KAPITEL DREIUNDDREISSIG

ORKA

Orka saß in der Ecke einer Schänke vor einem Krug mit dünnem Bier und einem Trinkbecher. Das Bier hatte nicht geholfen, den Kopfschmerz zu vertreiben, der in ihrem Schädel pulsierte. Der Rauch eines Herdfeuers erfüllte mehr und mehr den Schankraum, bis er kaum noch durch das Rauchloch im Dach abziehen konnte. Der Gestank von Walfischtran, Hopfen und Urin schwängerte die Luft. Sie hatte sich in die dunkelste Ecke der Schänke zurückgezogen und ihren neuen Mantel um sich gehüllt, den sie bei einem der vielen Straßenhändler im Hafen von Darl erstanden hatte, und die Kapuze aufgesetzt. Der Mantel war aus grauer Wolle in einem Fischgrätmuster gewebt und verbarg ihr Brynja und ihre Waffen. Die Kapuze war aus brauner handgesponnener Wolle und tauchte ihr Gesicht in Schatten. Das war bereits die elfte Schänke, die sie in kaum mehr als einem Tag besucht hatte, nachdem sie Mort und Lif verlassen hatte. Hauptsächlich hatte sie dagesessen und zugehört, und manchmal einem Wirt oder einem Schankmädchen eine oder zwei Fragen gestellt. Bis jetzt hatte sie nur Schweigen oder finstere Blicke als Antwort bekommen.

Ein Dutzend Leute saßen an den Tischen, hauptsächlich Seeleute von Schiffen, die im Hafen eingelaufen waren. Dazu zwei Huren, die Männer anlächelten, die schon ziemlich betrunken waren. Ihr am nächsten saß ein Mann, der in einer Schale mit Eintopf rührte. Eine Seite seines Kopfes war verbrannt, und das wenige Haar, das er noch auf dem Kopf hatte, hatte er im Nacken zusammengebunden. Eine Faustaxt und ein Scramasax hingen an seinem Gürtel. Außerdem hatte Orka den Griff eines Dolchs bemerkt, der aus einem Stiefelschaft herausragte.

»Willst du etwas zu essen?«, fragte das Schankmädchen sie. Es war ein junges Ding in einem schmutzigen Hängerock über einer verschlissenen Tunika.

»Nein«, gab Orka zurück, und das Mädchen wollte weitergehen. Aber Orka legte ihre Hand auf den Tisch und ließ eine Bronzemünze auf der Platte wirbeln. Das Geräusch zog den Blick des Mädchens an wie Aas die Krähen.

»Wenn du einen Mann willst oder eine Frau, kann ich dir was suchen«, sagte das Schankmädchen. Dann machte es eine Pause. »Ich bin auch bald fertig …«

»Ich suche jemanden«, sagte Orka.

»Wen?«

»Drekr.« Orkas Stimme war im ganzen Raum zu hören.

Das Schankmädchen blinzelte, und einige drehten die Köpfe in ihre Richtung und sahen Orka kurz an.

»Ich kenne niemanden, der so heißt«, murmelte das Schankmädchen, drehte sich um und eilte davon. Sie warf einen Blick auf den entstellten Mann, als sie an ihm vorbeiging, aber er blickte starr in seine Schale mit Eintopf. Langsam hob er den Löffel und schlürfte einen Mundvoll. Das Mädchen hatte mittlerweile den Tresen erreicht, wo ein Mann, vermutlich der Wirt, sie beiseitenahm und hitzig mit ihr tuschelte.

Orka trank einen Schluck aus ihrem Becher.

Dann kam der Wirt um den Tresen herum und ging auf sie zu. Er hatte schütteres Haar, eine platte Nase und rote Adern in den Wangen. An seinem Gürtel trug er einen Scramasax in einer abgeschabten Lederscheide.

»Du solltest besser gehen«, sagte er.

»Ich kümmere mich um meine Angelegenheiten«, sagte Orka, »und ich habe diesen Krug mit Pferdepisse, für den ich bezahlt habe, noch nicht ausgetrunken.« Sie hob den Becher, trank einen Schluck und verzog das Gesicht.

»Dann nimm dein Kupfer zurück.« Er warf ihr ein halbes Kupferstück zu. »Deinesgleichen brauche ich hier nicht.«

»Meinesgleichen?«, fragte Orka.

»Raus«, knurrte er und griff nach seinem Scramasax.

Orka stand auf, und ihr Stuhl schabte über die Dielen. Sie straffte sich und blickte auf ihn herunter. Sie war einen Kopf größer und auch breitschultriger. Er wich einen Schritt zurück, und Furcht zuckte über sein Gesicht, während sein Blick kurz zu dem Mann mit dem Brandmal und dann wieder zurück zu Orka glitt.

»Ich will keinen Ärger«, sagte er mürrisch.

Orka ging an ihm vorbei, verließ die Schänke und trat in den Regenguss hinaus. Es war dunkel, irgendwann zwischen Mitternacht und Morgengrauen, da die Sommernächte zur Sonnenwende hin kürzer wurden. Orka wandte sich nach links, ging zwanzig oder dreißig Schritte und bog dann rasch in eine schattige Gasse ab, die zwischen der Schänke und dem nächsten Gebäude entlangführte. Dort wartete sie versteckt in der Dunkelheit und lehnte sich an eine Lehmwand. Von dort konnte sie die Straße vor dem Eingang der Schänke beobachten. Nachdem sie etwa bis hundert gezählt hatte, knarrte die Tür der Schänke, und ein Mann trat heraus, sah sich nach beiden Seiten um, wandte sich nach rechts und ging davon. Es war der mit dem Brandmal.

Orka folgte ihm.

Sie hielt Abstand und blieb in den Schatten. Trotz der späten Stunde waren viele Menschen auf den Straßen unterwegs, Gesang und Gelächter drang aus den zahlreichen Schänken, Betrunkene taumelten über die Straße, Händler priesen schreiend ihre Waren an, Kaninchen und Eichhörnchen am Spieß wurden über Feuern gedreht, die im Regen zischten, und Suppen und Eintöpfe dampften in Kesseln. Der Mann ging durch eine Reihe von breiten, belebten Straßen, die sich in einem Halbkreis um den Fuß des Hügels erstreckten, auf dem die Festung Darl errichtet war. Man hatte Kanäle ins Land gegraben, die wie Egel am Fluss hingen und von ihm gespeist wurden, und der Entstellte führte Orka vorbei an einigen vertäuten Schiffen, Bootshäusern und Scheunen. Der beißende Gestank eines Gerbers brannte ihr in der Nase, und sie sah den Hof mit den aufgespießten und auf Rahmen gespannten Häuten, vorbereitet zum Auskratzen. Hier war es ruhiger, und der Verbrannte bog erneut ab. Kurz darauf waren sie wieder in einer Straße voller Schänken. Das Licht der Fackeln flackerte, die Gassen jedoch lagen in tiefstem Schatten, wo Huren und Taschendiebe ihrem Gewerbe nachgingen. Schlamm schmatzte unter Orkas Stiefeln.

Schließlich blieb der Entstellte an einer großen Schänke stehen. Das knarrende Schild über dem Eingang war mit einem blutenden Krieger und Runen bemalt. Orka trat ein paar Schritte näher, um es durch den Regen erkennen zu können. Dann blieb sie stehen und verschwand wieder im Schatten am Eingang einer Gasse. Die Schänke hieß Der tote Drengr. Davor standen drei Personen, zwei Männer in Wolle und Leder, beide groß und massig, einer davon kahlköpfig mit einem Knüppel in der Hand. Er nickte dem Entstellten zu.

Die dritte Person war eine Frau. Sie trug ein Brynja und einen Umhang, unter dem sich ein Schwert abzeichnete. Sie hatte einen schwarzen Schild über dem Rücken, auf den goldene Adlerschwingen gemalt waren.

Eine von Königin Helkas Drengr.

Sie trat dem Mann mit dem Brandmal in den Weg, aber der Kahlkopf mit dem Knüppel sagte etwas, und sie machte Platz.

Der Entstellte betrat die Schänke.

Orka blieb im Schatten stehen, beobachtete, wartete, dachte nach, während der Regen ihre Kapuze und ihren Mantel durchweichte. Das Morgengrauen zog durch die Straße, der Herald des Tagesanbruchs.

Dann glitt sie in eine Gasse, die leer war bis auf die Ratten, und tauchte an der anderen Seite auf. Sie sah das Funkeln eines wie schwarzes Öl schimmernden Kanals, der von den Regentropfen getupft wurde. Boote waren am Ufer vertäut und dümpelten sanft auf dem Wasser. Sie schlich an der Mauer eines Gebäudes vorbei und erreichte die Rückseite des Der Tote Drengr. Eine Mauer aus Lehm mit einem eingelassenen Tor umschloss einen Innenhof, Stallungen und andere Außengebäude. Orka hörte das Wiehern von Pferden. Eine Stimme.

»Bewegt euch«, sagte jemand. Im nächsten Moment tauchte eine Gestalt aus dem offenen Tor auf. Ein Mann, ebenso groß und massig wie die beiden Wächter an der Tür der Schänke. Er hatte seine Kapuze aufgesetzt und hielt einen hölzernen Stab in der Hand. Hinter ihm folgte eine Reihe von Kindern. Sieben, acht, noch mehr. Sie alle trugen Umhänge mit Kapuzen, ihre Hände waren an den Handgelenken gefesselt. Orka hörte, wie einige Kinder weinten. Ein weiterer Mann folgte am Ende.

Der erste Mann ging zu einem Boot, das am Kanal vertäut lag, sprang hinein und zerrte die Kinder hinter sich her, zischte scharfe Befehle. Hinter der Ruderbank war über das halbe Boot eine Wolldecke gespannt. Die ersten Kinder kletterten unter die Abdeckung. Ein Kind weigerte sich, einzusteigen und fiel einfach nur schluchzend auf die Knie. Der Mann am Ende gab dem Kind eine Kopfnuss, riss es am Haar hoch und warf es ins Boot.

Orka verwünschte sich, weil sie ihren Speer in ihrem gemieteten Zimmer gelassen hatte, aber sie hatte so unauffällig wie möglich wirken wollen. Dann tastete sie nach ihren anderen Waffen, eine alte Angewohnheit. Sie hatte einfache Scheiden für die beiden Scramasaxe gekauft, die sie aus Thorkels Leiche gezogen hatte. Einer hing jetzt vorne an ihrem Gürtel, vor ihrer Hüfte, und der andere Scramasax steckte in seiner Scheide hinten an ihrem Rücken. Sie überprüfte, dass sie beide gut zücken konnte, dann zog sie ihre Faustaxt aus der Schlaufe an ihrem Gürtel.

Ohne wirklich nachzudenken, rannte sie los, über einen schlammigen, glitschigen Pfad zum Kanal. In der einen Hand hielt sie ihre Faustaxt, mit der anderen zog sie einen Scramasax, der zischend aus seiner Scheide fuhr.

Der Mann am Boot musste sie gesehen haben, denn er hörte auf, die Kinder ins Boot zu stoßen, und blickte zu ihr hoch. Orka hatte bereits ausgeholt, und ihre Axt wirbelte durch die Luft. Sie erwischte den Mann mitten im Gesicht. Er fiel zurück und verschwand mit lautem Platschen im Kanal.

Der zweite Mann starrte ihm vollkommen regungslos einen Augenblick nach, dann wirbelte er herum, griff zu der Axt an seinem Gürtel und riss den Mund auf. Im gleichen Moment war Orka bei ihm. Ihr Scramasax bohrte sich in seinen Bauch, und sie hämmerte ihm die Stirn gegen die Nase. Er schrie erstickt auf, als sie ihre Klinge hochriss, in seinen Brustkorb zog und ihn heftig von sich stieß. Dann taumelte er zurück, und Blut und Eingeweide klatschten ihm vor die Füße. Er stolperte über den Rand des Kanals und war ebenfalls verschwunden. Nur die Kreise im Wasser zeugten von seiner Existenz.

Orka verharrte regungslos, blickte zu der Tür der Schänke und wartete, ob jemand etwas bemerkt hatte. Aber dort rührte sich nichts, und kein Laut war zu hören.

»Breca?«, fragte Orka verzweifelt die Kinder, die sie vom Boot aus beobachteten. Weitere Schatten unter der Wolldecke spähten zu ihr hoch.

»Breca?«, wiederholte sie. In dem Moment öffnete ein Kind den Mund, um zu schreien.

»Nein!«, bat Orka das Kind. »Ich tue euch nicht weh. Sie haben meinen Sohn entführt, Breca. Ist er hier?«

Schweigend betrachteten die Kinder sie. Eines schniefte und fing erneut an zu weinen.

»Hier ist niemand, der Breca heißt«, sagte schließlich ein Junge. Er hatte dunkles, lockiges Haar und große Augen. Er wirkte älter als die anderen, war vielleicht zwölf oder dreizehn Winter alt.

»Bist du sicher?« Orka trat ins Boot. Die Kinder wichen vor ihr zurück, und sie blieb stehen. Sie schlug die regennasse Kapuze zurück. Sie trug Thorkels Wollmütze und hatte ihr blondes Haar zu einem Zopf geflochten, der ihr über die Schulter hing.

»Ist hier ein Junge, der Breca heißt?« Der Junge sah seine Gefährten an. Sie waren alle schmutzig und hatten tiefe Ringe unter den Augen. Einige schüttelten den Kopf, andere starrten sie nur an.

»Es gibt noch andere«, sagte ein Mädchen schließlich. »Wie wir.«

»Was meinst du damit?«, fragte Orka. »Wo? Hier? Komm näher, ich schneide eure Fesseln durch.« Sie hockte sich hin.

Das Mädchen trat zögernd einen Schritt auf sie zu und streckte die Arme aus. Sie waren an den Handgelenken gefesselt. »Ich habe gehört, wie Bersi über sie geredet hat.«

»Bersi?« Orka legte ihren Scramasax an die Lederschnur am Handgelenk des Mädchens.

Das Mädchen deutete mit einem Nicken auf die Seite des Bootes, und auf ihrem Gesicht erschien der Ausdruck von Ekel. Sie spuckte aus, dorthin, wo der Mann, der Orkas Axt ins Gesicht bekommen hatte, in den Kanal gestürzt war. Der Verlust ihrer Axt schmerzte Orka.

Ich finde schon eine andere, tröstete sie sich.

»Bersi hat über andere Kinder geredet, die auch da drin gefangen gehalten wurden.« Das Mädchen blickte zu der Schänke. »Aber sie sind jetzt weg.«

Orka trennte die Lederschnur durch, und das Mädchen breitete die Arme aus. Sie rieb sich die Handgelenke und lächelte zögernd.

»Du bist frei«, sagte Orka.

Andere Kinder streckten ebenfalls ihre Arme aus, und Orka befreite sie alle von ihren Fesseln.

»Warum haben sie euch geraubt?«, fragte sie den älteren Jungen. »Wofür wollten sie euch haben?«

»Das weiß ich nicht.« Der Junge zuckte mit den Schultern.

»Eines noch«, sagte Orka. »Kennst du einen Mann namens Drekr?«

Furchtsame Blicke antworteten ihr.

»Wo ist er?«, knurrte Orka.

»Da drin.« Der ältere Junge deutete auf die Schänke.

Orka stand auf, trat vom Boot auf die Einfassung des Kanals und blickte zu dem älteren Jungen zurück.

»Ihr seid frei«, sagte sie. »Hilfst du den anderen?« Sie deutete auf die übrigen Kinder, von denen einige leise weinten und alle furchtsam blickten.

»Das mache ich.« Er nickte.

»Gut. Wenn du ein Boot rudern kannst, dann nimm dieses. Wenn nicht, dann lauft weg, so schnell und weit ihr könnt, und blickt nicht zurück.«

Dann ging sie zu der Schänke.