VARG
Varg schlurfte in die Methalle. Er war erschöpft, Schweiß brannte in seinen Augen, seine schmutzige Tunika klebte an seinem Körper, und alle Gliedmaßen schmerzten, als wären sie mit Blei gefüllt. Røkia hatte ihn noch auf dem Hof kämpfen lassen, nachdem alle anderen längst ihre Übungskämpfe beendet hatten und verschwunden waren. Das Einzige, was sie davon abgehalten hatte, ihn selbst die Nacht hindurch bis zum Morgengrauen zu peinigen, war der Befehl einer körperlosen Stimme – die von Glornir, wie Varg vermutete. Er schien der Einzige zu sein, von dem Røkia Befehle entgegennahm.
Jetzt dunkelte es, und in der Methalle wurden Fackeln angezündet. Die Flammen blakten, die Schatten tanzten, und unter den Dachbalken sammelte sich Rauch. Thralls bereiteten die Metbänke für das Abendessen vor.
Varg sah seinen Umhang, der immer noch zu einem Kissen gefaltet hinter einer Säule auf dem Boden lag, und hob ihn auf.
»Setz dich dahin«, sagte Røkia, die gemeinsam mit Svik hinter ihm ging. Die beiden unterhielten sich leise. Varg schwankte ein wenig und stützte sich mit der Hand auf der Bank ab, während er auf die Stelle sah, auf die Røkia zeigte. Am Ende einer langen Bank war ein Platz frei. Es war der am weitesten vom Hohen Tisch entfernte Platz. Varg setzte sich hin, ohne lange nachzudenken. Røkia blieb stehen und drehte sich zu ihm herum.
»Du hast schon gekämpft«, stellte sie fest.
»Ja«, gab Varg zu. »Aber nur mit den Fäusten.«
»Ha!«, raunzte Røkia.
»Und mit deinen Zähnen.« Sviks roter Bart zuckte. »Was deine Zahnabdrücke auf Einar Halbtrolls Wade und sein Humpeln beweisen.«
Varg zuckte mit den Schultern, und Svik begann zu lachen.
Røkia ging weiter.
»Du hast dich gut gehalten«, sagte Svik, bevor er sich umdrehte, um ihr zu folgen.
»Ich habe Angst, dass ich sterbe«, murmelte Varg, dem es schon schwerfiel, die Bewegungen seines Kiefers zu kontrollieren.
»Wir sind alle geboren, um zu sterben!«, rief Svik über die Schulter zurück.
Die Halle füllte sich allmählich, Frauen und Männer strömten herein und legten ihre Schilde und Speere an den Wänden der Halle ab. Sie nahmen ihre Plätze auf den Metbänken ein, während Thralls die Tische mit Speisen und Getränken deckten: Mit Schüsseln voll cremigem Skyr und Quark, mit Honigtöpfen, mit Brettern voller getrockneter und geräucherter Hammelscheiben, Holztellern mit Kaninchen- und Rindfleisch, Scheiben von Walfleisch und Fässern mit Pferdefleisch, das in Molke schwamm. Mit frisch gebackenem Brot, heiß aus dem Ofen, gedörrtem Kabeljau, der gesalzen war und einen stechenden Geruch hatte. Hering in Salzwasser fermentiert, Blutwurst, Kessel mit Eintopf, in dessen Fett Karotten, Pastinaken und Zwiebeln schwammen, und Trinkhörner mit warmem, mit Wacholder gewürztem Met, um alles herunterzuspülen. Varg hatte noch nie in seinem ganzen Leben so viele Speisen und Getränke gesehen. Allein die Gerüche überwältigten ihn fast. Sein Magen knurrte wie ein Bär, den man aus dem Winterschlaf in seiner Höhle gerissen hatte.
Jarl Logur saß auf dem Hochsitz. Er hatte eine tonnenförmige Brust und einen Bauch, über dem sich seine feinbestickte Tunika spannte. Sein langes Kraushaar war geflochten und mit Golddraht durchsetzt. Gold schmückte seinen Hals und umspannte seine Arme, und für Varg sah er aus wie ein Mann, der viel lachte. Jetzt jedenfalls lachte er gerade, als er sich zur Seite beugte und einer Frau rechts neben ihm etwas ins Ohr flüsterte. Sie war groß, elegant und hatte ein offenes, aufrichtiges Gesicht. Ihr Haar, mehr grau als blond, war geflochten und hochgesteckt. Sie trug ein dunkelblaues Wollkleid und einen bestickten Hängerock darüber. An dem Webgürtel um ihre Taille klingelten Schlüssel. Sie lachte und schob Logur an der Schulter zurück. Glornir, der kahlköpfige Häuptling der Blutgeschworenen, saß zur anderen Seite von Logur, und daneben Vol, die Seiðrhexe. Ihren tätowierten Hals umspannte ein enger Thrall-Kragen.
Røkia und Svik gingen zwischen den Metbänken hindurch. Svik stolzierte, als würde ihm die Halle gehören. Dann setzten sie sich an den langen Tisch am anderen Ende von Varg, so nah bei Logur und Glornir an ihrer Hohen Tafel, wie ein Krieger nur sitzen konnte. Varg sah auch Einar Halbtroll und den fremdartig wirkenden kahlköpfigen Mann mit dem langen Zopf, der mit Glornir trainiert hatte.
Ein junger Mann ließ sich polternd auf der Bank neben Varg nieder. Er war vielleicht halb so alt wie Varg, hatte schwarzes, widerspenstiges Haar, einen dünnen Bart und scharfe blaue Augen. Seine Tunika war mit Brandflecken übersät, und er hatte plumpe Hände und Handgelenke.
»Du bist also der Mörder«, sagte er.
»Mörder!« Varg sah ihn erbost an. »Ich bin kein Mörder.«
»Ich habe gehört, dass du wegen Mordes gejagt wirst«, gab der junge Mann zurück.
»Das war kein Mord!«, knurrte Varg. »Es war ein ehrlicher Kampf, falls du vier gegen einen ehrlich nennst.«
»Macht für mich keinen Unterschied«, erwiderte der junge Mann gleichgültig. »Du bist jetzt jedenfalls einer von uns.« Er grinste. »Torvik.« Er hielt Varg seinen Unterarm hin.
Varg betrachtete ihn kurz und packte ihn dann im Kriegergruß.
»Varg.«
»Deinen Namen kenne ich schon«, erwiderte Torvik. »Du bist der Verrückte, der Halbtroll gebissen hat.«
»Ich weiß wirklich nicht, warum alle ständig darüber reden«, grummelte Varg.
Torvik lachte, als hätte Varg gerade einen guten Scherz gemacht.
»Iss!« Torvik brach ein Stück Brot von dem Laib vor ihm ab und tauchte es in eine Schüssel mit Eintopf. »Du musst so hungrig sein wie ein vom Winter gepeinigter Wolf, nachdem du den ganzen Tag von Røkia verprügelt und durchgewalkt worden bist.«
Das ließ Varg sich nicht zweimal sagen. Er fing mit einer dicken Scheibe Brot mit Butter an, dazu Käse, Quark und gesalzener Kabeljau. Jeder Bissen schmeckte wie Gold. Der Met war warm und süß, Gespräche und Gelächter füllten den Raum. Schon bald ließen die Schmerzen nach.
»Bist du ein Blutgeschworener oder ein Drengr von Jarl Logur?«, erkundigte sich Varg mit vollem Mund.
»Ich bin ein Blutgeschworener.« Torvik richtete sich unwillkürlich gerader auf. »Das heißt, ich werde bald einer sein. Im Moment diene ich unter Edel als Kundschafter für die Blutgeschworenen.«
»Edel?«, fragte Varg nach.
»Sie ist die Herrin der Kundschafter.« Torvik deutete auf die silberhaarige Frau am Tisch, dicht an der Hohen Tafel. Ihre Hunde kauten geräuschvoll auf den Hammelknochen herum, mit denen sie sie fütterte.
Varg nickte.
»Ich bin außerdem Schüler von Jökul Hammerhand.« Jetzt deutete Torvik auf eine andere Stelle in der Methalle, auf einen breitschultrigen dicken Mann, der in der Nähe von Svik und Røkia saß.
»Ein Grobschmied?« Varg blickte von dem Mann zu Torvik und auf die Brandflecken in seiner Tunika und auf seinen Armen.
»Er ist nicht nur Grobschmied, obwohl er der beste Schmied in ganz Vigrið ist«, antwortete Torvik.
»Zumindest muss er der schnellste sein«, gab Varg zurück, »wenn er die Ausrüstung der Blutgeschworenen in Ordnung halten will.«
»Ja, schnell ist er auch, aber sieh selbst.« Torvik zog den Ärmel seiner Tunika hoch. Auf seinem Arm trug er einen gedrehten Armreif aus mit Bronze durchzogenem Silberdraht, dessen Enden Hundeköpfe bildeten. Varg sog lautstark die Luft ein. Der Reif war wundervoll geschmiedet und wahrscheinlich mehr wert als alle Münzen, die Varg im Faustkampfring verdient hatte.
»Was meinst du damit, wenn du sagst, du wirst bald ein Blutgeschworener sein?«
»Noch habe ich den Schwur nicht geleistet, aber das werde ich. Glornir sagt, jeder, der ein Blutgeschworener werden will, muss sich erst beweisen, durch seinen Mut oder seine Loyalität.«
Varg nickte.
»Also sind wir beide auf derselben Reise.« Torvik lächelte Varg an. »Wir werden wie Brüder sein«, verkündete er.
»Ich habe keine Brüder«, gab Varg zurück. »Nur eine Schwester.«
»Ich meine, wir werden wie Brüder sein«, nuschelte Torvik mit vollem Mund. »Du hast eine Schwester?«, fragte er dann.
»Sie ist tot.« Varg schob sich einen Löffel in den Mund und beendete damit das Gespräch.
Der Met floss in Strömen, als die Mahlzeit voranschritt, und die Stimmen der Blutgeschworenen und Drengr wurden lauter, als Sagen erzählt wurden und man mit großen Taten prahlte. Dann erregten laute Geräusche Vargs Aufmerksamkeit. Einar versuchte sich im Armdrücken gegen drei von Logurs Drengr auf einmal. Halbtroll lachte, als er ihre Arme auf einen Gemüseteller hämmerte, und andere Krieger brüllten begeistert.
Thralls eilten zwischen den Tischen umher, brachten leere Platten weg und füllten Krüge und Hörner und Schalen neu. Varg beobachtete sie mit einem unbehaglichen Gefühl in der Magengrube. Noch vor gar nicht allzu langer Zeit war er einer von ihnen gewesen. Ihm war klar, dass er im Moment auf dem am wenigsten ehrenvollen Platz in der Halle saß, am weitesten entfernt von dem Jarl. Aber dass er überhaupt an einer Mettafel saß, konnte er schon kaum fassen. Er hatte diese Ehre nie erwartet oder auch nur für möglich gehalten. Er war von den Blutgeschworenen gerettet worden, trainierte mit ihnen auf dem Waffenfeld, aß und trank am Tisch eines Jarls, weil er einer von ihnen war. Das war berauschender als der Met in seinem Trinkhorn und seinem Magen. Er hätte am liebsten über diese Absurdität gelacht, aber gleichzeitig spürte er auch einen Anflug von Stolz in seiner Brust.
Frøya wäre verblüfft, wenn sie das sehen könnte, und stolz.
Noch ein Gefühl regte sich in seiner Brust, das für ihn fast genauso unverständlich war wie seine Freiheit. Ein Anflug von Freude, der sofort von Gewissensbissen verdrängt wurde, weil er es sich gut gehen ließ, während Frøya tot unter der Erde lag.
Und noch etwas anderes beschäftigte ihn, etwas, das Torvik gesagt hatte. Es kroch durch sein Hirn wie eine Made durch verfaultes Fleisch.
Alle müssen sich zuerst beweisen.
Er holte tief Atem und runzelte nachdenklich die Stirn.
Dann schlug Jarl Logur dröhnend mit der Faust auf den Tisch.
»Ein schönes Fest«, sagte er, als Ruhe einkehrte. »Und Skál euch allen!« Er hob sein Trinkhorn zum Gruß und leerte es dann in einem Zug.
»Skál!«, schrien die Anwesenden, und der Ruf hallte von den Deckenbalken zurück, während sie nach ihren Methörnern griffen. Varg hob sein eigenes Horn und trank ebenfalls.
»Aber was ist ein Fest ohne eine Sagengeschichte, die unser Blut in Wallung bringt, was?«
Logurs Worte wurden mit noch mehr Geschrei und heftigem Tischklopfen begrüßt. Logur grinste, während ihm der Met vom Bart tropfte, und deutete auf eine Gestalt, die im Schatten eines Pfeilers stand. Ein Mann trat vor, eine siebensaitige Lyra in der Armbeuge. Er hatte dunkles Haar und sah gut aus, trug eine grüne Wolltunika, die am Kragen und Saum mit einem Knotenmuster bestickt war, und silberne Armringe glänzten rot im Licht der Fackeln.
Tiefes Schweigen breitete sich aus, als er auf das Podest trat.
»Galinn, der Skalde von Liga«, verkündete Jarl Logur. »Der beste Skalde auf der ganzen Welt.«
»Meinen Dank, Jarl Logur, großzügigster Herr unter der Sonne und dem Mond«, gab Galinn zurück.
»Wer wäre ich, dem berühmten Galinn zu widersprechen?«, sagte Logur mit einem Lächeln, und seine Krieger lachten.
»Und es stimmt … mit einem halben Laib Brot und einer vollen Schüssel habe ich mir viele Freunde gemacht«, fügte er hinzu, als er sich wieder setzte.
Galinn stand da und ließ den Blick über die Tische schweifen. Dann legte er die Finger auf die Saiten seiner Lyra. Die Musik war süß und melancholisch, und sie erinnerte Varg an das Geräusch von fließendem Wasser oder von schlagenden Flügeln. Und dann begann Galinn seinen Sprechgesang.
Die Vackna laut erklang,
Das Weckhorn kühn und lang
Durch die Hügel hallte, als die rote Sonne
über ganz Vigrið aufging,
diese Ebene der Schlacht,
dieses Land aus Asche,
dieses Land der Verheerung.
Götter rührten sich aus tiefstem Schlummer,
Snaka, der Schlangengott warf seine Haut ab,
der Schlächter der Seelen.
Der Wolf erwachte, der heulende Ulfrir,
rannte die Ketten zerschmetternd brüllend
nach Guðfalla, dem Untergang der Götter entgegen.
Orna, die Adlerschwinge, kam kreischend
mit rauschendem Flügelschlag, zerfetzte Fleisch
mit scharfen Krallen und spitzem Schnabel.
Die kluge Drachengöttin Lik-Rifa,
Leichenfresserin von den Dunkelmond-Hügeln,
fegte tief über die Ebene mit peitschendem Schweif.
Berser tobte, mit Schaum vor dem Maul und blutigen Krallen.
Die Götter strahlten in ihrer Kriegerpracht,
tapfere Svin, übermütiger Tosk, hinterhältiger Rotta,
die Götter und ihre Sippe, ihre willigen Krieger,
Blut-besessene Brut, zogen in den Krieg,
kamen alle zur Ebene der Schlacht.
Tod hielt seine Ernte,
färbte rot die Flüsse und
der Ruch des Gemetzels überzog das Land.
Dort kämpften sie,
Dort fielen sie,
Berser durchbohrt, Orna zerfetzt, Ulfrir gemetzelt.
Die kluge Lik-Rifa wurde gefangen, angekettet tief unter der Erde
In einer Kammer unter den Wurzeln von Oskutreð,
der großen Weltenesche.
Und Snaka fiel, die Schlange wurde vernichtet,
ihr Gift verbrannte, verheerte das Land und
zertrümmerte den Berg,
zerstörte die Hänge des großen Eldrafell.
Unter Frost und Feuer,
aus Flammen und Schnee,
krochen die Vaesen aus ihrer Grube,
und die Welt endete …
und wurde neu geboren …
Schweigen breitete sich aus, und alle starrten den Skalden an. Wenn es ihnen allen so erging wie Varg, dann fühlten sie sich auf das Schlachtfeld versetzt, sahen die Wut der Kriegerhorden und Snakas Untergang, als wären sie mit dabei.
Dann erklang ein Dröhnen an den Pforten der Methalle, und Varg, immer noch in die Geschichte versunken, dachte für einen Moment, es wären das Hallen der Trommeln und die Schreie der Krieger. Dann öffneten sich die Flügel der Methalle knarrend, und ein kalter Windstoß fegte herein. Die Fackeln blakten und fauchten, und der eisige Wind riss Varg aus dem Sagenlied des Skalden.
In der Tür standen zwei von Jarl Logurs Kriegern in Kettenhemden, mit Speeren in den Fäusten, und zwischen ihnen vier andere Leute. Ein Mann in einem vornehmen Wollkaftan und einer pelzbesetzten Mütze. Seine weite, gestreifte Hose war von den Knöcheln bis zu den Knien gewickelt. Die anderen drei, zwei Frauen und ein Mann, trugen Mäntel mit Lamellenpanzern, die im Fackellicht wie Fischschuppen glänzten. Sie alle hatten Eisenhelme mit Helmbüschen aus Pferdehaar. An ihren Gürteln hingen Köcher, Bogenetuis sowie Krummschwerter und Äxte mit kleinen Köpfen und langen Schäften. Der Helm des Mannes war mit Gold besetzt und der Ledergriff seines Schwertes von Golddraht durchzogen. Sie trugen lange Zöpfe, wie der Mann, den Varg mit Glornir hatte trainieren sehen.
Ein Falke saß auf dem Unterarm des Mannes. Sein Gefieder glänzte, und sein Schnabel endete in einem scharfen Haken.
Varg erinnerte sich daran, dass er bereits ähnliche Leute wie diese gesehen hatte, als er nach Liga gekommen war. Sie hatten ein Schiff im Hafen verlassen, ein Schiff, das aus dem fernen Iskidan gekommen war, wie eine Hafenarbeiterin ihm erzählt hatte.
Der Lärm der Feiernden verstummte, und alle sahen die Neuankömmlinge an.
Die beiden Drengr-Wachen eskortierten die Besucher bis zum Podest. Dort blieben sie alle stehen. Jarl Logur blickte von der Hohen Tafel auf sie herab. Der Skalde Galinn war verschwunden.
»Sergej Yanasson von Ulaz ersucht um die Gastfreundschaft von Jarl Logur«, verkündete einer der Drengr. Der Mann mit dem pelzgesäumten Hut trat vor und verbeugte sich schwungvoll.
»Sei gegrüßt, Jarl Logur«, sagte Sergej. »Es ist eine Ehre, in deiner Methalle zu stehen. Dein Wohlstand, dein Schlachtenruhm und deine Gastfreundschaft sind auch jenseits der Straße der Wale berühmt, bis hin zum weit entfernten Iskidan und allen Reichen des großen Khagan, Kirill dem Herrlichen.«
»Willkommen, Sergej.« Logur hob einladend die Hand. »Und hör auf mit diesem Pferdemist, du alter Fuchs. Dafür kennen wir einander schon viel zu lange.« Logur stand auf, stieg vom Podest herunter, nahm Sergej in die Arme und drückte ihn fest. Dann schob Logur den Mann auf Armlänge von sich und sah ihm lächelnd ins Gesicht.
»Warum redest du, als würden wir uns zum ersten Mal treffen, mein Freund?«
Sergej senkte den Kopf. »Du erweist mir sehr viel Ehre, mir, einem bescheidenen Händler aus den südlichen Gefilden«, fuhr er fort. Dann zuckte er mit den Schultern. »Ich bringe dir erhabene und bedeutende Gäste aus meinem Heimatland und wollte sie mit meinem Auftritt entsprechend beeindrucken.«
»Ha, das ist schon besser!« Logur lächelte und richtete seinen Blick auf den Mann und die Frauen hinter Sergej. »Und wer sind diese erhabenen und bedeutenden Gäste, die du in meine Halle gebracht hast?«
»Das ist Prinz Jaromir, ein Sohn des Großen Khagan.« Sergej trat zur Seite. »Begleitet von zwei seiner Druzhina, wie es sein Recht ist.«
»Eine so große Ehre ist das auch wieder nicht«, flüsterte Torvik Varg zu. »Angeblich hat dieser Große Khagan zweihundert Konkubinen und tausend Kinder.«
»Prinz Jaromir, willkommen in meiner Halle.« Jarl Logur neigte kurz den Kopf und hob erneut die Hand.
Jaromir öffnete seinen Kinnriemen, und eine seiner Leibwächterinnen trat vor und nahm ihm den Helm vom Kopf. Er war ebenfalls kahlrasiert, und ein blonder Zopf fiel über seine Schulter. Er betrachtete Logur mit durchdringenden blauen Augen. Sein schmales Gesicht war einnehmend, und er trug einen kurz geschorenen Bart. Er neigte den Kopf vor Jarl Logur.
»Verzeih mir meinen unangekündigten Besuch«, sagte Jaromir. »Ich hätte Boten vorausgeschickt, damit du mir ein standesgemäßes Willkommen bereiten kannst. Aber ich bin schnell gereist und wollte nicht, dass die Nachricht von meiner Ankunft mir vorauseilt.« Er sah sich in der Halle um und blickte dann wieder Jarl Logur an.
Das Schweigen vertiefte sich, und man hörte nur das Knistern der Flammen und den Falken, der mit den Flügeln schlug und kreischte. Varg zuckte bei dem Geräusch zusammen.
»Willkommen auf der Ebene der Schlacht, wo der Krieg der Götter am erbittertsten geführt und gespürt wurde«, sagte Jarl Logur schließlich. »Du bist an meinem Herdfeuer willkommen, eingeladen zu Speise und Trank und zu einem Platz an meiner Tafel.« Sein Lächeln wurde breiter, und seine Zähne blitzten. »Als bescheidener Jarl ist das das Beste, was ich dir bieten kann.«
»Ich danke dir.« Jaromir senkte erneut den Kopf, kurz und knapp, ähnlich wie der Falke auf seinem Arm. »Aber ich bin nicht durch ganz Iskidan geritten und über die Straße der Wale gesegelt, um mich an deinen Tisch zu setzen und deine Speisen zu kosten. So … köstlich sie auch aussehen. Ich bin gekommen …«
»Du bekommst ihn nicht«, sagte jemand hinter Jarl Logur.
Alle drehten sich um und sahen Glornir an.
Er saß immer noch zurückgelehnt und gelassen auf seinem Stuhl.
»Wen?«, fragte Logur.
»Sulich.« Glornir nickte in Richtung des kahlköpfigen Kriegers, der zwischen den Blutgeschworenen saß. »Prinz Jaromir wird ihn nicht bekommen.«
Jaromir starrte Glornir an und drehte dann den Kopf wie sein Falke, um Sulich zu betrachten. Der saß zwischen Einar Halbtroll und Svik. Er erwiderte den Blick des Prinzen nicht, sondern spießte stattdessen eine Scheibe geräuchertes Hammelfleisch auf. Er schob sich den Bissen in den Mund und kaute genüsslich.
»Und wer bist du, dass du Jaromir, einem Sohn von Kirill dem Herrlichen, einem Prinzen von Gravka und ganz Iskidan etwas verweigerst?«, verlangte Jaromir von Glornir zu wissen.
»Wer ich bin? Kein großer Herrscher oder Jarl oder auch nur ein Prinz wie du. Ich bin Häuptling der Blutgeschworenen, und damit trage ich Verantwortung für meine Mannschaft. Sie nennen mich Goldgeber. Ich habe geschworen, sie zu versorgen und zu beschützen.«
»Schildbrecher«, sagte Røkia.
»Seelennehmer«, setzte Svik hinzu.
»Schlitzer, Hacker, Zermalmer.« Die Brauen von Einar Halbtroll waren drohend zusammengezogen.
Glornir zuckte mit den Achseln. »Ich habe viele Namen«, sagte er. »Gemein haben sie, dass mir meine Gefährten einen Eid geschworen haben und ich ihnen. Zusammenzustehen. Zusammen zu kämpfen. Zusammen zu leben oder zu sterben. Sulich hat diesen Eid ebenfalls geschworen und ihn mit seinem Blut besiegelt. Also, du siehst …« Er stand langsam auf und neigte den Kopf nach links und rechts, dass sein Hals knackte. »Du nimmst ihn nicht mit.«
»Er hat Verbrechen begangen. Schwere Verbrechen, für die er sich verantworten muss«, sagte Jaromir.
»Ich fürchte, du verstehst mich nicht«, erwiderte Glornir.
Eine der Frauen hinter Jaromir trat vor und legte die Faust um den Griff ihres Säbels. »Ich werde ihm für seine Anmaßung den Kopf abschlagen, Großer Prinz«, zischte sie.
Bank- und Tischbeine gerieten in Bewegung, als sich über sechzig Krieger in der Halle erhoben. Sämtliche Blutgeschworenen. Torvik neben Varg stand ebenfalls auf, und bevor Varg begriff, was er tat, hatte er sich auch erhoben.
»Halt!«, rief Sergej. Er breitete hastig die Arme aus und sprang zwischen die Druzhina-Kriegerin und Glornir. »Das ist nicht der richtige Weg, mein Prinz«, sagte er. »Ihre Sitten sind nicht unsere Sitten. Wir müssen ihnen ihre barbarischen Manieren nachsehen.«
Jaromir blickte von Sergej zu Glornir.
»Halt, Ilia«, sagte Jaromir. »Wir werden den Rat unseres geschätzten Freundes Sergej annehmen.« Er richtete seinen Blick auf Jarl Logur.
»Ich entschuldige mich«, sagte er zu dem Jarl. »Ich will kein Blut in deiner Halle vergießen. Aber das ist ein ernstes Problem, und ich werde es lösen.« Er sah sich in der Methalle um. »Liga ist ein Handelshafen, und er hat dir all das gegeben, was du jetzt besitzt. Aber es gibt schönere Latrinengruben in Gravka als diese Halle. Ich könnte Gutes für diese Stadt tun, für dich, einen Fluss aus Reichtümern zu dir leiten, den du dir jetzt noch nicht einmal vorstellen kannst, wenn wir zu einer Übereinkunft kommen.«
Logur sah ihn an.
»Ich möchte auch kein böses Blut zwischen uns«, antwortete der Jarl. »Aber die Gebräuche und Sitten unseres Landes stützen deinen Anspruch nicht. Du kannst nicht in die Halle eines Jarl marschieren und solche Forderungen stellen. Wo ist dein Beweis? Wo sind deine Zeugen? Aussagen von verlässlichen, ehrwürdigen freien Männern? Das ist eine Angelegenheit für ein Althing.« Er zuckte mit den Schultern. »Und Glornir ist mein Freund«, schloss er.
»Ich habe Beweise und Zeugen«, sagte Jaromir. »Denk über das nach, was ich gesagt habe. Ich kehre morgen früh mit allem, was du verlangst, zurück und bitte dich um Gerechtigkeit. Erneut. Ein drittes Mal frage ich nicht.«
Er drehte sich auf dem Absatz herum und marschierte aus der Halle. Sein Falke kreischte erneut.
Die Türen schlossen sich mit einem Knall, und Schweigen senkte sich über die Halle.
»Was für ein Arschkriecher«, stellte Svik fest.