KAPITEL EINUNDVIERZIG

VARG

Varg kroch einen felsigen Hang mit gefrorenen Grasbüscheln und einer dünnen Erdschicht über dem Gestein hinauf, umringt von den Blutgeschworenen. Vor ihm kauerten Edel, Torvik und ihre Kundschafter hinter einem Felsbrocken. Edel flüsterte Glornir etwas zu, während sie über die Kante des Hangs spähten. Die Sonne schwebte dicht über den Gipfeln des Knochenmassivs, hatte aber das Tal noch nicht erreicht, durch das sie schlichen. Die Schatten klammerten sich wie dichter Nebel an den Talboden.

Die Kante des Hügels war nah, und Varg schob sich nach vorn, um etwas sehen zu können, als sich die Blutgeschworenen am Rand entlang hinlegten und in das Tal hinabsahen. Mit einem Schild auf dem Rücken wie eine Echse einen Hang hinaufzuklettern war nicht so einfach, wenn man auch noch einen Waffengurt umgeschnallt hatte und einen Speer in der Faust hielt. Einar Halbtroll nahm auf der Kuppe des Hangs mehr Platz ein als ein Felsbrocken, aber er warf einen Blick zurück und winkte Varg zu sich, während er gleichzeitig einen anderen Blutgeschworenen finster anfunkelte, der sich gerade rechts neben Einar fallen lassen wollte. Varg kletterte schnell zu ihm und schob sich neben Einar. Der lächelte ihn an und legte einen dicken Finger an die Lippen. Einar schien Gefallen an ihm gefunden zu haben, seit dem Rudertanz und Vargs Entschuldigung. Er hatte ihm sogar bei der letzten Mahlzeit ein Stück von seinem Brotlaib angeboten. Varg hatte das Angebot nur zu gern angenommen, denn alles war besser als dieses Hammelfleisch, das so zäh war wie ein Stück Leder.

Vor ihnen lag ein Tal mit steilen Hängen. Es verlief von Nord nach Süd und war durchzogen von einem, wie es aussah, ausgetretenen Pfad, der im Osten verschwand. Ein Wasserfall breitete sich am nördlichen Rand des Tals aus. Er stürzte von einer Klippe hinab, die Varg nur sehen konnte, wenn er den Kopf drehte. Am Fundament des Berges wirbelte eine ständige Gischtwolke. Das Becken war sehr breit und fächerte sich schließlich zu einer Handvoll schmaler Kanäle auf.

Drei Tage waren verstrichen, seit Edel die Leichen in den Bäumen gefunden hatte. Mit jedem Schritt, den sie taten, hatte Varg die steigende Anspannung bemerkt. Er focht einen innerlichen Kampf aus, ob er noch einmal mit Skalk über die Durchführung einer Akáll reden sollte, oder ob er besser auf Glornirs Zustimmung wartete. Als Skalk das Feuer in seiner Faust beschworen hatte, war Vargs Verwirrung nur gestiegen. Es war zwar nur eine einzelne Flamme gewesen, aber Varg war es eiskalt über den Rücken gelaufen. Als sie dann weiter ins Knochenmassiv vorgerückt waren, war dieser Konflikt in seinem Kopf verblasst und von einer anderen Empfindung überlagert worden – einem Beben in seinem Blut. Es war fast so, als könnte er die wachsende Gefahr riechen oder wittern, so als würde er sich einem verwesenden Leichnam nähern.

Der Talboden lag jetzt im Zwielicht, aber während Varg dalag, stieg die Sonne höher, und ihr Licht glitt wie flüssiges Gold die Hänge hinab. Die Dunkelheit floh davor. Schließlich glitzerten die Flüsse im Tal blendend hell. Varg hörte, wie Edel leise mit Glornir und Vol sprach. Edels Wolfshunde hatten sich geduckt und die Ohren gespitzt. Einer knurrte. Edel sah eine Bewegung, eine Gestalt, die im Tal in der Nähe des Wasserfalls auftauchte. Selbst aus dieser Höhe erkannte Varg, dass es sich um eine große Kreatur handelte: muskulös, mit zwei Hörnern und riesigen Hauern, die aus ihrem Unterkiefer herausragten. Sie trat aus einem Kieferngehölz heraus und ging zum Becken.

»Was ist das?«, zischte Varg.

»Ein Troll«, brummte Einar neben ihm.

Der Troll blieb am Rand des Beckens stehen, sah sich um und betrachtete die Hänge des Tals. Dann schien er einen Moment zu wittern, und Varg hatte plötzlich Angst, dass man sie sehen konnte oder dass die Kreatur irgendwie ihre Witterung aufnahm. Doch dann blickte sie zu den Kiefern zurück und gab irgendjemandem ein Zeichen. Eine Reihe von Leuten tauchte zwischen den Bäumen auf. Sie waren deutlich kleiner als der Troll, offensichtlich Menschen, und Varg sah, wie die Sonne auf Eisen blinkte. Sie waren mit Ketten um Hals und Knöchel aneinandergefesselt. Es waren vielleicht vierzig Menschen, die zwischen den Bäumen heraustraten und zum Becken gingen. Sie alle hielten Eimer in den Händen. Dann tauchten noch mehr Kreaturen auf, von denen einige menschlich aussahen. Sie hielten Speere in den Händen, und das Licht funkelte auf ihren Kettenhemden. Andere waren eindeutig nicht menschlich. Sie waren muskulös, hatten übermäßig lange Gliedmaßen, gingen auf zwei Beinen, aber geduckt und gebeugt. Sie stützten sich beim Laufen auf allen vieren mit den Knöcheln ihrer unnatürlich langen Arme auf der Erde ab. Über den Schultern trugen sie Wehrgehänge mit Waffen.

»Das sind Skraelinge, falls du das fragen wolltest«, sagte Svik, der auf der anderen Seite neben Varg lag.

Die Thralls knieten sich neben das Becken und füllten ihre Eimer. Dann gab der Troll ein lautes bellendes Schnauben von sich. Sie standen wieder auf und gingen zu den Bäumen zurück. Nach wenigen Herzschlägen waren sie wieder verschwunden, und der Troll, die Krieger und Skraelinge folgten ihnen. Wenige Augenblicke später lag das Tal wieder verlassen da, und nichts verriet, dass sie überhaupt da gewesen waren.

Befehle wurden in der Reihe der Blutgeschworenen weitergegeben. Glornir befahl seine Hauptleute zu sich. Svik kroch davon, den Kopf von der Hügelkuppe verborgen, während er sich Glornir näherte. Røkia folgte ihm genauso vorsichtig, zusammen mit Sulich. Glornir sprach mit ihnen, zeigte einige Male in das Tal, und dann kam Svik zu ihm zurückgekrabbelt. Torvik begleitete ihn.

»Halbtroll, Hirnlos, Hammerhand, ihr kommt mit mir«, sagte Svik. »Und du, Halja Flachnase, und du, Vali Pferdemaul«, sagte er zu einer Frau und einem Mann, Schwester und Bruder, die beide wortkarg und ernst wirkten. Im nächsten Moment huschte Svik über den Hang dicht unterhalb der Kammlinie nach Süden, zu einem Kieferngehölz auf der Kuppe des Hangs. Varg sah die anderen an. Torvik grinste, und dann folgten sie alle Svik. Der Rest der Blutgeschworenen teilte sich ebenfalls in kleinere Gruppen auf. Jede wurde von einem der Hauptleute Glornirs angeführt und von einem Kundschafter von Edel begleitet. Varg sah, dass sich Skalk und seine beiden Wachen dicht an Glornir hielten. Dann führte Svik sie auch schon in das Kieferngehölz auf dem Kamm und die andere Seite des Hangs hinab. Er war steil, und schon bald mussten sie die Deckung der Bäume verlassen. Torvik übernahm die Spitze. Er ging über einen verschlungenen Pfad den Hang hinab und benutzte Felsbrocken und Büsche als Deckung. Erde und Steine lösten sich unter Vargs Füßen, aber er war trittsicher und hielt leicht Schritt mit Torvik. Einar rutschte einmal weg und verursachte durch sein Gewicht einen kleinen Erdrutsch. Aber Svik stützte ihn, und dann wurde der Boden wieder flach, und sie standen auf der Talsohle.

Torvik gestattete ihnen einen Moment, sich zu sammeln, dann ging er weiter, quer durch das Tal, watete platschend durch einen seichten Bach und ging die andere Seite hinauf, in die Deckung von noch mehr Kiefern. Sie schwenkten nach Norden ab, folgten der Länge des Tals zum Wasserfall. Der Lärm des rauschenden Wassers stieg stetig an, bis Varg die Schuppen von Lachsen im Becken schimmern sah. Sie waren jetzt so nah, dass sie den Pfad zwischen den Bäumen erkennen konnten, den der Troll und die Thralls benutzt hatten. Torvik bog nach Osten ab und führte sie höher die Talflanke hinauf, parallel zum Pfad, den sie immer im Blick behielten. Sie bewegten sich leise, fast wie Wölfe. Der Boden unter ihren Füßen war von Kiefernnadeln übersät, die jeden Schritt dämpften. Varg glaubte, dass er eine Bewegung auf der gegenüberliegenden Seite des Pfades sah, Schatten zwischen den Bäumen. Er ging schneller, bis er neben Torvik war, berührte ihn an der Schulter und zeigte dorthin.

»Das sind Blutgeschworene«, flüsterte Torvik, nachdem sie einen Moment wie angewurzelt stehen geblieben waren und lauschten. Dann gingen sie weiter.

Varg spürte eine Veränderung um sich herum, eine Vibration in der Luft und im Boden. Er blickte hinunter, erwartete fast, dass der Nadelteppich sich bewegte, über den sie gingen, aber alles war ruhig. Trotzdem steigerte sich das Gefühl, je weiter sie gingen, ein Druck von allen Seiten, wie ein sich aufbauender Sturm, ein Kribbeln in seinem Blut.

Torvik blieb stehen, hob eine Faust, und alle sammelten sich um ihn.

Der Pfad, dem sie folgten, mündete auf einer Lichtung. Der Boden war zu Schlamm zerstampft, und am gegenüberliegenden Ende ragte eine Felswand auf. In die Klippe war ein Bogengang geschlagen, groß und breit, in dessen Dunkelheit Fackeln wie kleine Lichtpunkte leuchteten. Leute gingen durch den Eingang ein und aus. Ihre Körper waren fast zu Skeletten abgemagert, die Kleidung zerlumpt. Es war ein ständiger Strom von angeketteten Thralls, die Fuhrwerke mit Ponys führten. Die Karren waren voller Gestein. Sie bogen außerhalb des Tunneleingangs nach Norden ab und führten die Fuhrwerke zum gegenüberliegenden Rand der Lichtung. Dort erhob sich ein Berg aus Felsbrocken und Trümmern. Sie luden die Fuhrwerke ab und führten sie dann wieder zurück in den Tunneleingang. Die Dunkelheit verschlang sie, als träten sie freiwillig in den Schlund einer schlafenden Schlange.

Torvik deutete auf verschiedene Punkte auf der Lichtung. Varg sah Krieger mit Speeren, und dazu ein paar Skraelinge. Ihr Aussehen gefiel Varg überhaupt nicht. Sie trugen dicke Tuniken wie Krieger, an ihren Gürteln hingen Waffen, die jedoch ziemlich primitiv und schwer aussahen, ihre Arme waren lang und muskulös, sie hatten dicke Hälse, und selbst aus dieser Entfernung schien irgendetwas mit ihren Gesichtern … nicht zu stimmen.

Ich habe mein ganzes Leben auf einem Gehöft verbracht, und die schlimmsten Vaesen, die ich gesehen habe, waren mutwillige Kobolde, die einmal in der Julzeit die Milch verdorben haben. Und ein Nest von frisch geborenen Schlangen am Fluss, aber die waren nicht größer gewesen als Aale.

Der Troll war nirgendwo zu sehen, obwohl der Tunneleingang mehr als groß genug für ihn war.

»Gut gemacht, Junge.« Svik klopfte Torvik auf die Schulter. »Von hier an mache ich weiter.« Er rammte seinen Speerschaft in den Boden, fuhr sich mit den Fingern durch den Bart, zog die Knoten heraus, zwirbelte seinen Schnauzbart und machte Anstalten, ihn zu flechten.

»Was machst du da?«, erkundigte sich Varg flüsternd.

»Ich mache mich fertig«, erwiderte Svik.

»Wofür?«

»Für das Signal. Natürlich wird es einen Kampf geben. Blut wird vergossen werden, und ich will in der Schlacht gut aussehen. Das ist wichtig.« Er musterte Varg von Kopf bis Fuß. »Ich schlage vor, du bereitest dich ebenfalls vor.« Svik grinste. »Zeit für uns, Silber und Schlachtenruhm zu verdienen.«

Er war mit seinem Bart fertig, schnallte seinen Helm vom Gürtel, setzte ihn auf und schloss den Kinnriemen. Dann streifte er den Schild vom Rücken, packte ihn und ließ ihn an der Seite herunterhängen. Anschließend zog er seinen Speer aus der weichen Erde.

Die anderen um ihn herum folgten seinem Beispiel. Halja und Vali lehnten ihre Schilde an einen Baum, setzten sich die Helme auf und zogen die Lederfutterale von ihren Speerblättern. Dann überprüften sie den lockeren Sitz von Scramasaxen und Schwertern in ihren Scheiden. Als sie fertig waren, nahmen sie ihre Schilde und bezogen Aufstellung neben Svik. Jökul Hammerhand hockte sich hin, nahm eine Handvoll Kiefernnadeln und Erde, zerrieb sie zwischen den Handflächen und ließ sie durch die Finger gleiten. Dann stand er auf, setzte den Helm auf, schnallte ihn fest und zog einen Hammer aus einer Schlaufe an seinem Gürtel. Der schwarze Eisenkopf war löchrig und fleckig, der Schaft länger als der eines normalen Hammers. Die Waffe sah eher aus wie eine Axt. Er streifte sich den Schild vom Rücken, stand auf und betrachtete dann finster die Skraelinge auf der Lichtung.

Einars Schild war so groß wie ein Tisch. Er nahm ihn vom Rücken, packte ihn und zog anschließend eine Bartaxt aus dem Gürtel.

Torvik lockerte seinen Scramasax und nahm ebenfalls den Schild vom Rücken. Dann stand er mit Schild und Speer in der Faust da, bereit zum Kampf.

Varg blinzelte, als ihm klar wurde, dass er besser ihrem Beispiel folgen sollte. Er löste seinen Helm vom Gürtel und setzte ihn über die Wollmütze, die er trug. Dann schnallte er den Riemen unter dem Kinn fest. Anschließend überprüfte er den Zug seines Scramasax’, seiner Axt und seines Hackmessers an seinem Waffengürtel. Zufrieden ließ er sie wieder zurückgleiten. Er nahm das Lederfutteral von seinem Speerblatt, klemmte es in den Gürtel und schüttelte zuletzt den Schild vom Rücken. Er packte den Holzgriff. Seine Faust verschwand in der Aushöhlung des Eisenbuckels.

Jetzt blickte er auf. Sein Herz hämmerte in seiner Brust. Er bemerkte, dass Sviks Blick auf ihm ruhte.

»Brüder, Schwestern, sind wir bereit?« Jetzt klang Svik überhaupt nicht mehr humorvoll. »Denkt daran, wir sind die Blutgeschworenen. Ob wir stehen oder fallen, wir sind durch einen Eid aneinander gebunden. Das ist unsere Stärke.«

Die Leute nickten und knurrten zustimmend.

Dann sah Svik Varg und Torvik an. »Ihr beide seid es zwar noch nicht, aber solltet ihr das hier überleben …« Er zuckte mit den Schultern und grinste.

Sehr tröstlich, dachte Varg. Er empfand den starken Drang, seine Blase zu leeren.

»Folgt mir.« Svik führte sie zwischen den Bäumen hindurch den Hang hinunter, auf die Lichtung und den Höhleneingang zu. Er blieb stehen, bevor die Bäume sich zu sehr ausdünnten. Er war immer noch auf dem Hang und vielleicht fünfzig Schritt von dem ebenen Boden und der schlammigen Lichtung entfernt. Svik stellte den Schild auf den Boden und kniete sich dahinter. Die anderen folgten seinem Beispiel bis auf Einar, der stehen blieb. Sie alle trugen Brynjur, außer Varg und Torvik. Jökul trug eine von Brandlöchern übersäte Lederschürze über seinem Kettenpanzer.

Varg betrachtete über den Rand seines Schildes hinweg die Lichtung. Sein Blut summte hier unten lauter, und seine Knochen vibrierten wie der Schlag einer Trommel. Gleichzeitig regte sich Furcht in seiner Magengrube, seine Knie wurden weich und sein Mund trocken. Er blickte auf Vaesen und Krieger hinunter, alle mit scharfem Eisen oder Stahl in ihren Gürteln oder in ihren Fäusten. Und er würde gegen sie kämpfen. Er schluckte, aber sein Mund war völlig ausgetrocknet. Steh auf, geh weg, riet ihm die leise Stimme in seinem Hirnkasten.

Hau doch einfach ab. Wie willst du dein Gelübde an Frøya einlösen, wenn du tot bist? Was bedeuten dir diese Leute schon? Du solltest warten, bis die Schlacht losgeht, und dann einfach weglaufen.

Stattdessen stand er da und wartete darauf, dass sich die Schwingen des Todes über die Lichtung senkten.

Dann sahen sie am Rand der Lichtung eine Bewegung. Glornir trat in die Sonne hinaus.

»Los.« Sviks Stimme war ein drohendes Knurren, als er aufstand und den Rest des Hangs hinabschritt. Die anderen folgten ihm. Einar und Jökul sicherten die Flanken, Torvik, Halja und Vali folgten Svik auf dem Fuß. Varg stand einen Moment zögernd da. Dann hob er den Schild und folgte ihnen.