VARG
Varg ging auf den Platz vor der Methalle, trat über eine Pfütze geronnenen Blutes und blieb stehen.
Das Blut rauschte in seinen Ohren und dämpfte die Geräusche. Er sah in der Zuschauermenge, die den Platz umgab, lächelnde Gesichter, Münder, die sich bewegten, bemerkte, wie Münzen den Besitzer wechselten. Eine muskulöse schlanke Frau in einem Brynja, zu deren Füßen zwei Wolfshunde lagen, beobachtete ihn, während sie einen Apfel aß. Ihr silbergraues Haar war zu einem Knoten geflochten. Eines ihrer Augen war zerstört, an seiner Stelle war nur eine weiße Narbe zurückgeblieben. Sie hatte einen Speer in der Faust, und an ihrem Gürtel hingen eine Faustaxt und ein Scramasax. Für eine Kriegerin schien sie zu alt, das verrieten die tiefen Furchen um ihre Augen und ihren Mund. Als Varg ihrem Blick begegnete, lächelte sie, aber es war kein aufmunterndes Lächeln. Sondern eines, mit dem man einen Narren bedenkt, der glaubt, fliegen zu können und von einer Klippe springt.
Sie ließ das Apfelgehäuse fallen, nahm eine Münze aus dem Beutel an ihrem Gürtel und gab sie einem Mann neben ihr.
Sie wetten darauf, wie schnell ich verliere.
Einar beugte sich vor und murmelte dem graubärtigen Kahlkopf und der tätowierten Frau etwas zu. Dabei wischte er sich mit einem Lappen Blut von den Knöcheln und gab ihn dann einer anderen Kriegerin, einer großen blonden Frau. Sie gehörte ebenfalls zu den Blutgeschworenen, ihrem schwarzen Schild und dem Brynja nach zu urteilen. Sie nahm den Lappen, stopfte ihn in ihren Waffengürtel und griff dann nach einem der Holzschilde, die an den Stufen der Methalle lehnten. Sie sah Varg an, schritt zu ihm und hielt ihm den Schild hin.
Varg warf einen Blick darauf. Es waren zusammengeklebte Lindenholzbretter, die mit einem Rand aus Tierhaut zusammengehalten wurden und in deren Mitte sich ein Eisenbuckel befand. Auf die Innenseite war ein Holzgriff genietet.
»Er wird dir mehr nützen, wenn du ihn nimmst, statt ihn nur anzustarren«, sagte die Frau. Ihre Nase und ihr Kinn waren lang und dünn, wie der Bug eines Drakkar.
Varg schüttelte den Kopf. »Ich will ihn nicht«, sagte er.
»Sei kein Idiot. Wie lange wirst du ohne den Schild gegen Halbtroll bestehen?«
Varg schüttelte erneut den Kopf. Er hatte in Wahrheit noch nie einen Schild gehalten, geschweige denn einen im Kampf benutzt.
»Es ist dein Leben«, erwiderte die Frau gleichgültig.
»Pass für mich darauf auf.« Varg nahm den Umhang ab, faltete ihn und hielt ihn ihr hin.
Die Frau nahm ihn, verzog die Lippen und ließ ihn fallen.
»Ich bin keine Thrall, die man herumkommandiert«, sagte sie. »Wie ist dein Name?«
»Varg.«
»Er hat keinen Sippennamen!«, rief Svik ihnen zu.
»Und keinen Schild!«, antwortete sie Svik. Dann sah sie wieder zu Varg. »Und keinen Verstand.« Sie wandte sich ab.
»Varg Hirnlos fordert Einar Halbtroll für einen Platz auf der Ruderbank und im Schildwall der Blutgeschworenen!«, verkündete sie, während sie zu dem Kahlköpfigen und Einar zurückging. Die Menge johlte, als Einar ins Feld trat. Seine dichten Brauen schoben sich finster zusammen, als er sah, dass Varg keinen Schild hatte, aber er ging weiter.
Aus der Nähe wirkte Einar noch größer als zuvor. Sein Gesicht schien nur aus Knochen und rotem Haar zu bestehen, und seine Fäuste waren so groß wie Ambosse.
Varg berührte den Beutel an seinem Gürtel, warf einen Blick auf Vol, die Seiðrhexe, die ihn mit dunklen Augen beobachtete, und sah dann wieder zu Einar zurück.
Für dich, Frøya. Ich tu das für dich.
Er holte tief Luft, schüttelte Arme und Hände aus und balancierte auf den Fußballen.
Einar tauchte vor ihm auf. Er verdeckte die Sonne.
»Wenn du zu Boden gehst, bleib liegen«, knurrte der Hüne ihm zu und holte mit der rechten Hand aus.
Varg duckte sich, und die Faust pfiff über seinen Kopf hinweg. Dann trat er dicht an den Riesen heran und trommelte eine Folge von Faustschlägen gegen Einars Magengrube. Es war, als hämmerte er auf einen Baumstamm ein. Einar schien nicht das Geringste zu spüren. Varg duckte sich, tänzelte nach rechts, wich dem nächsten Haken aus, der an seinem Kopf vorbeizischte, und trat gegen Einars Knie. Der Hüne knurrte, und sein Bart bewegte sich, als er die Lippen verzog.
Das hast du wohl gespürt, du Fleischberg?
Eine hammergroße Faust fegte auf Varg herab, der sich zur Seite bog, und zischte erneut unverrichteter Dinge durch die Luft, während er gleichzeitig einen Schlag gegen Einars Lenden führte.
Varg hatte oft gekämpft, auf dem Gehöft. Das erste Mal schon, noch bevor ihm Haare am Kinn gewachsen waren. Er hatte mit den Thralls um eine Extraschüssel Fleischbrühe für Frøya gekämpft, die mit Fieber darniedergelegen hatte. Und dann häufiger, als er herausgefunden hatte, dass er damit leicht heimlich ein paar Münzen oder eine extra Mahlzeit gewinnen konnte. Schließlich hatte Kolskegg, sein Herr, von seinen schnellen Fäusten gehört und Varg zu Wettkämpfen gegen die Meisterkämpfer der anderen Grundbesitzer geschickt. Varg hatte Kolskegg eine Kiste Silber gebracht und dabei gegen Frauen und Männer gekämpft, die größer und stärker als er waren. Aber er hatte festgestellt, dass kein Mann nach einem Schlag in seine empfindlichsten Teile noch stehen konnte, wie groß oder stark er auch sein mochte.
Varg hatte den Schlag perfekt ausgeführt – eine rechte Gerade, die Füße gespreizt, die Kraft von Beinen und Hüften hatte er in seinen Arm geleitet, und unmittelbar vor dem Aufprall hatte er das Handgelenk verdreht.
Schmerz schoss durch Vargs Faust, hoch in seinen Arm, und er taumelte einen Schritt zurück. Der Aufprall war nicht weich gewesen. Vargs Faust war auf etwas Eisenhartes geprallt.
»Ha!« Einar grinste. »Das haben kleine Männer schon häufiger versucht. Jökul der Schmied hat mir einen Schutz angefertigt.« Dann hämmerte er seine fleischige Faust Varg ins Gesicht.
Doch trotz des Schmerzes in seiner Hand konnte er ausweichen, sodass ihn Einars Faust statt am Kinn an der Schulter traf. Die Wucht des Schlages riss ihn von den Füßen. Er flog durch die Luft, landete krachend auf dem Boden und rollte durch den Schlamm.
Einar folgte ihm mit großen Schritten.
Varg erhob sich auf Hände und Knie und drückte seine schmerzende Faust an seine Seite. Ihm war übel, und im nächsten Moment traf ihn Einars Stiefel in die Rippen. Erneut wurde er vom Boden hochgerissen und wirbelte scheinbar schwerelos durch die Luft.
Bei der Landung krachte sein Kopf in den Schlamm. Sterne tanzten vor seinen Augen, alles verschwamm, und seine Lippen brannten vor Schmerz. Er zwang sich dazu weiterzurollen, richtete sich auf ein Knie auf und sah, wie Einar erneut näherkam.
»Ich hatte dir befohlen, liegen zu bleiben!«, knurrte der Hüne.
Wut durchströmte Varg. Der Faustkampfring war der einzige Ort, wo man ihm nicht sagen konnte, was er zu tun hatte. Hier war er frei gewesen. Wo er die Wut, die er immer empfand, entfesseln konnte. Sie strömte auch jetzt glühend durch seine Adern.
Varg stieß sich vom Boden ab und sprang Einar an. Knurrend wie ein Hund rollte er zwischen den Beinen des Mannes hindurch und sprang hinter ihm hoch. Dann hämmerte er ihm mit seiner gesunden Hand die Faust in die Niere und trat ihm in die Kniekehle. Der Hüne fiel auf ein Knie.
Die Zuschauer verstummten, als hielten sie alle die Luft an. Dann brüllten sie los.
Einar schlug Varg den Handrücken ins Gesicht. Es war ein schwacher Schlag gegen das Kinn, und zudem nicht richtig ausgeführt. Trotzdem landete Varg auf dem Boden. Einar rappelte sich hoch, mit vor Wut glühendem Gesicht, und hob den Fuß, um auf Vargs Kopf zu treten.
Der rollte sich herum, schlang seine Arme um Einars Knöchel, als der Stiefel im Schlamm landete, und zog sich dicht zu dem Mann.
»Lass los, du kleiner Scheißer!«, knurrte Einar und schüttelte sein Bein. Aber Varg hielt sich fest. Sein ganzer Körper schmerzte, aber er zog sich an einen Ort jenseits des Schmerzes zurück. Dann riss er den Mund auf und biss in die Wade des Hünen. Seine Zähne durchtrennten die wollenen Beinwickel und die Hose und gruben sich in Haut.
Einar brüllte.
Varg schmeckte Blut und biss fester zu.
Der Schrei wurde noch schriller.
Dann verstummte Einar unvermittelt, und mit einem Auge sah Varg eine Faust auf sich zuschießen. Er biss noch fester zu, bis seine Zähne knirschten.
Ein weißes Licht explodierte in seinem Kopf.
Der Schmerz war wie Hammerschläge in seinem Schädel, Messer in seiner Seite. Nadelstiche in seiner Hand. Er versuchte die Augen zu öffnen, konnte es aber nicht.
Bin ich tot? Ist das Hvergelmir, Lik-Rifas Gefängniskammer? Oder sind mir meine Augen von einem bösartigen Spuk zugenäht worden?
Sein ganzer Körper schmerzte, aber die Stiche in seinem Kopf, den Rippen und der Hand waren am schlimmsten. Da waren Geräusche, das Murmeln von Wasser. Er stöhnte und bekam Sand in den Mund. Er rollte sich auf den Rücken, betastete mit seiner gesunden Hand die Augen und spürte etwas Verkrustetes, Klebriges. Getrocknetes Blut. Er rieb es weg und konnte seine Augen einen Spalt öffnen.
Über ihm schimmerten verschwommen Mond und Sterne am pechschwarzen Himmel.
Ich lebe also.
Einen Moment wusste er nicht, wo er war oder was ihm zugestoßen war. Er leckte sich die Zähne und die verschorften Lippen, schmeckte Salz und Eisen und spuckte Blut in den Sand.
Nicht nur mein Blut.
Er erinnerte sich an den Schmerzensschrei eines Mannes. Ein Bild stieg in seiner Erinnerung hoch, eine riesige Faust, die auf ihn zuschoss.
Und dann kehrte die ganze Erinnerung wie nach einem Dammbruch zu ihm zurück.
Einar Halbtroll, die Blutgeschworenen …
Er richtete sich auf. Er saß an einem Ufer mit schwarzem Sand, und hinter ihm seufzte der Wind in den Zweigen der Bäume. Tausend Lichter schimmerten von Liga zum Himmel, ein Schein wie von einem ersterbenden Feuer. Sie waren alle hinter den Palisadenwänden der Stadt eingesperrt. Schiffe knarrten an ihren Tauen am Fjord, und der Mond und die Sterne verwandelten das dunkle Wasser in geschmolzenes Silber.
Er berührte die Stellen seines Körpers, die am meisten schmerzten. Seine Rippen. Er fuhr mit der Hand über die Wolltunika. Die Haut war nicht aufgeplatzt, sondern schmerzte nur, wenn er sie berührte. Wahrscheinlich hatte er sich ein oder zwei Rippen gebrochen. Dann betrachtete er seine verletzte Hand. Die Knöchel waren violettschwarz wie die Nacht und angeschwollen. Eine Faust konnte er nicht ballen, der Schmerz und die Schwellung hinderten ihn daran. Er fuhr sich mit der gesunden Hand über das Gesicht. Eine Platzwunde über seinem Auge, verkrustetes Blut, die ganze Seite seines Gesichts war geschwollen, und sein Kiefer pochte vor Schmerz. Ein Zahn war locker.
Seine Fingerspitzen berührten den Eisenkragen um seinen Hals, und dann durchzuckte ihn Panik.
Der Schlüssel. Mein Umhang!
Er rappelte sich hoch und ignorierte den Schmerz. Hastig tastete er sich ab und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass der Beutel noch an seinem Gürtel hing. Er mühte sich mit der Lederschnur ab und atmete erleichtert auf, als er sah, dass der Inhalt noch vorhanden war.
Aber mein Thrall-Kragen …
Sein Blick fiel auf einen dunklen Schatten auf dem schwarzen Sand. Dort lag sein Wollmantel, ordentlich gefaltet. Er bückte sich, hob ihn auf und untersuchte die versteckten Taschen. In einer befand sich etwas Schweres, Kaltes – das Hackmesser, das ihm der Händler überlassen hatte. In derselben Tasche war auch der Beutel mit den Münzen – unberührt, dem Gewicht nach zu urteilen. Dann fand er den Schlüssel.
Er seufzte auf, dann schob er den Schlüssel in das Schloss, was mit einer Hand schwierig war, bis es schließlich klickte. Der Kragen öffnete sich knarrend an dem verrosteten Gelenk, und er schob ihn zusammen mit dem Schlüssel in die Manteltasche zurück.
Dann taumelte er auf wackeligen Beinen zum Rand des Fjords, kniete sich hin und trank das kalte Wasser aus den hohlen Händen. Es brannte in seiner Kehle und seinem Bauch, schmerzhaft scharf aber erfrischend. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht und versuchte eine Weile, das Blut abzuwaschen. Dann schüttelte er den Kopf, dass die Tropfen durch die Luft spritzten. Schließlich füllte er die Wasserflasche an seinem Gürtel. Als er fertig war, stand er zitternd auf, legte sich ungeschickt den Mantel um die Schultern, befestigte ihn mit der Fibel und ging müde zu den Bäumen zurück.
Er ging einen sanften Hang zwischen den Kiefern hinauf, vielleicht vierzig Schritte, bis er den schimmernden Fjord hinter sich nicht mehr sehen konnte. Das Mondlicht drang durch die Zweige der Bäume und tupfte den Boden mit silbernen Flecken. Er sank auf die Knie und kratzte die Nadeln vom Boden, bis er einen Kreis aus fester Erde freigelegt hatte. Anschließend machte er sich auf die Suche nach Brennholz. Er kehrte mit einer Handvoll totem Holz zurück, legte es auf die freie Fläche, griff nach seinem Zunderbeutel, holte einen Stein und ein Schlageisen heraus, schichtete etwas trockenen Kienspan auf und schlug Feuer. Kurz darauf blies er vorsichtig auf die ersten Funken und fachte sie an, bis Flammen züngelten.
Es war gut, sich zu beschäftigen, weil sich langsam die Verzweiflung in ihm regte.
Er hatte versagt.
Er setzte sich zurück, hielt die Hände über das Feuer, um die Kälte aus seinen Knochen zu vertreiben, und starrte in die Flammen.
Frøya, es tut mir leid.
Jetzt stieg die Trauer in ihm auf, die er bislang tief in seinem Verstand und seinem Herzen vergraben hatte. Die Verzweiflung schien wie eisige Krallen gegen die Wände zu schlagen. Er ließ den Kopf in die Hände sinken, und ein Schluchzen tief in seiner Brust stieg unaufhaltsam in seiner Kehle hinauf. Tränen rollten ihm über die Wangen. Bilder von Frøya erschienen vor seinem inneren Auge. Frøya, seine Schwester, seine einzige Freundin.
Er erinnerte sich weder an seinen Vater noch an seine Mutter. Er wusste nur das, was Kolskegg ihm erzählt hatte, der ihn und Frøya als Kinder gekauft hatte. Kolskegg hatte ihm gesagt, dass Vargs Eltern ihn und Frøya für einen Laib Brot und ein Dutzend Enteneier verkauft hatten, als Varg fünf Winter alt gewesen war und Frøya vier. Sie hatten ihr ganzes Leben als Thralls verbracht und waren einander ihr einziger Trost gewesen, ihre einzige Aufmunterung. Er legte die Hand auf den Beutel an seinem Gürtel.
Und jetzt ist sie tot, und ich weiß nicht, wie ich sie rächen soll.
Nach einer Weile blickte Varg hoch, rieb sich die Augen und zuckte vor Schmerz zusammen.
Aber das ist nicht das Ende!, sagte er sich. Ich bin zu weit gekommen, um jetzt aufzugeben. Es muss doch irgendwo hier in Vigrið einen Galdurmann oder eine Seiðrhexe geben, die mir gegen Bezahlung helfen können. Ich werde sie finden, wo auch immer sie sein mögen. Und wenn ich sie nicht hier in Vigrið finde, dann reise ich über die Walstraße nach Iskidan und suche in allen Zerschmetterten Reichen, bis ich jemanden gefunden habe, der mir hilft. Ich werde weitersuchen.
Er holte bebend Luft und drängte seine Erinnerungen zurück an eine dunkle, tiefe Stelle in seinem Inneren.
Ein Zweig knackte im Wald.
Ohne nachzudenken, sprang er auf und trat auf das Feuer. Funken stoben. Dann stand er da und lauschte in die Dunkelheit.
Er hörte ein leises grollendes Knurren.
Im nächsten Moment brach eine Gestalt aus dem Unterholz, ein Mann, der von einem Hund an der Leine hinter sich hergezogen wurde. Ihm folgten weitere Schatten. Der Hund sprang Varg an.
Der trat rasch zur Seite und stieß den Hund mit dem linken Arm weg. Die Wucht seines Schlages warf ihn zurück, und er prallte gegen einen Baum. Der Hund landete auf dem Feuer. Wieder stoben die Funken hoch, und der Hund jaulte, als sein Fell Feuer fing.
»Hast wohl gedacht, du könntest für immer vor uns weglaufen«, schnarrte eine Frau, die hinter dem Jäger hervortrat und mit ihrem Speer auf Vargs Brust zielte.
Varg stieß sich vom Baum ab und griff in seinen Mantel, während sich der Speer in die Rinde bohrte. Er zog das Hackmesser heraus und hackte auf den Speerschaft, zersplitterte ihn und duckte sich, als die Frau den Schaft des Speeres wie einen Prügel benutzte, um ihm den Schädel einzuschlagen. Varg schlug mit dem Hackmesser zu, die Frau schrie, presste die Hände auf die Rippen und sank auf die Knie.
Der Hund rollte sich jaulend und wimmernd im Feuer. Sein Fell brannte, und der Jäger riss sich hastig den Umhang ab und wickelte ihn um das Tier, um die Flammen zu ersticken. Andere Männer tauchten aus der Dunkelheit auf, mindestens vier, obwohl das in der Dämmerung schlecht zu erkennen war. Aber Varg sah, dass sie alle Speere in den Fäusten hielten. Er blickte sich hastig um und rannte dann zu einer Lücke zwischen den Bäumen. Jemand schlug ihm von hinten gegen die Beine. Er strauchelte, versuchte sein Gleichgewicht zu behalten, stolperte jedoch über eine Wurzel, streckte die Hand aus, um sich abzustützen, und schrie auf, als der Schmerz durch seine verletzte Hand zuckte.
Ein Schlag auf die Schultern schleuderte ihn mit dem Gesicht voran auf die Erde, und er hatte den Mund voller Kiefernnadeln und Dreck. Er rollte sich herum und schlug mit dem Hackmesser zu. Es grub sich in das Bein einer Person, er hörte einen Schrei, und ein Mann stürzte neben ihm zu Boden. Dabei riss er ihm das Hackmesser aus der Hand.
Ein Fußtritt traf Varg gegen die Brust, als er versuchte, sich aufzurichten. Ein anderer Mann setzte seinen Fuß auf sein Handgelenk und hielt ihn am Boden fest. Varg knurrte und versuchte sich herumzurollen. Ein Stoß mit dem Speerschaft erwischte ihn an der Stirn, und er landete auf dem Teppich aus Kiefernnadeln. Blut lief ihm in die Augen. Ein Speerblatt schwebte direkt über seiner Kehle, und ein anderer Mann hatte seinen Fuß auf sein anderes Handgelenk gesetzt, sodass sie ihn jetzt mit ausgebreiteten Armen festnagelten.
Varg blickte keuchend hoch. Das Blut rauschte in seinem Kopf.
»Dachtest wohl, ich würde dich nicht finden.« Das Gesicht des Mannes, der vor ihm stand, wurde von dem flackernden Feuer in Schatten und Flammen getaucht. Er war breitschultrig und hatte einen schwarzen Bart. Eine Narbe verzerrte seine Lippen zu einer dauerhaft höhnischen Grimasse.
»Leif!«, stieß Varg hervor. »Du hättest mir nicht folgen sollen.«
»Ha!«, knurrte Leif. »Du hättest schneller und weiter laufen müssen, um dich vor mir zu verstecken, nach dem, was du meinem Vater angetan hast. Hast ihn abgeschlachtet, als wär er ein Stück Vieh. Ich habe ihn nur an seiner Halskette erkannt.«
Varg konnte sich nicht daran erinnern. Das alles lag unter einem roten Nebel, und er war erst zur Besinnung gekommen, nachdem er Snepil zu Tode gewürgt hatte. Da hatte er sich zurückgelehnt, benommen und umgeben von Blut und Gemetzel.
»Du hast deinen Kragen verloren, Varg der Thrall«, stellte Leif fest.
»Ich bin kein Thrall.« Varg keuchte vor Schmerz. »Dein Vater hat mich betrogen. Ich habe mir die Freiheit verdient, und dein Vater hat seinen Schwur gebrochen. Ich bin ein Freigelassener, nicht anders als du.« Einer der Männer, die Varg am Boden festhielten, trat ihm ins Gesicht. Er spuckte Blut.
Leif lachte.
»Du bist Varg der Thrall, und jetzt bist du mein Thrall. Du gehörst mir, Leif Kolskeggson, dem Sohn des Mannes, den du ermordet hast.« Leif warf einen Blick auf einen der Männer neben ihm. »Legt diesem Hund das Halsband und die Kette an.« Er fuhr mit der Speerspitze über Vargs Brust und seine Rippen, und Blut quoll hervor. »Ich werde dich bluten lassen, aber der Tod wäre viel zu freundlich für dich«, versprach Leif. Er rammte seinen Speer in den Boden und hockte sich neben Varg, suchte ihn nach Waffen ab. Metall klirrte, und Leif griff in Vargs Mantel und zog den Beutel mit Münzen heraus.
»Zweifellos hast du die meinem Vater gestohlen.« Er spuckte Varg ins Gesicht. »Ich kette dich an mein Pferd und schleife dich den ganzen Weg zu meinem Gehöft zurück«, sagte er drohend. Seine Stimme zitterte vor Wut. »Dort wirst du die Peitsche zu spüren bekommen, bis du nicht mehr stehen kannst. Ich will deine Knochen sehen. Und dann wirst du weiterarbeiten. Für mich. Du wirst mir für den Rest deines stinkenden, elenden Lebens Münzen einbringen.«
Varg wand sich auf dem Boden, und es gelang ihm, eine Hand freizubekommen. Daraufhin regneten Tritte auf ihn herab, und er rollte sich zusammen, bis er keuchend liegen blieb.
»Mein Bein!«, wimmerte jemand neben ihm. Es war der Mann, den Varg mit seinem Hackmesser getroffen hatte. Die Klinge steckte immer noch in seinem Bein.
»Dieser dreckige Thrall hat mir die Rippen gebrochen.« Das war die keuchende Stimme der Frau, die an einen Baum gelehnt saß und eine Hand auf die schwarz glänzende Wunde in ihrer Seite presste. Leif stand auf, ging zu dem Mann, bückte sich, packte den hölzernen Handgriff des Hackmessers und riss ihn einfach aus dem Bein des verletzten Kriegers. Der schrie schrill vor Schmerz. »Orl, kümmere dich um ihre Verletzungen!«, befahl er dem Mann, der immer noch nah am Feuer saß und seinen Hund streichelte. Die Flammen waren mittlerweile gelöscht, und das Fell war geschwärzt. Der Hund wimmerte leise. Orl stand auf, ging zu dem verletzten Mann und der Frau und warf Varg im Vorbeigehen einen bestürzten Blick zu. Er war alt, sein graues Haar war dünn und matt, und er trug einen eisernen Kragen um den Hals.
»Du hast mein altes Mädchen verletzt«, murmelte er Varg zu, als er ein Messer zog und sich neben die verletzte Frau hockte. Er schnitt ihre Tunika auf und säuberte ihre Wunde. Der Hund humpelte hinter ihm her.
Leif wog das Hackmesser in der Faust.
»Du hast meinen Vater ermordet«, sagte er und schlug mit dem Hackmesser durch die Luft. »Und zwei andere Freigelassene getötet.« Erneut zischte das Hackmesser durch die Luft. »Und jetzt hast du zwei von meinen Herdkarls verletzt.« Er deutete mit dem Hackmesser auf Varg. »Ich werde jetzt schon mal einen Teil deiner Strafe vollstrecken, denke ich. Damit du etwas hast, worüber du auf dem Weg zu meinem Gehöft nachdenken kannst.« Er sah die beiden Männer an, die Varg immer noch am Boden hielten. »Packt seinen Arm und haltet ihn fest.«
Varg starrte Leif an und dann die beiden Männer. Einer packte seine Hand, und der andere bog ihm den anderen Arm auf den Rücken.
Er will mir die Hand abhacken.
Varg wehrte sich gegen die Männer, schlug um sich und wand sich nach Kräften, aber der Mann hinter ihm hielt ihn fest. Ein heißer Schmerz durchzuckte seine Schulter, und sein Arm war kurz davor zu brechen. Er brach keuchend auf dem Boden zusammen.
»Keine Sorge, wenn wir zu Hause sind, wird dir Orl eine Hand aus Holz schnitzen, damit du weiter auf dem Hof arbeiten kannst«, höhnte Leif.
In dem Moment knackten hinter ihm Zweige. Leif hielt inne, und alle blickten in die Dunkelheit.
Ein Mann trat aus dem Wald, ein großer und breitschultriger Mann. Er war kahlköpfig, hatte einen grauen Bart, und sein Kettenhemd schimmerte im Mondlicht. Er hielt eine langstielige Bartaxt mit beiden Händen wie einen Stab. Hinter ihm bewegten sich Schatten, schwarze Flecken in der Dunkelheit. Dann tauchte die silberhaarige Frau auf, flankiert von zwei Wolfshunden. Sie knurrten, und ihre Nackenhaare waren gesträubt.
»Lasst ihn los«, sagte der Graubart.
Leif hob das Hackmesser hoch in die Luft.
Der Krieger bewegte sich schneller, als Varg ihm mit den Augen hätte folgen können. Im nächsten Moment krümmte sich Leif, und das Hackmesser fiel zu Boden. Die Männer, die Varg festhielten, griffen nach ihren Speeren und stachen auf den Graubart ein, während Leif auf den Knien hockte und sich würgend übergab.
Die Wolfshunde griffen an. Sie packten einen der Männer mit ihren Kiefern am Arm und am Bein und zerrten ihn zu Boden.
Es krachte, und das Unterholz teilte sich, als Einar Halbtroll auftauchte. Sein Schlag fegte einen von Leifs Männern durch die Zweige, und er verschwand im Dunkel. Eine andere Gestalt zischte an dem Graubart vorbei. Es war Svik, der schlanke Rothaarige, der zuerst mit Varg gesprochen hatte. Sein Gesicht war verzerrt, und das kalte Eisen des Scramasax in seiner Faust glänzte. Er wich einem Speerstoß aus, trat dichter an den Krieger heran und fuhr mit dem Dolch über den Speerschaft. Der Krieger brüllte, und seine abgetrennten Finger fielen auf den Boden, gefolgt von dem Speer. Der Rothaarige packte den schreienden Krieger an seiner Wolltunika, zog ihn heftig zu sich und hämmerte ihm die Stirn ins Gesicht. Der Mann kippte gurgelnd um.
Dann hörte man auf der Lichtung nur noch heftiges Keuchen, das Seufzen des Windes in den Bäumen und das Stöhnen von Leif. Varg starrte die gefallenen Männer an, zu verwirrt, um sich zu rühren. Leif hockte immer noch auf Händen und Knien und presste eine Hand auf seine Lenden. Speichel tropfte aus seinem Mund. Orl saß an dem Baum und hatte die Augen weit aufgerissen. Seine Hündin knurrte die Neuankömmlinge an.
Svik trat zu Orl und knurrte die Hündin an. Es war ein tiefes, animalisches Geräusch, und Orls Hündin klemmte den Schwanz zwischen die Beine, wimmerte und presste sich dicht an Orl.
Svik lachte, als er sich das Blut von der Stirn und seinem Haarzopf strich.
Der Graubart trat an Leif vorbei und stellte sich neben Varg.
»Er … gehört mir!«, stammelte Leif. »Das ist mein Thrall, er gehört mir mit dem Recht des Blutgelds. Er muss sich für … den Mord verantworten.«
»Nein.« Die Stimme des Graubarts klang harsch. »Er ist jetzt ein Blutgeschworener.«