KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

ORKA

Orka kroch durch den sich lichtenden Wald. Fellur erhob sich als pechschwarzer Schatten in der düsteren Nacht. Wind seufzte durch die Bäume, die sie umgaben, bewegte die Zweige und fegte weißen Schaum über den Fjord, der schwach das Licht der Sterne und des Mondes reflektierte. Sie hörte das Knarren von Booten im Wind.

Schließlich erreichte sie den Waldrand, blickte nach Osten und wartete. Die Morgendämmerung war immer noch kaum mehr als eine Andeutung, mitten in der Nacht, wo alle schliefen.

Bis auf die Jäger, dachte Orka. Die Herumtreiber und Schattengänger.

Aber sie wusste, dass sie bald weitergehen musste. Der Marsch von ihrem Gehöft nach Fellur hatte sie mehr als einen halben Tag gekostet, und dann hatte sie noch Zeit benötigt, um ihren Speer und ihren Hanfsack zu verstecken. Für ihr Vorhaben brauchte sie beides nicht. Aber die Morgenröte wartete nicht auf sie, und sie hatte viel zu tun. Jeder Moment, den sie von Breca getrennt war, fühlte sich an, als würden Krallen über ihre Knochen streichen. Etwas in ihrer Magengrube sagte ihr, dass dies das klügste Vorgehen war, besser als blindlings einem der beiden Flussläufe zu folgen, ohne zu wissen, über welchen Breca entführt worden war. Sie brauchte Informationen, und sofort erschien vor ihrem inneren Auge das Bild von Jarl Sigrúns neuer Thrall, die Thorkels Blut von ihrem Scramasax geleckt hatte.

In dem offenen Gelände zwischen dem Wald und den Toren der Siedlung befanden sich die Zelte all jener, die gekommen waren, um am Althing teilzunehmen. Ab und zu schimmerte die orangefarbene Glut von heruntergebrannten Feuern in der Dunkelheit. Orka flüsterte einen Fluch, trat dann zwischen den Bäumen hervor und bahnte sich vorsichtig einen Weg zwischen den Zelten hindurch. Sie ließ sich Zeit, wartete, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und vermied es, in die Glut des Feuers zu blicken, bis sie alle Zelte passiert hatte und vor den verrammelten Toren stand.

Davor standen keine Wachen.

Sie nahm ein paar Schritte Anlauf, sprang an der Palisadenwand hoch, packte das oberste Holz, zog sich hoch und schwang ein Bein darüber. Der Schwung der Bewegung hievte ihren Körper hinterher. Sie fiel mit den Stiefeln voran in den Schlamm, was ein quatschendes Geräusch erzeugte. Sie ging in die Hocke und lauschte.

Nach zwanzig Herzschlägen hörte sie immer noch keine Geräusche. Also stand sie auf und schlich in die Siedlung, verschwand im Schatten.

Alles war stumm, nicht einmal die Hunde kläfften, als sie vorbeiging. Schon bald öffnete sich der Vorhof der Methalle vor ihr, kalt und still, und die Halle selbst lag dunkel unter dem Licht der Sterne. Wieder machte Orka eine Pause und lauschte, während sie den Blick durch die Dunkelheit gleiten ließ. Sie sah etwas auf den Stufen vor den Türen der Methalle, einen schwarzen Schatten. Ein Wachposten saß schlafend an einen Pfeiler gelehnt, ein dickes Fell über die Schultern gezogen.

Orka ging am Rand des Vorhofs entlang, immer eine Wand im Rücken, dann blieb sie wie angewurzelt stehen. Ein Geräusch!

Ein Stöhnen im Hof, vor den Stufen der Methalle.

Sie spähte in die Richtung der Laute, und die Schatten wurden allmählich zu Gestalten. Zwei Gestalten, die am Boden lagen, die Arme hoch erhoben. Sie waren an den Handgelenken gefesselt und an einen Pfosten gebunden. Eine von ihnen wimmerte, ein trauriges, erbärmliches Geräusch, die andere Gestalt schien zu schlafen oder bewusstlos zu sein.

Die Wolken rissen auf, und das Mondlicht tauchte den Hof für ein paar Herzschläge in sein schimmerndes Licht, dann verbarg er sich wieder hinter Wolken, und es war erneut dunkel.

Aber Orka hatte gesehen, wer an den Pfahl gebunden worden war.

Mort und Lif, die Söhne von Virk.

Sie sind zum Althing zurückgekehrt.

Wenn sie an einen Pranger auf dem Hof gefesselt worden waren, dann hatten sie ein Verbrechen begangen. Über sie würde zu Gericht gesessen und eine Strafe würde verhängt werden. Sie blickte kurz zu der schlafenden Wache auf den Stufen. Sie konnte die beiden zurücklassen und war auch gerade dabei, genau das zu tun, als Brecas Gesicht vor ihrem inneren Auge auftauchte.

Ich bin traurig wegen Mort und Lif, Mama, hatte er zu ihr gesagt.

Sie knirschte mit den Zähnen, dann schlich sie gebückt über den Hof und tauchte hinter den beiden Brüdern wieder auf. Behutsam schob sie eine Hand über den Mund des Jüngeren der beiden Brüder, Lif, der wach war, und fühlte, wie er sich versteifte und sich wehren wollte.

»Ich bin’s, Orka. Sei ruhig!«

Sofort hielt er sich still.

»Ich lass dich jetzt los. Machst du auch nur das geringste Geräusch, bringe ich dich um«, hauchte sie ihm ins Ohr.

Er nickte, und sie schnitt ihn frei. Dann kroch sie um ihn herum, sodass er zwischen ihr und dem Wachposten auf den Stufen der Methalle war. Prüfend legte sie die Hand an Morts Hals, der regungslos am Pfosten lehnte. Blut tropfte von einer Platzwunde an seinem Schädel auf den Boden, aber er atmete noch.

»Wir sind zurückgegangen«, flüsterte Lif. »Wir haben versucht, Guðvarr zu töten, aber es hat nicht geklappt. Morgen werden wir verurteilt, entweder ausgestoßen oder hingerichtet, hat Sigrún gesagt.«

Orka legte einen Finger auf die Lippen und kroch dann von Lif weg zu dem schlafenden Wachposten. Sie zog ihren Scramasax aus der Scheide und sah, dass es eine Frau war, die vor ihr auf den Stufen lag. Blonde Haarsträhnen lugten unter der Kapuze ihres Umhangs hervor und schimmerten im unruhigen Licht der Sterne.

Die Holzdielen knarrten, als sie ihr Gewicht auf die erste Stufe stellte.

Die Wächterin rührte sich und öffnete die Augen.

Orka rammte ihr den Scramasax in die Kehle, drückte ihn tief hinein, während sie die andere Hand über den Mund der Frau presste. Sie spürte, wie ihre Klinge gegen das Rückgrat stieß. Dann zog sie sie heraus, und ein Schwall Blut spritzte schwarz im Sternenlicht aus der Kehle der Frau. Sie sank zusammen, gurgelte und verstummte. Orka wischte ihre Klinge am Pelz der Frau sauber, richtete sie auf und lehnte sie wieder an den Pfosten, damit sie in einer schlafenden Position blieb. Dann schlich sie zu Lif zurück.

Der beobachtete sie mit aufgerissenen Augen.

Orka legte einen Finger an die Lippen und zerschnitt das Seil, das Lif und Mort an den Pfosten band. Lif kam als Erster frei und fing Mort auf, dessen Arme herunterfielen und der bewusstlos in den Schlamm zu kippen drohte.

Orka beugte sich vor und legte den Mund an Lifs Ohr.

»Schaff deinen Bruder zu eurem Boot, sammle so viel Proviant, wie du in einem Beutel tragen kannst, und warte auf mich am Fjord, so nah wie möglich an der Rückseite der Methalle. Wenn du die ersten Strahlen der Morgenröte siehst, und ich bin nicht da, dann rudere fort.«

Orka verschwand, bevor Lif irgendetwas erwidern konnte.

Sie schlich lautlos durch den Schatten um die Methalle herum, bis sie die Rückseite erreicht hatte. Dort gab es keinen Zugang, sondern nur ein verschlossenes Fenster. Dahinter lag Jarl Sigrúns Schlafkammer. Orka wusste, dass Drengr am Herdfeuer in der Hauptkammer der Halle schlafen würden. Aber es waren nicht alle Krieger Jarl Sigrúns hier. Eine Gruppe Reiter war auf dem Pfad von den Hügeln hinab an Orka vorbeigekommen. Es waren sechs von Sigrúns Herdkarls und eine Handvoll anderer Krieger. Einige gingen zu Fuß, während andere auf einem Ochsenfuhrwerk gefahren waren. Guðvarr war nicht unter ihnen gewesen. Man hatte ihnen wahrscheinlich befohlen, das Feuer und den Rauch von Orkas Gehöft zu untersuchen. Aber damit blieben immer noch mindestens ein Dutzend Drengr in Fellur zurück. Jarl Sigrún würde sie bei sich behalten wollen, um das Althing zu sichern.

Und Sigrúns Thrall wird ebenfalls bei ihr sein.

Orka stellte sich neben das verschlossene Fenster, zog lautlos ihren Scramasax aus der Scheide und machte sich an dem Schloss zu schaffen. Sie arbeitete langsam und behutsam, bis sie spürte, wie der Riegel nachgab. Mit einer schnellen Bewegung zog sie das Fenster auf, kletterte in den Rahmen und ließ sich von da in die Kammer hinab.

Dunkelheit umgab sie, das schwache Glühen eines heruntergebrannten Herdfeuers, und sie bemerkte eine Bewegung am Fußende des Bettes. Jemand in der Nähe des Herdfeuers bewegte sich im Schlaf. Feuerschein schimmerte auf Eisen, auf dem Kragen eines Thralls.

Orka trat in die Kammer, und jetzt rührten sich auch die Gestalten auf dem Bett leicht. Eine Wolldecke wurde zurückgeschoben und entblößte Jarl Sigrún und ihren Liebhaber, die nackt und ineinander verschlungen auf der Matratze lagen. Der Mann erwachte, löste seine Beine von Sigrúns und stützte sich auf einen Ellbogen auf. Sein schlanker Körper war bleich, und die Muskeln traten im Licht der Sterne und des Feuerscheins hervor. Orka schlug nach seiner Kehle, Blut spritzte, und er fiel gurgelnd zurück. Dann hämmerte sie den Griff ihres Scramasax gegen Sigrúns Kiefer, als die Jarl mit einem Ruck hochfuhr und sich aufsetzen wollte. Sie wurde zurückgeschleudert und blieb reglos auf der Matratze liegen. Im nächsten Moment hatte Orka ihren Scramasax auf die Thrall gerichtet, die bereits aufgesprungen war und ihre Waffe halb aus der Scheide gezogen hatte. Die Spitze von Orkas Klinge grub sich in die Haut an der Kehle der Thrall.

»Lass ihn los!«, zischte Orka.

Die Thrall starrte sie an. Ein gelbes Feuer glühte in ihren Augen auf, und sie spannte die Muskeln an. Dann aber atmete sie langsam aus, ließ ihren Scramasax wieder in die Scheide zurückgleiten und breitete die Arme aus.

»Ich brauche ihre Namen, und ich will wissen, wohin sie gegangen sind«, sagte Orka.

Die Thrall öffnete den Mund, um zu antworten.

»Und belüg mich nicht«, setzte Orka hinzu. »Ich weiß, dass du es warst. Ich habe gesehen, wie du das Blut meines Mannes gekostet hast.« Ein Zittern lief durch ihren Körper, eine Welle von Wut. Sie brauchte einen Moment, um sie zu kontrollieren, um den Drang zu unterdrücken zuzustechen, zu töten und zu vernichten.

»Ihre Namen und ihr Ziel!«, zischte Orka.

Die Thrall zögerte, dann nickte sie kurz.

»Ich bin nur ein Niðing, eine Thrall«, knurrte die Frau. »Ich gebe keine Befehle, sondern ich befolge sie.«

»Wer hat es befohlen? Den Mord an meinem Mann und die Entführung meines Sohnes?«

Schweigen, während die Thrall Orka in die Augen starrte. Dunkelgelbe Funken glitzerten darin.

»Rede, Wolfsbrut!«, fauchte Orka.

»Mein Name ist Vafri«, erwiderte die Thrall, »und ich stamme von Ulfrir ab, dem großen Wolfsgott, und Hundar, dem Hund. Wir waren einst stolz und stark.« Sie schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. »Wenn ich schon sterben muss, dann sollst du vorher meinen Namen und meine Herkunft erfahren.«

»Mich kümmert es nicht, wer du warst. Jetzt bist du eine Thrall, und dafür bemitleide ich dich, aber du bist der Grund dafür, dass mein Ehemann tot ist …« Sie packte unwillkürlich den Griff ihres Scramasax fester. »Wer hat das befohlen?« Ihre Stimme war ein Grollen tief in ihrer Kehle. »Ich frage nicht noch einmal.«

Vafri verzog den Mund, und ihre hell schimmernden Zähne wurden sichtbar. »Mein Herr ist Hakon, Sohn von Königin Helka«, sagte sie. »Mir wurde befohlen, alle Besessenen zu melden, die hier auftauchen.«

»Wem zu melden?«, zischte Orka.

Schweigen.

Orka zog die Spitze ihrer Klinge über Vafris Kehle. Blut tropfte aus der Schnittwunde.

»Er ist … niemand, dem man sich entgegenstellt«, antwortete Vafri.

»Sein Name!«, wiederholte Orka.

»Drekr.« Ihre Stimme zitterte.

Orka holte tief Luft, und ihre Gedanken überschlugen sich. Sie hatte diesen Namen von dem Jüngling am Fluss gehört.

»Und wohin bringt Drekr meinen Sohn?«, wollte Orka wissen.

Vafri zuckte mit den Schultern. »Solche Dinge verrät man mir nicht.«

Orka machte eine leichte Bewegung aus dem Handgelenk, und der Scramasax zog eine tiefe Wunde in die Haut an Vafris Kehle.

»Ich schwöre, ich weiß es nicht!«, zischte die Úlfhéðnar.

»Dann rate!«, befahl Orka. »Du besitzt die List des Wolfs – also wohin, glaubst du, bringen sie meinen Sohn?«

Wieder herrschte Schweigen, und sie starrten sich in die Augen.

»Vielleicht nach Darl«, sagte Vafri schließlich. Ihr Blick zuckte über Orkas Schulter und richtete sich dann wieder auf Orka. Als das Bett knarrte, fuhr Orka herum, doch es war zu spät. Jarl Sigrún hatte nach ihrem Waffengurt gegriffen. In diesem Augenblick krachte eine Faust gegen Orkas Kiefer. Vafri hatte reagiert, sobald Orka sie nicht mehr im Blick hatte. Orka taumelte zurück und schlug mit ihrem Scramasax zu, um Vafri zurückzutreiben. Hastig schüttelte sie den Kopf, um die weißen Punkte vor ihren Augen zu vertreiben. Dann machte sie erneut einen Schritt zur Seite, dichter zu Sigrún, während sie gleichzeitig einen der Scramasaxe aus ihrem Gürtel zog, die sie aus Thorkels Leiche gezerrt hatte.

Sigrún hatte bereits ihr Schwert in der Faust, war auf den Beinen und zog die Klinge aus der Scheide. Sie schrie, was sofort Bewegung vor der Tür der Kammer auslöste, in der Methalle. Eine Stimme rief etwas. Orka schlug zu, diagonal von oben rechts nach unten links. Sigrún fiel schreiend zurück, und Blut spritzte aus einer tiefen, klaffenden Wunde von ihrer Stirn bis zum Kinn.

Vafri knurrte und stürzte sich erneut auf Orka. Sie hatte einen Scramasax in der Faust, ihre Augen glühten bernsteinfarben, und die Blutlust loderte hell in ihr. Orka erinnerte sich, wie die Thrall sich auf Virk gestürzt und ihn überwältigt hatte. Sie knurrte ebenfalls und griff Vafri unvermittelt an, was diese überraschte.

Die Úlfhéðnar stieß mit ihrem Scramasax zu, aber Orka wich aus, und die Klinge fuhr unverrichteter Dinge über ihren Kettenpanzer. Dann schwang sie ihren linken Arm um Vafris und hielt ihn fest, verstärkte den Druck und hörte, wie ein Knochen brach. Vafri keuchte, und durch ihren Schwung prallte sie gegen Orka. Sie riss den Kiefer auf, und ihre plötzlich spitzen und scharfen Zähne schnappten nach Orkas Gesicht und Hals, während sie mit der freien Hand zuschlug. Ihre Nägel waren so scharf wie Krallen. Ein brennender Schmerz flammte in Orkas Wange auf. Sie rammte ihren Kopf in das Gesicht der Thrall und zertrümmerte Vafris Nase und Oberlippe. Knorpel knackten, und Blut spritzte. Die Lippe war aufgeplatzt, und die Zähne schienen nur noch locker im Kiefer zu sitzen. Vafris Beine gaben nach, aber sie war noch bei Bewusstsein, knurrte und spuckte Blut, während Orka der Thrall den Scramasax in ihrer rechten Faust in den Bauch rammte.

Vafri stöhnte auf und krümmte sich zusammen.

Stiefelschritte trommelten auf Holz, und vor der Tür ertönte Geschrei.

Orka stieß Vafri zurück und riss ihre Klinge heraus. Die Thrall taumelte nach hinten und fiel auf die Knie. Dann kippte sie auf die Seite, eine Hand auf die Wunde in ihrer Magengrube gepresst, während sie mit der anderen nach dem Griff ihres Scramasax tastete, der dicht neben ihr auf dem Boden lag.

Die Schreie vor der Kammer wurden lauter, und jemand trat die Tür nach innen auf. Silhouetten standen in der Öffnung.

Jarl Sigrún stolperte auf Orka zu und schwang ihr Schwert über ihrem Kopf. Ihr Gesicht war eine einzige Wunde aus Blut und klaffendem Fleisch. Orka fing den Schwerthieb mit ihrem Scramasax ab und lenkte ihn zur Seite. Sigrún verlor die Balance und stolperte über das Bett.

Die Drengr schrien unartikuliert, als sie in die Kammer stürmten, Schwerter und Äxte in den Fäusten. Guðvarr war der Erste; seine Schulter war noch bandagiert wegen der Verletzung, die Virk ihm beigebracht hatte. Auch er hielt sein Schwert in der Faust. Einen Moment lang erstarrte er, als er das ganze Blut und die Leichen im Licht der Glut und des Mondlichts sah. Dann richtete sich sein Blick auf Orka.

Orka schleuderte ihren Scramasax nach ihm, und Guðvarr sprang hastig zurück, prallte gegen die Drengr hinter ihm. Sie alle stürzten zu Boden. Der Scramasax schlug in den Türpfosten und blieb dort zitternd stecken. Orka machte einen raschen Schritt nach vorn und trat Vafris Scramasax von ihren tastenden Fingern weg. Die Hand der Thrall fiel zu Boden.

»Geh ohne eine Klinge über die Straße der Seelen!«, warf Orka der sterbenden Frau verächtlich hin. Dann drehte sie sich um, rannte zum Fenster und sprang in die Dunkelheit.

Sie landete auf ihrer Schulter, aber der weiche Boden dämpfte ihren Sturz ab. Hastig rollte sie sich herum, kam auf die Füße, immer noch einen Scramasax in ihrer Faust, und rannte los. Schreie hallten aus Sigrúns Fenster, sie hörte, wie jemand hindurchkletterte und auf dem Boden landete. Andere Schreie ertönten aus größerer Entfernung, als Drengr aus den Toren der Methalle stürmten.

Orka rannte durch eine Gasse und erreichte eine weitere Straße. Sie rutschte aus, gewann das Gleichgewicht wieder und rannte nach links, dann wieder nach rechts in eine andere Gasse. Lichter flackerten auf, als Flammen entzündet wurden, Köpfe tauchten in Türöffnungen auf, denn die Schreie von Jarl Sigrúns Drengr rissen die Siedlung aus dem Schlaf.

Die nächste Straße, Gestalten, die aus Türen traten, dann eine andere Gasse, und endlich sah Orka das Wasser des Fjords zwischen den Gebäuden schimmern.

Hornsignale ertönten, laut und schrill. Jetzt war die ganze Siedlung wach.

Orka rannte aus der Gasse und gelangte auf freies Gelände – ein Hang, der sanft zum Fjord hin abfiel. An dessen Ufer lagen Boote vertäut, und eine kleine Pier führte ins Wasser hinaus. Orka polterte über die hölzerne Pier, während sie unter den Booten, die dort vertäut waren, nach Lif und Mort suchte.

Dann sah sie sie: Die beiden jungen Männer saßen auf den Ruderbänken ihres kleinen Fischerbootes, die Riemen bereits in den Fäusten. Orka rannte schneller, schlidderte über das Holz und sprang ins Boot.

»Rudert!«, keuchte sie und richtete sich auf. »Nach Süden, aufs Meer hinaus.«

Mort und Lif tauchten ihre Riemen ohne ein Wort ein. Mort hatte einen blutbefleckten Verband um den Kopf.

Füße trampelten über die Pier, und Stimmen brüllten ihnen etwas hinterher. Ein Speer zischte durch die Luft und verschwand fast lautlos rechts neben Orka. Sie sah Guðvarr auf der Pier, der Beleidigungen schrie und Rache schwor. Die Adern in seinem Hals traten deutlich hervor. Das Boot wurde schneller und durchschnitt eine silbrig schäumende Welle, als es sie in die Dunkelheit entführte.