KAPITEL SECHZEHN

VARG

Varg wachte von den Schmerzen auf. Sein ganzer Körper tat weh, seine Muskeln pochten, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte – und dabei hatte er, seit er sich erinnern konnte, auf einem Hof gearbeitet und im Faustkampfring gekämpft. Er rollte sich herum, setzte sich auf und stöhnte.

Ich hasse Røkia.

Etliche kleinere Verletzungen zogen unangenehm an seiner Haut, wo sie ihm absichtlich mit ihrem Speer die Haut geritzt hatte. Seine Muskeln schmerzten, als würde Feuer durch seine Adern rinnen, sein linker Arm und seine Schulter taten weh, weil er den ganzen Tag mit dem Schild gearbeitet hatte, sein Rücken, sein Oberkörper und seine Beine waren die reine Pein, weil er versucht hatte zu vermeiden, dass Røkia ihn ritzen konnte. Seine rechte Hand hatte Blasen von dem Speerschaft, den er endlich auf ihre Erlaubnis hin hatte halten dürfen.

Aber der Schmerz in seinem Körper war nichts im Vergleich zu dem Schmerz in seinem Kopf. Es war ein ständiges, rhythmisches Pochen, das wie Finger seinen Hals hinabglitt, bis in seinen brennenden Bauch.

Er schloss die Augen und ließ den Kopf in die Hände sinken.

Ich hasse Met noch mehr, als ich Røkia hasse.

»Kein Lamm für den faulen Wolf«, sagte jemand.

»Was?« Varg knurrte und öffnete ein Auge.

»Du bist also ein Spätaufsteher.« Svik stand vor ihm.

»Spät?« Varg runzelte die Stirn und öffnete beide Augen. Das Licht, das in die Methalle fiel, war so hell, dass es sich fast in seinen Schädel brannte. Auf dem Hof war er immer vor Sonnenaufgang aufgestanden, also eigentlich hatte Svik recht, aber dies waren außergewöhnliche Umstände. Zuerst war er von einem Mann namens Halbtroll halb totgeschlagen worden, was nicht jeden Tag passierte. Dann hatte eine Gruppe Freigelassene ihn zusammengeschlagen, wollte ihm die Hand abhacken und ihn dann fünfzig Wegstunden über felsiges Gelände schleifen. Sechs Tage lang hatte er schweißnass gegen ein Fieber gekämpft, und als er dann aufgewacht war, hatte eine wahnsinnige Frau mit Mord und Verachtung im Blick ihn verspottet, trainiert, gestochen, gestoßen und noch mal gestochen. Schließlich war er aufgewacht und hatte das Gefühl, als würde ein winziger Schmied Jökul in seinem Kopf leben und auf einem Amboss in seinem Schädel herumhämmern.

Er sah zu Svik hoch.

»Was ist denn los?«, fragte Svik ihn.

»Als ich aufgewacht bin, dachte ich, ich wäre tot«, murmelte Varg. »Und als ich mich aufgesetzt habe, wünschte ich mir, ich wäre es. Ich werde nie wieder Met trinken.«

»Ha!« Svik lachte tief und von Herzen. »Wenn ich einen Armring hätte für jedes Mal, das ich diese Worte gehört oder sie selbst gesagt habe, wäre ich so reich wie ein Jarl.«

Thralls hatten Feuer in den Herden entzündet und schwarze Eisentöpfe über die Flammen gehängt. Andere Krieger waren bereits aus den Binsen am Rand der Halle aufgestanden. Der Geruch von Haferbrei und Honig hing in der Luft. Vargs Bauch knurrte.

»Du hast Glück, dass Røkia mit Glornir redet, sonst würde sie dich wahrscheinlich schon mit ihrem Speer traktieren, damit du noch mehr trainierst.«

»Du meinst, sie würde mich damit stechen.«

»Ja, da hast du recht.« Svik lächelte.

Er lächelt immer, und meistens über mein Unglück.

Varg versuchte aufzustehen, schwankte, und Svik hielt ihm die Hand hin.

Varg betrachtete sie abweisend und zuckte instinktiv zurück.

»Hilfe zu akzeptieren ist keine Schwäche«, sagte Svik, packte Vargs Arm und zog ihn hoch.

Varg zuckte mit den Schultern. »Wo ich herkomme, hätte man mir nicht geholfen, selbst wenn ich darum gebeten hätte.«

»Aber da bist du nicht mehr.« Sviks Lächeln war verschwunden, und sein Blick war ernst.

Es wird eine Weile dauern, sich daran zu gewöhnen. Varg hatte nie um Hilfe gebeten, oder auch nur daran gedacht, darum zu bitten, weil er wusste, dass er keine bekommen würde. Er hatte schon so lange ohne Freunde und einsam gelebt, dass das für ihn ein ganz normaler Zustand war. Seine Schwester Frøya war seine einzige Freundin gewesen.

Er blickte zu Røkia, die immer noch bei Glornir stand. Mittlerweile hatte sich Vol, die Seiðrhexe, zu ihnen gesellt, ebenso wie Jarl Logur mit seiner Frau und eine Handvoll seiner Herdkarls. Varg ging zu ihnen und atmete langsam, um das Brennen in seinem Bauch zu kontrollieren.

Als er das Podest erreichte, baute sich ein neuer Druck in seinem Kopf auf, als würde ein Gewicht auf ihm lasten. Er blickte hoch, sah aber nur einen dicken Deckenbalken, auf dem ein Rabe saß. Sein schwarzes Auge funkelte. Dann jedoch bemerkte er, dass etwas in diesen Balken eingelassen war, etwas Langes, Helles, wie ein Stück Knochen. Ein Ende glänzte wie Silber.

»Ich werde dich nicht in diese Lage bringen.« Glornirs Stimme knirschte wie Kiesel in der Brandung. »Du warst bereits über die Maßen großzügig, hast ertragen, dass meine stinkende Mannschaft deinen Met getrunken, dein Fleisch gegessen und deine Thralls in deinen Binsen bestiegen hat.«

»Du bist stets willkommen, Glornir. Die Blutgeschworenen werden immer einen Platz an meinem Herdfeuer haben, sei es für einen Tag oder für einen Winter.«

»Wir sind sehr dankbar«, erwiderte Glornir, »und werden sicher zurückkehren. Aber heute laufen wir mit der Flut aus. Meine Mannschaft ist ohnehin rastlos. Sie ist nicht zum Müßiggang geschaffen.«

Logur knurrte und umarmte Glornir. »Ich werde dafür sorgen, dass du mit vollen Fässern und vollen Bäuchen in See stichst«, meinte er. »Ich veranlasse das alles.« Dann ging er davon, gefolgt von seiner Leibwache.

Seine Frau blieb noch einen Moment stehen. »Was er meint, ist, dass er mir auftragen wird, alles zu veranlassen«, sagte sie lächelnd.

Glornir neigte den Kopf vor ihr.

»Danke, Sälla«, sagte er. Dann ging auch sie davon.

Glornir blickte hoch, sah Varg und runzelte die Stirn.

»Am Lauschen ist nichts ehrenvoll«, sagte er.

»Das habe ich nicht«, erwiderte Varg. »Ich … wollte mit dir reden.«

Glornir sah ihn ausdruckslos an. »Dann sprich.«

Varg bemerkte, dass ihn alle anstarrten. Glornir, Røkia, Vol. Svik, der hinter ihm stand. Auch Edel, die Herrin der Kundschafter mit ihren beiden Hunden. Angehörige der Blutgeschworenen.

Wie bin ich hierhergekommen? Das Leben reißt mich auf einer großen Welle mit sich.

»Zuerst möchte ich dir danken«, begann Varg. »Du hast mich vor Leif Kolskeggson gerettet, wofür ich dir sehr dankbar bin.«

Glornir senkte den Kopf als Antwort, sagte aber nichts.

»Pah«, knurrte Røkia.

»Du sagtest zuerst.« Vols Stimme war leise, was ziemlich überraschend war angesichts ihres kantigen Gesichts und der blauen Tätowierungen an Hals und Unterkiefer. Unter den Tätowierungen umschloss ein Thrall-Kragen ihren Hals, obwohl Varg noch keinen Thrall gesehen hatte, der sich so verhalten hätte wie sie. Sie strahlte Selbstbewusstsein aus, und in ihrem Blick lag Würde. »Was bedeutet, du hast noch etwas anderes zu sagen?«

»Das habe ich«, sagte Varg. Er schloss die Augen und rief sich Frøyas Gesicht in Erinnerung. »Ich habe eine Bitte. Eine Aufgabe, die nur von einem Galdurmann oder einer Seiðrhexe durchgeführt werden kann.« Er öffnete die Augen und sah jetzt nur Vol an.

»Was für eine Aufgabe?«, fragte Vol.

»Eine Akáll.«

Vol schnalzte mit der Zunge. »Das ist keine einfache Aufgabe«, sagte sie. »Die letzten Momente eines Lebens heraufzubeschwören …«

»Ich weiß, aber es ist … für mich bedeutet es alles.«

»Du brauchst …«, begann Vol.

»Nein«, unterbrach Glornir sie barsch.

Varg blickte von Vol zu Glornir.

»Man hat mir gesagt, dass Vol ihre Kunst für die Blutgeschworenen wirkt. Das hat Svik mir erzählt. Und der einzige Weg, dass sie diese Aufgabe für mich ausführt, wäre, einer der Blutgeschworenen zu werden.« Varg blickte vorwurfsvoll auf Svik, der die Achseln zuckte.

»Das stimmt«, räumte Svik ein. Sein provozierendes Lächeln zupfte wieder an seinen Mundwinkeln.

»Und ich bin ein Blutgeschworener«, fuhr Varg fort und sah jetzt Glornir an. »Diese Worte hast du selbst gesagt, zu Leif Kolskeggson. Oder sollte auch Glornir Spaltzunge zu den vielen Namen von Glornir Goldgeber hinzugefügt werden?«

Zischen ertönte in der Halle, von Røkia und anderen. Finstere Blicke durchbohrten ihn.

»Du bist noch kein Blutgeschworener«, erwiderte Glornir ungerührt.

Varg runzelte die Stirn. »Warum habe ich dann gegen Einar Halbtroll gekämpft und mich zu Brei schlagen lassen, und mich dann von ihr verwunden und misshandeln lassen?« Er deutete anklagend auf Røkia. Die lächelte kalt, was seine Wut noch steigerte.

»Und warum habe ich dein Leben gerettet, als Leif mit einem Hackmesser neben dir stand und dich einen Mörder schimpfte?«, wollte Glornir leise wissen.

»Ich bin kein Mörder«, sagte Varg langsam und beherrschte die Wut, die in seinen Adern kochte.

»Das sagst du«, gab Glornir zurück. »Und ich erfahre noch früh genug, was du bist. Aber beantworte erst meine Frage: Warum habe ich dein Leben gerettet?«

Varg blinzelte, während unterschiedliche Gefühle in ihm tosten, sich Verwirrung und Zorn mischten.

»Das weiß ich nicht«, gab er schließlich zu. »Svik sagte, weil ich Einar gebissen hätte …« Er verstummte, als ihm klar wurde, wie lächerlich das klang.

»Ich habe dich gerettet, weil du vielversprechend bist«, sagte Glornir. »Du hast einen Fuß in der Methalle, aber du bist noch keiner von uns. Ein Blutgeschworener zu sein ist eine Ehre, und diesen Eid leistet man nicht leichtfertig. Wir erlauben nicht jedem Krieger mit schnellen Fäusten, einer von uns zu werden. Du musst die richtigen … Eigenschaften haben. Geschicklichkeit im Kampf – dir mangelt es an Waffenfertigkeit, gewiss, aber Røkia sagt mir, dass du schnell bist, eine gute Balance hast und den Geist eines Kriegers besitzt. Wir haben das gesehen, als du gegen Einar gekämpft hast. Mut und Stärke sind wichtig, wenn du einer von uns werden willst, aber du musst mehr als das mitbringen. Du musst auch die richtigen Eigenschaften hier haben.« Er trat vor und tippte Varg gegen die Stirn. »Und hier.« Ein Finger tippte gegen seine Brust. »Loyalität, Hingabe bis zum Tod. Besitzt du diese Eigenschaften?« Glornir zuckte mit den Schultern. »Das wird die Zeit erweisen. Bis dahin betrachte dich als Schüler. Wir werden dich lehren, dich ernähren und beschützen. Dafür wirst du lernen, du wirst gehorchen und kämpfen. Und dann …« Glornir lächelte, was sein Gesicht vollkommen veränderte. »Werden wir sehen.« Er schnüffelte, rümpfte die Nase und betrachtete Varg von Kopf bis Fuß. Musterte seine blutverkrustete, verschwitzte Tunika, das Blut und den Schmutz auf seiner Haut.

»Hier.« Glornir griff in seine Gürteltasche und zog einen kleinen Beutel heraus, in dem Münzen klingelten. Er hielt ihn Varg hin. »Kauf dir ordentliche Ausrüstung. Sonst müssen wir dich höchstwahrscheinlich nach deinem ersten Scharmützel in ein Hügelgrab legen, statt deinen Eid zu hören. Wir segeln mit der Flut, also beeil dich.«

Varg betrachtete den Beutel.

»Sei kein Narr«, sagte Svik. »Nimm ihn.«

Varg gehorchte. »Danke«, murmelte er, dann ging Glornir davon. Vol betrachtete ihn noch einen Moment, dann folgte sie Glornir.

»Freut mich, dass wir das geklärt haben.« Svik rieb sich die Hände. »Und jetzt gehen wir los und verprassen unsere Münzen.«