VARG
Varg stand im Heck der Seewolf, hinter Torvik und einer Handvoll anderer Krieger. Hinter ihm scharten sich noch weitere Krieger und drängelten und lachten und sangen, als einige Gestalten über das Dollbord auf der Steuerbordseite stiegen und den Riementanz tanzten. Sie sprangen von einem Riemen zum nächsten, während die Seewolf in einen Fjord mit steilen Felswänden ruderte. Einen Sommersturm zu überleben schien nach Ansicht der Blutgeschworenen wohl eine Feier wert zu sein. Und Varg stimmte ihnen zu. In seiner Magengrube spürte er immer noch ein schwaches Echo der Furcht, die er empfunden hatte, als die Wogen sich aufgetürmt hatten und aus dem von Blitzen durchzuckten Himmel ein derartig starker Wolkenbruch auf sie niedergegangen war, dass er nicht einmal seine Hand vor Augen hatte sehen können. Er war sich sicher gewesen, dass der Tod unausweichlich war, und Bruchstücke von Erinnerungen hatten sich in seinen Kopf gebrannt wie die flammenden Blitze, die durch den Himmel über ihm zuckten. Einars gebrüllte Befehle, die undeutliche Gestalt von Glornir, der sich am Hauptsegel festgezurrt hatte, damit er die Ruderpinne halten konnte, ohne über Bord geschleudert zu werden. Jetzt jedoch war der Himmel klar, als hätte es den Sturm nie gegeben. Die Luft war frisch, und die Sonne versank hinter dem Rand der Welt und tauchte den jetzt ruhigen Ozean und den Fjord in geschmolzene Bronze.
Torvik kletterte auf das Dollbord, warf einen Blick auf Varg und die anderen zurück und sprang auf den ersten Riemen. Dort stand er einen Moment schwankend, dann fand er seine Balance und sprang auf den nächsten Riemen. Seit Liga waren erst zwei Tage vergangen, aber für Varg fühlte es sich wie ein ganzes Leben an.
Wie ein neues Leben, als wäre ich neu geboren.
Seine Hände waren wund und hatten Blasen vom Rudern und der scheinbar unendlichen Arbeit mit vom Seewasser durchnässten Tauen. Sein Gesicht war rot und von der Sonne verbrannt, seine Kleidung feucht von dem Sturm, der überraschend und sehr schnell aus dem Norden heraufgezogen war, und doch fühlte er sich … glücklich. Es war ein sonderbares Gefühl, wo er doch sein ganzes Leben lang nur Plackerei und Elend gekannt hatte. Das einzige Licht in seinem Leben während dieser langen Jahre der Sklaverei war Frøya gewesen. Als er an sie dachte, verspannte er sich kurz, und das Gefühl des Glücks vermischte sich mit Schuldbewusstsein. Er erinnerte sich daran, weshalb er hier war, an den Eid, den er geschworen hatte – ihre Leiche zu finden und den Mord an ihr zu rächen. Die Mörder seiner Schwester zu zerfetzen. Er hatte es geschworen, als er blutüberströmt über Kolskeggs noch warmem Leichnam gestanden hatte, und dieser Schwur schwebte jetzt wie ein schwarzer Rabe in seinem Verstand und seinem Blut, krächzte ihm zu, dass die Zeit verstrich.
Ich habe dich nicht vergessen. Und ich werde dich niemals vergessen. Mein Eid bleibt bestehen, ich werde ihn erfüllen. Aber wenn ich auf diesem Pfad einige Momente der Freude erlebe oder Freunde finde, ist das so schlecht? Sollte es sich wirklich so … falsch anfühlen?
»Du bist dran, Hirnlos«, sagte jemand hinter ihm. Svik schob ihn nach vorn, und Varg blinzelte, schüttelte sich und sah, dass jetzt niemand mehr zwischen ihm und dem Dollbord war. Er sprang auf das Brett und blieb dort einen Moment stehen. Etwa die halbe Mannschaft ruderte die Seewolf, dreißig Riemen hoben und senkten sich, die andere Hälfte nahm an dem Riementanz teil. Vor ihm sprang Torvik von Riemen zu Riemen, grinste und jubelte. Varg holte tief Luft und sprang auf das erste Ruder. Er hatte den Sprung so angesetzt, dass es sich senkte, als er landete. Schnell spreizte er die Füße und beugte die Knie, als das Ruder sich hob. Er spürte den Wind, ruderte mit den Armen, und dann war er stabil, stand auf dem Riemen und grinste.
»Nun lauf schon los!«, schrie Svik. Der Krieger stand jetzt auf dem Dollbord und wartete darauf, auf den ersten Riemen zu springen. Varg grinste, stieß sich ab, landete mit dem linken Fuß auf dem nächsten Riemen. Der senkte sich, er stieß sich erneut ab, sprang auf den nächsten und bewegte sich weiter, als wären die Riemen Trittsteine über einen Fluss, die zu klein waren, um sie mit beiden Füßen zu betreten.
Vor ihm ertönten ein Schrei und ein lautes Platschen. Varg sah, wie Torvik in der eisblauen Umarmung des Fjords verschwand und in einer Explosion von sonnenglänzender Gischt wieder auftauchte. Varg sprang weiter, über die gesamte Steuerbordseite des Schiffs, bis er das Dollbord vor dem Bug erreichte. Vol, die Seiðrhexe, saß an ihrem üblichen Platz am Bug und lächelte ihm zu. Einer von Edels Wolfshunden lag hechelnd da und beobachtete Varg, stieß ihn mit der Schnauze an, damit der ihn kraulte. Er tat es rasch und sprang dann auf der Backbordseite zurück. Er rutschte mit einem Fuß aus, doch dann sprang er wieder und flog durch die Luft, scheinbar gewichtslos, und landete mit einem Knall auf dem ersten Riemen. Er sah das Aufblitzen von Zähnen in einem dichten Bart, als Jökul, der Schmied, Varg über den Riemen hinweg angrinste.
Varg erwiderte das Grinsen, bog die Knie und sprang weiter. Es gab viele Dinge, die er in seiner kurzen Zeit mit den Blutgeschworenen gelernt hatte, den Umgang mit Schild und Speer unter der gnadenlosen Anleitung von Røkia, die Kunst zu segeln von so ziemlich jedem, aber einige Fähigkeiten beherrschte Varg ganz natürlich und brauchte keine Unterweisung darin. Ausdauer, Entschlossenheit und eben ein guter Gleichgewichtssinn. Er war behände auf den Füßen. Auf Kolskeggs Gehöft hatte Varg an dem Baumlauf während der Winternacht-Feier teilgenommen, die der Ernte folgte. Dort hatte jeder, der sich traute, einen Fluss voller gefällter Baumstämme überqueren müssen, die sich unter den Füßen drehten und schaukelten. Es war schon vorgekommen, dass Frauen und Männer während dieses Wettkampfes zermalmt wurden oder ertranken, aber Varg hatte ihn seit seinem ersten Versuch jedes Jahr gewonnen. Damals hatte er erst elf Winter gesehen. Also genoss er auch diesen Wettkampf und schnitt weit besser ab als viele andere Blutgeschworene, was die Schreie und das laute Platschen um ihn herum deutlich bewiesen.
Das Heck war bereits in Sicht, und nur noch eine Handvoll Riemen hoben und senkten sich zwischen ihm und Glornir, der an der Pinne stand. Varg landete auf einem Riemen und beugte die Knie, um mit den Bewegungen des Ruders zu gehen, aber es ruckte plötzlich unter ihm und sank, obwohl es sich hätte heben sollen. Er ruderte mit den Armen, balancierte einen Herzschlag lang, doch dann rutschte sein Fuß ab, und er stürzte. Varg erhaschte einen kurzen Blick auf einen struppigen roten Bart über dem Ruderloch und das Grinsen von Einar Halbtroll. Dann landete er im Wasser.
Es war eiskalt und raubte ihm den Atem. Er versank, drehte sich um, schlug kurz um sich, weil er nicht wusste, wo oben und wo unten war. Er stieß Luft aus und verfolgte den Weg der Luftblasen, dann tauchte sein Kopf aus dem Wasser auf, und er rang nach Luft.
Der Rumpf der Seewolf glitt weiter, und Glornir steuerte das Schiff auf eine flache Uferstelle des Fjords zu. Ein paar Krieger sprangen immer noch über die Riemen, unter ihnen Svik. Varg schwamm ans Ufer, zusammen mit einem Dutzend anderer Blutgeschworener.
Schreie von der Seewolf drangen zu ihnen herüber, und der Ankerstein wurde in seinem Holzrahmen über das Dollbord gewuchtet und über Bord geworfen. Glornir bekam lieber nasse Füße, als den Rumpf am Ufer des Fjords zu zerkratzen. Blutgeschworene sprangen über Bord und platschten ans Ufer, als Vargs Füße den Boden berührten und er ebenfalls zum Strand watete. Jemand tauchte am Ufer auf und wartete auf ihn.
Røkia, mit Schild und Speer in den Händen.
Varg schüttelte den Kopf, als er aus dem Wasser auftauchte. Ein Windstoß fegte über ihn hinweg, und er zitterte trotz der Wärme der untergehenden Sonne.
»Das ist nicht dein Ernst, oder?«, sagte Varg zu ihr. »Ich bin nass bis auf die Knochen, und zwar unverdientermaßen, möchte ich hinzufügen, weil Einar Halbtroll mich von seinem Riemen geworfen hat.«
»Ich bin immer ernst«, erwiderte Røkia mit unbewegtem Gesicht.
Das ist wahr, dachte Varg und seufzte. »Gib mir ein paar Minuten, damit ich meine Tunika und meine Hose wechseln kann und sie in der Sonne trocknen können, solange sie noch scheint.«
»Ha! Genau das habe ich von einem Krieger ohne Hirn erwartet«, gab Røkia zurück. »Glaubst du wirklich, dass dein Feind gütigerweise darauf wartet, bis du deine Füße oder deinen Arsch getrocknet hast, wenn sie dich in einem Fjord oder bei einem Fluss angreifen? Nein, sie stürzen sich wie die Wölfe auf dich und versuchen, dich in kleine Stücke zu hacken, weil sie ihren Vorteil ausnutzen wollen, dass du unvorbereitet bist. Du musst lernen, unter den schlimmsten Bedingungen zu kämpfen und zu überleben, nicht unter den besten.«
»Das habe ich mein ganzes Leben lang gemacht«, murmelte Varg leise.
Røkia warf ihm seinen Schild zu und ging davon. Entweder hatte sie seine Worte nicht gehört, oder sie ignorierte sie geflissentlich. Varg fing den Schild auf, bevor er ihm die Zähne ausschlagen konnte, und trottete hinter ihr her. Wasser tropfte von seinen nassen Kleidern auf das Gras der Uferböschung. Er sah Svik, der auf dem Dollbord der Seewolf mit erhobenen Armen einen Freudentanz aufführte.
Er muss den Riementanz gewonnen haben.
Røkia drehte sich wieder um und warf ihm diesmal seinen Speer zu, den er geschickt auffing. Das Lederfutteral war über dem Blatt befestigt.
»Komm und töte mich«, forderte Røkia ihn auf. Sie lächelte kalt, als sie den Schild hob und ihre Füße spreizte.
Rauch von Holzfeuer drang ihm in die Nase, als die Kochfeuer entzündet wurden und eiserne Töpfe für das Abendessen darüber gehängt wurden. Er hörte das Knistern von Butter, das in Pfannen brutzelte. Vargs Magen knurrte.
Er seufzte, ließ die Schultern hängen, holte dann tief Luft und straffte sich.
Wenn der einzige Weg zum Essen darüber führt, dass Røkia mich vorher verprügeln darf, dann sollte ich es lieber hinter mich bringen.
Er hob den Schild und überprüfte den Griff seines Speeres, wie Røkia es ihn gelehrt hatte. Sie waren erst ein paar Tagesreisen von Liga entfernt, aber Røkia hatte ihm jede Nacht Schild und Speer in die Fäuste gedrückt und seine Ausbildung fortgesetzt. Zuerst hatte sie ihn Schildarbeit gelehrt und ihm gezeigt, wie man einen Schild nicht nur zur Verteidigung, sondern auch als Waffe benutzen konnte, und zwar sowohl mit dem eisernen Buckel als auch mit dem von einer Tierhaut umspannten Rand. In der zweiten Nacht hatte sie ihm einen Speer in die Hand gedrückt und ihm die beiden wichtigsten Griffhaltungen gezeigt. Jetzt näherte er sich Røkia mit einem Überhandgriff, bei dem der Schaft nach unten gerichtet war und das Blatt auf ihren Schildbuckel zeigte. Dadurch hatte er eine größere Reichweite als beim Untergriff, mit dem Røkia ihren Speer gepackt hielt. Obwohl er wusste, dass sein Überhandgriff schwächer war.
Es ist besser, die größere Reichweite zu nutzen, wenn ich mich ihr nähere, denn dadurch habe ich die Chance, sie zu verletzen, bevor ich in Reichweite ihrer Schläge komme.
Røkia brummte, als er näher kam, und er nahm das als Billigung seiner Entscheidung. Dann griff er sie an, zielte auf ihre Schultern, ihre Beine und versuchte eine Lücke an ihrem Schild vorbei zu erblicken.
»Seitenschritte«, warf sie ihm über den Schildrand hinweg zu. »Du wirst keine Lücke finden, wenn du mich frontal angreifst wie ein alter Keiler!«
Varg hörte auf sie, ging nach links, nach rechts, stieß dabei ununterbrochen weiter zu, und seine Stöße hätten beinahe getroffen. Aber nur beinahe; letztlich endeten sie immer mit dem dumpfen Knall seines in Leder gewickelten Speerblattes auf ihrem in Leinen gewickelten Schild. Dann griff Røkia an. Sie benutzte ihren Untergriff, um seinen Speer mit ihrem wegzuschlagen. Dann trat sie noch dichter an ihn heran, und ihre Klinge fand eine Lücke und fuhr über seine Brust. Ihr kantiges Gesicht war so nah, dass er den Apfel und die Zwiebeln in ihrem Atem riechen konnte.
»Du hast jetzt eine Verletzung«, sagte sie, lächelte ihn an und rammte ihren Schild in seine Brust. Er trat einen Schritt zurück und stolperte über ihren Fuß, den sie hinterlistig hinter seinen gesetzt hatte. Dann saß er mit dem Hintern im Gras und blickte zu ihr hoch. Ihre in Leder gewickelte Klinge lag an seiner Kehle.
Diese Position kannte er mittlerweile sehr gut.
»Ein guter Anfang«, sagte sie. »Aber als du mich nicht treffen konntest, hättest du zurückweichen und deinen Griff wechseln müssen. Und hör nie auf zu kämpfen, bis einer von uns beiden tot ist. Ich habe dich zwar mit meinem Schlag verwundet, aber er wäre nicht tödlich gewesen. Jedenfalls nicht sofort.«
Sie hielt ihm den Arm hin und zog ihn hoch.
»Noch mal«, sagte sie.
Varg stand in einer Reihe der Blutgeschworenen, einen Napf in der Hand. Es war mittlerweile dunkel, da die Sommersonne schon lange am Horizont verschwunden war. Am Himmel funkelten weit verstreut die Sterne. Er hatte seine von Schweiß und Fjordwasser durchtränkte Kleidung gegen eine frische Tunika und eine frische Hose aus seiner Seekiste getauscht. Herdfeuer flackerten und ließen die Schatten tanzen. Man hörte die Wellen des Fjords, die an den Strand schlugen, und das Knarren der Seewolf im Wasser. Schließlich erreichte er den Topf über dem Feuer und löffelte sich Fischeintopf in seinen Napf. Dann drehte er sich um und ging davon, suchte sich eine Stelle, wo er sitzen konnte. Er sah Svik, der sich bückte und mit Einar Halbtroll sprach. Der Mann war fast so groß wie der Felsbrocken, an dem er lehnte. Svik zog einen Laib Brot unter seinem Umhang hervor und gab ihn Einar. Dann setzte er sich zu dem großen Mann.
»Gratuliere zu deinem Sieg auf den Riemen«, sagte Varg zu Svik, als er sich ihnen näherte.
»Gute Reflexe, das ist alles.« Svik lächelte und nickte Varg zu. »Und ich werde nicht gern nass«, fügte er hinzu, »weil das meinen Bart ruiniert. Deshalb habe ich leichte Füße und eine ausgezeichnete Balance gelernt.«
»Darum brauche ich mir keine Sorgen zu machen.« Varg rieb sich den Kopf und das Kinn. Obwohl er zu seiner Überraschung feststellen musste, dass seine Stoppeln gewachsen waren. Sie kratzten nicht mehr in seiner Handfläche.
»Nein, noch nicht, aber er wird wachsen«, sagte Svik ernst. »Schon bald hast du genauso schönes Haar wie ich. Du warst gut auf den Riemen, und es ist schade, dass du … ausgerutscht bist.«
»Ich bin nicht ausgerutscht, ich wurde ins Wasser geworfen!«, knurrte Varg. Er konnte es sich nicht verkneifen, Einar anzusehen. »Was du sehr wohl weißt.« Er blickte vielsagend auf den Laib Brot, von dem Einar Brocken abriss. »Und was auch Einar weiß.«
»Ich mag Brot«, knurrte Einar.
»Sind wir jetzt quitt?«, fragte Varg den Hünen.
»Nein.« Einar sah Varg nicht an. Stattdessen riss er noch ein Stück Brot von dem Laib ab, den Svik ihm gegeben hatte, tauchte ihn in seinen Fischeintopf, lutschte daran und sah dann langsam zu Varg hoch. »Du bist nass geworden, aber wie ich sehe, bist du schon wieder trocken. Ich dagegen kann deine Zähne immer noch an den Eindrücken in meinem Bein zählen, und das für den Rest meines Lebens.«
»Es war ein ehrlicher Kampf«, erwiderte Varg ungerührt.
»Das ist ein gutes Argument, Halbtroll«, mischte sich Svik ein. »Du hast immerhin versucht, ihm die Knochen mit deinen Fäusten zu zermalmen.«
»Pah, ich habe mich zurückgehalten«, widersprach Einar beleidigt. »Ich war sogar freundlich. Ich habe ihm gesagt, er solle liegen bleiben, und wie hat er mir meine Freundlichkeit zurückgezahlt? Indem er mich gebissen hat.« Er verzog das Gesicht. »Ich werde nicht gerne gebissen.«
»Dessen bin ich mir jetzt vollkommen bewusst«, versicherte Varg ihm. »Ich schwöre dir, dass ich nie wieder meine Zähne in dich schlagen werde.«
»Hmmm«, brummte Einar, und seine Brauen zuckten. Varg glaubte fast zu sehen, wie die Gedanken in Einars Hirnkasten arbeiteten, während er über Vargs Worte nachdachte. Erneut brummte Einar, riss ein Stück Brot von seinem Laib ab und hielt es Varg hin.
»Dann setz dich und iss«, sagte er.
»Danke.« Varg vermutete, dass das wahrscheinlich einem Waffenstillstand am nächsten kam. Er setzte sich gerade neben Einar, als Torvik auftauchte und sich zu ihnen gesellte.
»Ich habe gehört, dass Einar dich in den Fjord geworfen hat«, sagte der junge Kundschafter- und Schmied-Lehrling mit einem breiten Grinsen.
Varg blickte von Torvik zu Einar. »Ich bin … ausgerutscht.«
Einar nickte und brummte, wie Varg glaubte, zustimmend.
Torvik betrachtete die drei.
»Du bist also auf Einars Riemen ausgerutscht, wie auch eine ungewöhnlich hohe Zahl der anderen, und Svik hat gewonnen«, meinte Torvik. Dann brummte er nachdenklich.
Varg saugte schlürfend an seinem Brot.
»Es stimmt, ich bin vom Glück gesegnet.« Svik zwirbelte seinen roten Schnauzbart. »Außerdem bin ich ein bemerkenswerter Riementänzer. Was soll ich sagen? Etwas Brot für deinen Fischeintopf?« Svik hielt Torvik lächelnd einen Brocken hin.
»Ich habe gehört, dass Schädelspalter auch ein bemerkenswerter Riementänzer war«, sagte Torvik und nahm das Brot von Svik an.
»Schädelspalter?« Svik hob eine Braue. »Nein, der Häuptling war groß und schwer wie ein Bär. Auf den Riemen zu tanzen war nicht gerade eine seiner besonderen Fähigkeiten. Schädel mit einer Bartaxt zu spalten dagegen …«
»Wie ist ein Krieger wie er gefallen?«, murmelte Torvik. »Ich habe gehört, es war bei einem Schiffskampf, bei dem er in seinem Brynja vom Dollbord der Seewolf gestürzt und ertrunken ist.« Torvik schüttelte den Kopf.
»So ist es.« Sviks Miene war ungewöhnlich melancholisch. Dann seufzte er. »Es war wahrhaftig eine harte Schlacht.« Er sah sich im Lager um, wo die Blutgeschworenen ihr Abendessen einnahmen. »Und wenn ich du wäre«, fuhr Svik leiser fort, »würde ich nicht so laut von Schädelspalters Sturz sprechen, wenn Glornir in der Nähe ist. Er betrauert immer noch den Tod seines Bruders. Dieser Kummer lastet schwer auf seinen Schultern.«
Torvik nickte.
Dann ertönten laute Schritte, und das Murmeln der Gespräche verstummte. Glornir ging zum Herdfeuer, begleitet von Vol und Skalk, Königin Helkas Galdurmann. Letzterer hatte seinen knotigen Stock in der Faust. Die beiden Krieger aus dem Gefolge der Königin begleiteten ihn. Ihre schönen Brynjur glänzten. Varg hatte herausgefunden, dass der Mann Olvir hieß. Er hatte eine Narbe auf einer Braue, was seine Augenpartie irgendwie verschob. Die Frau, Yrsa, hatte ein stolzes Gesicht und schmale Lippen. Sie trugen beide Schwerter an den Hüften und dunkle Umhänge über den Schultern. Beide wurden von silbernen Spangen in Form von Adlerschwingen gehalten. Sie folgten Skalk, wo immer er hinging. Varg hatte gesehen, wie sie auf den Ruderbänken gerudert und während des Sturms eifrig Wasser geschöpft hatten.
»Hört, Blutgeschworene«, sagte Glornir, als er neben dem Herdfeuer stehen blieb. »Für die, die es nicht wissen, das ist Skalk, berühmter Skalde und Galdurmann von Königin Helka. Er hat uns etwas zu sagen, was unsere Aufgabe angeht.«
Varg betrachtete Skalk genauer. Er war ein großer Mann mit einem ehrlichen Gesicht, und er hatte viele Lachfalten um die Augen. Seine breiten Schultern, die mächtige Brust und überhaupt seine ganze Haltung wiesen eher auf einen Krieger hin, nicht auf einen Zauberer.
Aber er ist ein Galdurmann … Ich könnte ihn bitten, eine Akáll durchzuführen und mir damit viel Zeit ersparen. Wer weiß schon, wann Glornir zufriedengestellt ist und findet, dass ich mich bewiesen habe?
»Es ist immer gut zu wissen, was vor einem liegt, stimmt’s?« Skalk nickte und lächelte die Blutgeschworenen an. »Also werde ich euch sagen, warum meine Königin euch gedungen hat, und was ich von der Aufgabe weiß, die euch gestellt wurde. Wir segeln zur Quelle des Flusses Slågen, der in diesen Fjord mündet.« Er deutete auf das dunkel schimmernde Wasser des Fjords hinter ihnen, das im Sternenlicht funkelte. »Dieser Fluss wird uns ins Vorgebirge des Knochenmassivs bringen, an der nordwestlichen Grenze der Ländereien meiner Königin. Irgendetwas oder jemand dort tötet das Volk meiner Königin.«
»Ein lüsterner Widder oder eine empörte Ziege vielleicht!«, rief Svik unter dem Gelächter der Umstehenden. »Wir alle kennen die Geschichten über die Einsamkeit der Menschen, die dort im Schatten des Knochenmassivs leben; wir wissen durchaus, was das aus einem Mann machen kann.«
»Die Angelegenheit ist nicht zum Lachen«, erwiderte Skalk und starrte Svik finster an. »Nicht, wenn es deine Familie ist, die … verzehrt wird. Zuerst verschwinden Menschen von Gehöften und entlegeneren Orten. Wir dachten zunächst, es wären Jarl Störrs Männer, die auf Raubzug jenseits des Flusses gehen.« Seine Miene verfinsterte sich noch mehr, als er den Namen des Jarls aussprach, und Feuer glomm kurz in seinen Augen auf. »Das Gebiet hat eine gemeinsame Grenze mit dem Land von Jarl Störr, und obwohl Friede zwischen dem Jarl und meiner Königin herrscht«, er sah sich um und lächelte wissend, wobei er weiße Zähne unter seinem blonden Bart zeigte, »wissen wir auch, dass ein Jarl seine Drengr die Kunst des Krieges durch Raubzüge lehrt.« Etliche Krieger unter den Blutgeschworenen nickten, und es erschien Varg, als würden sie sich an ihre eigene Vergangenheit erinnern.
»Aber dann fanden wir jene, die verschwunden waren«, fuhr Skalk fort. »Genauer, wir fanden Teile von ihnen. Sie wurden gefressen. Oder zumindest einige von ihnen.« Er schüttelte den Kopf. »Eine Königin muss ihr Volk beschützen, also musste etwas unternommen werden. Aber die Hirðskrá der Königin ist an ihren Grenzen verteilt, und deshalb hat sie an euch gedacht. An die Blutgeschworenen, deren Ruf weithin bekannt ist, und sie hörte auch, dass ihr gerade in ihrem Land wart, in Liga.«
Er breitete die Arme aus und lächelte wieder. »Vaesen treiben in Königin Helkas Reich ihr Unwesen, sie töten und fressen ihr Volk, und sie müssen aufgehalten werden.«
»Was für Vaesen?«, rief jemand. Varg sah, dass es Røkia war.
Skalk zuckte die Schultern. »Das weiß ich nicht. Es gab keine Zeugen. Ich nehme an, ein Vaesen mit großen Zähnen und langen Krallen, den Bissspuren und den Wunden an den Resten, die wir gefunden haben, nach zu urteilen. Trolle, oder Huldra-Volk oder vielleicht sogar Vittor oder Kobolde? Ich weiß es nicht. Aber was auch immer es ist, ich vermute stark, dass es mehr als nur ein oder zwei von ihnen gibt.«
»Wie viele Tote habt ihr gefunden?«, rief Svik.
Skalk sah ihn an.
»Du verstehst sicher, dass das schwer zu sagen ist«, meinte er dann. »Hier ein Bein, dort einen Arm, irgendwo anders nur ein Blutfleck.« Er blickte zu den Sternen empor. »Vielleicht dreißig.«
Die Blutgeschworenen murmelten untereinander.
»Das sind viele Tote, was höchstwahrscheinlich heißt, viele Vaesen«, sagte eine neue Stimme, leise und weich. Es war Vol, die neben Glornir stand. »Sie müssen von jenseits des Knochenmassivs gekommen sein, was bedeutet, sie haben einen Weg am Grimholt vorbei gefunden. Sie sind an euren Wachtürmen vorbeigekommen. Wie ist das möglich?«
Skalk drehte sich um und starrte Vol finster an. Seine Augen waren plötzlich kalt und hart.
»Ich bin es nicht gewohnt, die Fragen einer Thrall zu beantworten«, sagte er, »oder ihre Kritik zu hören.«
Glornir richtete sich auf, und Varg spürte, wie sich die Atmosphäre um ihn herum veränderte. Plötzlich lag Spannung in der Luft, und die Haare auf seinen Armen richteten sich auf.
»Das ist keine Kritik«, gab Vol zurück. Sie sprach langsam und ignorierte Skalks Beleidigungen. »Nur eine Beobachtung. Falls Vaesen einen Weg durch das Knochenmassiv gefunden haben …«
»Ich habe mich wohl nicht klar ausgedrückt«, unterbrach Skalk sie und musterte Vol finster. »Du bist eine Thrall. Sprich nicht mit mir, bis ich dir die Erlaubnis dazu gebe.«
»Vol hat mein Schiff und meine Mannschaft öfter gerettet, als ich zählen kann«, mischte sich Glornir ein und musterte den Skalden finster. »Ob Thrall oder Freigelassener, alle auf meinem Schiff riskieren ihr Leben und werden dafür respektiert. Wenn du dich entscheidest, auf meinem Schiff zu reisen, mit meiner Mannschaft, wirst du ihr denselben Respekt erweisen wie jedem anderen meiner Blutgeschworenen. Oder wir haben ein Problem. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Skalk versteifte sich, und seine Leibwächter Olvir und Yrsa traten ein kleines Stück vor. Ihre Finger bewegten sich in Richtung ihrer Schwertgriffe.
»Sie ist eine besessene Thrall«, gab Skalk verächtlich zurück.
Glornir zuckte mit den Schultern. »Ich bin es nicht gewohnt, meine Worte zu wiederholen«, sagte er.
»Ich ebenso wenig.«
»Es ist mein Schiff und meine Mannschaft. Du kannst von hier aus auch gerne laufen«, erwiderte Glornir ruhig.
»Es ist mein Geld.« Skalks Stimme klang leise und kalt.
»Es ist Königin Helkas Geld«, konterte Glornir. »Wenn du damit gern jemand anderen für deine Vaesen-Jagd dingen willst …« Glornir lächelte kalt und erwiderte Skalks Blick ungerührt.
Einen Moment hielt es sich in der Schwebe, dann entspannte sich Skalk. »Wie du wünschst. Ihr werdet kämpfen, und ihr werdet sterben, wenn es dazu kommt, also …« Er zuckte fast unmerklich mit den Schultern, um zu zeigen, dass die Angelegenheit ihm nichts bedeutete. »Ich werde den Kragen um den Hals deiner Thrall ignorieren.« Er sah sich unter den Blutgeschworenen um und lächelte jetzt wieder unbekümmert. »Das ist alles, was ich weiß. Wir reisen zusammen dorthin und rotten den Vaesen-Abschaum aus. Königin Helka wird euch ihre Dankbarkeit mit einer Kiste Silber bezeugen.«
Skalk trat an Glornir vorbei zu dem eisernen Kochtopf über dem Feuer, schöpfte Fischeintopf in einen Napf und ging davon, gefolgt von Olvir und Yrsa.
Varg saß da und starrte in seinen Napf, während die Gedanken in seinem Hirnkasten umherwirbelten.
Galdurmänner und Vaesen. Ich segle in ein Abenteuer, jage Trolle oder Kobolde oder was auch immer sich im Knochenmassiv versteckt.
Ein Schauer durchlief ihn.
Die Jagd auf Trolle ist wahrlich etwas anderes als Kolskeggs Gehöft.
Etwas summte in seinem Blut, und er wusste nicht, ob es Furcht oder Erregung war.