angetan haben. Ich werde sie dafür bezahlen lassen.«
»Das ist nicht nötig«, antwortete Biórr. Seine Worte klangen so endgültig, dass Elvar das Gefühl hatte, dass diese Rache bereits vollzogen worden war.
»Wie alt bist du, Biórr?«
»Ich habe zweiundzwanzig Winter auf dem Buckel«, antwortete er und tippte ihr sacht auf die Stirn. »Was geht in deinem Kopf vor, dass du mich mit all diesen Fragen löcherst?« Er lächelte sie an.
»Ich will dich kennenlernen.«
»Ich glaube, das tust du bereits.« Wieder lächelte er und streichelte ihren Bauch, auf dem der Schweiß abkühlte. Sie erzitterte.
»Mehr als auf diese Weise«, gab sie zurück. »Auch anders. Woher kommst du? Was isst du am liebsten?« Sie sah ihn eindringlich an. »Wer ist deine Familie?«
Er verspannte sich, dann rollte er sich wieder auf den Rücken. »Meine Familie ist tot.« Unvermittelt setzte er sich auf, griff nach seiner Hose und suchte nach seiner Tunika. »Ich bin hungrig«, sagte er. Er stand auf und blickte auf sie herunter. Dann streckte er ihr die Hand hin.
Wir haben alle unsere Narben, und nicht alle sind in unsere Haut eingeritzt. Es hat lange gedauert, bis ich mit irgendjemandem über meinen Vater geredet habe, und ich rede immer noch nicht gern über meine Mutter, obwohl sie es viel mehr verdient hat, dass man über sie redet, als mein Vater es jemals tun wird. Elvar rollte sich zur Seite, stand ebenfalls auf, suchte ihre Sachen und zog sich rasch an. Schließlich streifte sie sich ihr Brynja über und schnallte ihren Waffengurt um.
Sie verließen die Deckung der Karren, wo sie sich versteckt hatten, und gingen zwischen den angebundenen Pferden hindurch ins Lager. Es ist Nacht, dachte Elvar, jedenfalls angesichts des nebelartigen Zwielichts, das sie umgab. Der Wind pfiff durch die Zweige über ihnen und trug die Kälte aus dem Norden heran, obwohl die Feuer von Eldrafell den Boden immer noch wärmten und ihn frei von Frost hielten.
Biórr trat zur Feuergrube und füllte zwei Näpfe. Einen reichte er Elvar. Sie warf einen Blick hinein und roch daran.
Grend näherte sich mit leisen Schritten.
»Hunger«, sagte er.
Biórr lächelte den alten Krieger an und gab ihm einen Napf.
»Brennnesselsuppe mit Knoblauch«, sagte Biórr, nahm eine Handvoll alter Weizenfladen, die am Rand der abkühlenden Steine lagen und ging davon.
Elvar nickte Grend zu und folgte Biórr. Sie hörte, wie Grend hinter ihr seufzte, und dann folgten ihr seine Schritte. Für einen großen Mann konnte er sehr leise gehen.
Elvar ging durch das Lager, in dem sich Frauen und Männer in kleinen Gruppen versammelt hatten. Sie aßen und tranken, einige sangen leise, andere erzählten Geschichten, schärften ihre Waffen oder pflegten ihre Ausrüstung. Sie folgte Biórr, der zu Uspa gegangen war. Elvar vermutete, dass er sie immer wegen seines schlechten Gewissens aufsuchte. Er war ihr Wächter gewesen, in der Nacht, als Bjarn geraubt worden war. Uspa saß mit Kráka und dem Hundur-Thrall zusammen, wie immer. Biórr reichte ihnen Weizenfladen, und sie nahmen sie gerne an. Der Hundur-Thrall schnupperte in der Luft.
»Die Suppe riecht gut«, sagte er.
»Brennnessel und Knoblauch«, erwiderte Biórr. »Und sie schmeckt auch gut.« Er bot dem Thrall seine Schüssel an, der jedoch ablehnend und fast erschrocken abwinkte.
»Du solltest erkennen können, was das für eine Suppe ist«, meinte Elvar, als sie sich ihnen anschloss. »Was für ein Hundur-Thrall bist du, wenn du Brennnessel und Knoblauch nicht riechen kannst?«
»Sein Name ist Ilmur.« Bei dem Unterton in Biórrs Stimme schämte sich Elvar. Sie setzte sich und fragte sich, warum sie nie auf die Idee gekommen war, danach zu fragen.
Grend setzte sich ebenfalls zu ihnen und schlürfte stumm seine Suppe.
»Was ist los, Uspa?«, fragte Elvar die Seiðrhexe. Deren Gesicht war angespannt, und sie kniff die Augen zusammen, als litte sie Schmerzen.
Dann holte sie tief Luft und atmete langsam wieder aus.
»Ich denke, wir sehen morgen Oskutreð«, erwiderte sie schließlich.
Elvar wäre fast aufgesprungen. Die Begeisterung fuhr wie ein Stich in ihre Magengrube und kribbelte in ihren Armen und Beinen.
»Warum hast du das Agnar nicht schon früher gesagt?«, wollte sie wissen.
»Weil ich nicht sicher bin. Es ist nur so ein Gefühl«, erwiderte Uspa. »Wie ein Lied in meinem Blut. Ein Pochen in meinem Schädel.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann mich auch täuschen.«
»Ach!« Elvar sah Grend an und grinste. Er betrachtete sie über seine Suppenschüssel hinweg und schlürfte dann weiter. »Du solltest ein bisschen glücklicher aussehen«, riet Elvar Grend. »Und du auch, Uspa. Das wird der größte Moment in unserem Leben. Wir werden den Großen Baum sehen, die Stelle, wo die Götter am erbittertsten gekämpft haben. Ihre Knochen …« Sie schüttelte den Kopf. »Es wird ein Wunder sein.«
»Es wird ein Fluch«, widersprach Uspa bitter.
»Wie kannst du so etwas sagen?«, gab Elvar zurück. »Was wir in Oskutreð finden, beschert uns unvorstellbaren Ruhm und Wohlstand.«
»Glaubst du?«, fragte Uspa. »Vielleicht. Aber ich sehe nur Blut und Tod und Elend daraus entspringen. Die Götter sind tot und vergessen, und das sollten sie auch bleiben. Sie waren verdorbene egoistische und brutale Geschwister. Und jetzt ihre Knochen, ihre Waffen und ihre Schätze nach Süden ins Land der Menschen zu schleppen …« Sie zischte tief in der Kehle wie eine Schlange. »Sie werden wie ein Gift sein und die menschlichen Herzen infizieren. Und damit wird die ganze blutige Saga von vorne beginnen. Ströme von Blut werden fließen.«
»Aber es muss nicht zwangsläufig so sein«, widersprach Elvar. »Das liegt in unseren Händen. Es ist unsere Entscheidung.«
»Tatsächlich?«, stieß Uspa hervor. »Dann sieh dich um. Armselige Frauen und Männer, die von Schlachtenruhm träumen, als wäre das das Größte im Leben.«
»Das ist es auch!«, entgegnete Elvar hitzig. »Frauen sterben, Männer sterben, alle Kreaturen aus Fleisch und Blut sterben, aber Schlachtenruhm überlebt. Ein Lied zu werden, eine Sagengeschichte, die von Generation zu Generation weitererzählt wird … auf diese Art und Weise leben wir ewig. Das ist es, was ich will. Wir alle wollen das.«
»Ich weiß«, gab Uspa zurück. »Deshalb bemitleide ich dich, Elvar Störrsdottir.«
Grend bewegte sich und knurrte.
»Ganz ruhig, Elvars Bluthund«, sagte Uspa. »Es waren scharfe Worte, keine scharfe Klinge.« Sie sah Elvar ernst und traurig an. »Schlachtenruhm ist nichts, er ist wie Spreu im Wind. Die Bänder der Liebe, der Blutsverwandtschaft, der Leidenschaft, der Freundschaft, danach sollten wir alle streben. Was du und Biórr jede Nacht hinter den Fuhrwerken tut, das ist real. Wenn ihr euch nur mehr danach sehnen würdet als nach Schlachtenruhm. Wenn ihr eure Familie mehr lieben und ehren würdet, als ihr nach Ruhm und Sagengeschichten giert.« Sie zuckte mit den Schultern. »Dann wäre die Welt ein besserer Ort.«
»Aber nicht bei meiner Familie«, gab Elvar zurück und sah Uspa finster an. Sie dachte an das verächtliche Gesicht ihres Vaters, an den Hohn ihres Bruders Thorun. »Meine Familie ist nicht so leicht zu lieben und würde dich schneller verkaufen, als du dich versiehst. Und wenn du das so deutlich empfindest, warum führst du uns dann nach Oskutreð?«
»Für meinen Sohn.« Uspa ließ die Schultern hängen. »Ich bin bereit, alles aufzugeben, was ich für wert und wichtig halte, alle meine hehren Prinzipien, all das Große, an das ich je geglaubt habe, all das tausche ich ein für meinen Sohn.« Sie schnitt eine Grimasse, Selbstverachtung im Blick. »Ich bin eine Heuchlerin, verstehst du? Weil die Liebe einer Mutter etwas so Mächtiges ist. Ein Instinkt wie kein anderer. Ich würde die ganze Welt in Blut ersaufen lassen, wenn das bedeutete, dass mein Bjarn in Sicherheit und wieder in meinen Armen ist.« Sie wandte den Blick ab.
»Du irrst dich«, widersprach Elvar. »Die Familie ist ein Fluch. Du kannst sie dir nicht aussuchen, sie wird dir auferlegt. Sie sind das Gift.« Sie hob die Hand. »Grend steht mir näher als mein Vater oder meine Brüder, und er ist treu und loyal. Er ist gut. Er hat sich entschieden, diesen Weg zu gehen, hat sich für mich entschieden, so wie ich mich für ihn entschieden habe. Und diese Entscheidungen werden mit Treue und Loyalität zehnfach zurückgezahlt. Aber Grend ist nicht meine Familie, in unseren Adern fließt nicht dasselbe Blut. Sondern es ist unsere Entscheidung, die zählt. Sieh dich um, sieh dir Agnar, Biórr, Sólín, die Schlachtgrimmen an. Sie stehen sich näher, als Familien einander stehen. Und sie sind besser. Ich habe mich für sie entschieden, nicht wegen des gemeinsamen Blutes in unseren Adern, sondern weil wir uns gegenseitig füreinander entschieden haben. Weil wir uns Treue geschworen haben. Wir stehen Schulter an Schulter im Schildwall, leben oder sterben gemeinsam.« Sie merkte, dass ihr Herz heftig hämmerte und die Knöchel ihrer Faust weiß waren. Sie atmete langsam aus.
»Unsere Entscheidungen bestimmen über die Zukunft«, fuhr sie fort. »Wem wir vertrauen, wen wir lieben. Und unsere Entscheidungen werden auch bestimmen, was aus den Schätzen wird, die wir in Oskutreð finden. Familie ist nicht die Antwort. Blut ist nicht die Antwort.«
Uspa sah sie an. In ihrem Blick lagen Mitleid und Mitgefühl. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Noch einmal so jung und naiv zu sein«, seufzte sie. »Denn Blut … Blut ist immer die Antwort.«