ELVAR
Elvar löste die Knoten in dem Walrosstau, mit dem sie Grend auf die Pritsche eines leeren Fuhrwerks gebunden hatte. Ihre Finger waren gefühllos und geschwollen. Sie fluchte, als sie sich lange mit einem Knoten abmühte, bis sie ihn schließlich lösen konnte.
»Wann immer du bereit bist, Kleine«, brummte Sighvat. Dann schoben sie gemeinsam Grend von der Pritsche des Fuhrwerks. Elvar nahm die Knöchel des Mannes, und Sighvat packte den bewusstlosen Krieger unter den Achseln. Zusammen legten sie ihn auf einen Wollmantel, den Elvar auf dem Boden ausgebreitet hatte. Dann machte sie sich daran, seine Verletzungen zu untersuchen.
Nachdem sie die Isbrún-Brücke überquert hatten, hatten sie Halt gemacht, um ihre Verletzungen zu versorgen und ihre Verluste zu überprüfen. Ein Fuhrwerk und zwei Zugpferde waren verloren gegangen. Auf dem Fuhrwerk waren Bündel mit Speeren und einige Fässer mit Bier und Pferdefleisch und Molke gewesen. Drei Schlachtgrimmen waren auf dem Hügel dem Tennúr-Schwarm zum Opfer gefallen.
Fast jeder hatte Verletzungen davongetragen, angefangen von ein paar Kratzern bis hin zu klaffenden Wunden, die die Vaesen mit ihren scharfen Krallen gerissen hatten. Sie hatten diese Wunden mit abgekochtem Wasser und Essig säubern müssen, einige wurden genäht und dann mit Tinkturen aus Schafgarbe und Honig bestrichen, mit Moos bedeckt und mit Leinentüchern verbunden. Agnar hatte befohlen, ein Feuer zu entzünden, da einige Wunden kauterisiert werden mussten.
»Danke, Sighvat«, sagte Elvar, als sie sich neben Grend kniete. Der Hüne stand auf, warf einen Blick auf Grend, schlug ihr aufmunternd auf die Schulter, was sie fast umgeworfen hätte, und ging davon.
Der Verband um Grends Kopf war wieder blutdurchtränkt. Er war an Beinen und Gesicht zerkratzt und verwundet worden, aber die übelste Verletzung hatte ihm der Tennúr mit dem schwarzen Felsbrocken am Hinterkopf zugefügt. Uspa war Elvar zu Hilfe gekommen, als sie nach dem Überqueren der Brücke kurz Halt gemacht hatten. Elvar hatte versucht, die Wunde zu säubern und herauszufinden, wie schlimm sie war. Ihre Tränen hatten jedoch ihren Blick verschleiert. Die Seiðrhexe hatte Grends blutiges Haar mit einem scharfen Messer weggeschnitten und Elvar geholfen, die Stelle zu säubern. Die ganze Zeit hatte Elvar das Gefühl gehabt, als umklammerte die Furcht wie eine Faust ihren Magen. Sie bewegte sich fahrig und ungeschickt. Das Gefühl verstärkte sich, als Uspa Grends Schädel mit den Fingerspitzen abtastete.
»Sein Schädel ist nicht gebrochen«, verkündete Uspa nach einer gefühlten Ewigkeit.
Elvar war vor Erleichterung zusammengesunken.
Uspa half ihr, die Wunde gründlich zu säubern, eine Tinktur aus Kräutern und Moos aufzutragen und anschließend einen Verband anzulegen.
»Wenn er aufwacht, soll er einen Trunk aus Pfefferminz und Baldrian zu sich nehmen«, hatte Uspa noch gesagt, bevor sie weitergegangen war, um die Verletzungen der anderen Schlachtgrimmen zu untersuchen.
Grend war noch nicht aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht, und als Agnar befahl, sich bereit zu machen und weiterzuziehen, hatte man Grend auf einem leeren Karren festgebunden.
Dann waren sie weitergezogen. Uspa führte sie in eine unberührte Welt. Elvar wusste nicht genau, wie lange sie durch dieses Land marschiert waren, weil das ständige Tageslicht ihr Streiche spielte, aber sie vermutete, dass es etwa einen halben Tag gedauert hatte.
»Wie geht es ihm?«, sagte jemand hinter ihr. Elvar drehte sich um. Agnar stand vor ihr. Sein Gesicht und eine Seite seines rasierten Schädels waren von Krallen übel zugerichtet worden. Aber die Wunden waren nicht tief, und das Blut verdickte sich bereits zu Schorf. Er kniete sich neben sie, hielt ihr einen Napf mit eingelegtem Hering und gekochtem Kohl hin sowie einen Topf mit Skyr.
»Er ist noch nicht aufgewacht«, antwortete Elvar, während sie den Verband von Grends Kopf entfernte und die Wunde untersuchte. Die Tinktur war immer noch darauf.
Agnar beugte sich dicht zu Grend und schnupperte an der Verletzung.
»Sie riecht nicht brandig«, sagte er, »was immer ein gutes Zeichen ist.« Er tätschelte Elvars Arm. »Er wird aufwachen, wenn sein Körper so weit ist.«
Elvar schniefte und zerdrückte eine Träne, die ihr aus dem Auge zu rinnen drohte.
»Wir sind die Schlachtgrimmen«, sagte Agnar leise. »Unser Leben ist Blut und Kampf. Unwahrscheinlich, dass einer von uns alt und grau in seinem Bett stirbt.« Seine Stimme war freundlich, und Elvar wusste, dass er die Wahrheit sagte. Aber sie musste sich bemühen, ein Schluchzen in ihrer Kehle zu unterdrücken.
»Das weiß ich.« Sie sprach langsam, damit ihre Stimme fest klang. »Ich reise und kämpfe jetzt schon seit Jahren mit den Schlachtgrimmen und habe schon tausendmal gesehen, wie die Schwingen des Todes über uns schwebten. Ich weiß, dass die Rabenflügel sich nicht darum kümmern, wen sie holen, nicht zwischen arm und reich unterscheiden, freundlich oder grausam. Aber Grend hat immer an meiner Seite gestanden und auf mich aufgepasst. Er ist nicht ein einziges Mal dabei verletzt worden, hat nicht mal einen Kratzer abbekommen, und ihn jetzt so zu erleben, so zerbrechlich …«
»Der Tod ist unser ständiger Gefährte, ein Flüstern in unserem Ohr, aber wenn du einen Freund fallen siehst …« Agnar schüttelte den Kopf. »Darauf kann uns nichts vorbereiten, selbst wenn wir durch einen ganzen Fluss von Toten gewatet sind.«
Er sah sie an. »Deshalb kämpfen wir so entschlossen füreinander. Wir lassen die Lebenden nicht im Stich. Wir lassen die nicht im Stich, denen wir Treue gelobt haben.«
»Du bist meinetwegen zurückgekommen«, sagte Elvar. »Als Grend fiel und ich ihn verteidigte, habe ich gedacht, dass wir sterben würden.«
»Ja, ich bin zurückgekommen«, bestätigte Agnar. »Aber jemand anders war noch schneller als ich.« Er lächelte. »Wir können uns unsere Familie nicht aussuchen, aber wir können einander auswählen.« Er deutete mit einer Handbewegung auf die Krieger um ihn herum, die dabei waren, das Lager aufzuschlagen oder sich um die Verletzten und die Pferde zu kümmern. »Das hier ist meine Familie, und sie steht mir näher als meine Blutsverwandten. Es sind meine Schwertbrüder und Schwertschwestern. Ich würde mein Leben für sie opfern, und ich glaube, dass sie auch ihr Leben für mich opfern würden.«
»Das würden wir«, sagte Elvar. »Das würde ich.«
Agnar lächelte und nickte.
Sie saßen eine Weile schweigend da, während Elvar Grends Verbände und seine Wunden untersuchte.
»Du hast nie von deiner Familie gesprochen«, sagte Elvar schließlich.
Agnar blickte ins Nichts. Das Schweigen hielt so lange an, dass Elvar schon glaubte, er würde ihr nicht antworten. Dann seufzte er.
»Da gibt es nichts zu erzählen. Meine Mutter ist an der Schwindsucht gestorben, als ich zehn Winter alt war. Mein Vater hat mich als Thrall verkauft, als ich elf war, weil die Ernte vernichtet wurde und er etwas zu essen für den Winter brauchte.« Er schnitt eine Grimasse. »Jedenfalls hat er versucht, mich zu verkaufen. Ich habe dem Sklavenhändler, der mich kaufen wollte, eine Spaltaxt zwischen die Augen gehämmert und bin weggelaufen.« Er lachte, aber es klang nicht sonderlich fröhlich. »Ich bin sehr lange gelaufen, bevor ich eine neue Familie um mich geschart habe, eine, der ich vertrauen kann.«
Er drückte ihre Hand und stand dann auf.
»Gehen wir bald weiter?«
»Nein. Wir werden ausruhen, unsere Wunden lecken und dann schlafen.« Er blickte zum strahlend blauen Himmel hinauf, über den nur ein paar dünne Wolken zogen, so durchscheinend wie Seide. »Es ist sinnlos, an diesem ewigen Tag auf die Dunkelheit zu warten. Wir marschieren los, wenn wir ausgeruht sind, und machen Pause, wenn wir müde sind.« Er warf einen Blick auf Grend. »Er wird bald wieder aufwachen.« Mit diesen Worten ging er weiter.
Elvar setzte sich neben Grend und aß den eingelegten Hering und den Kohl, den Agnar ihr gebracht hatte. Der Boden war immer noch sehr warm, wenn auch nicht so heiß wie in dem Lager neben der Isbrún-Brücke. Aber sie hatten einen halben Tagesmarsch zwischen sich und den Fluss aus geschmolzenem Feuer an der Vaesen-Grube gelegt und lagerten jetzt neben einem Fluss am Rand des Waldes und der Hügel. Hier wuchsen Erlen und Birken und Ulmen.
Die Dunkelmond-Hügel, dachte Elvar, während sie dorthin blickte. In der Methalle meines Vaters haben Skalden davon gesungen. Ich hätte nie geglaubt, dass ich sie eines Tages leibhaftig sehen würde und jetzt nur noch einen Schlaf davon entfernt bin, über sie zu wandeln. Trotz ihrer tiefen Erschöpfung und ihrer Sorge um Grend flackerte dieser vertraute Funke von Aufregung in ihr auf. Durch das Land der Götter zu gehen …
Grend stöhnte und bewegte sich. Elvar fuhr zusammen, kniete sich neben ihn und streichelte sein zerkratztes Gesicht. Seine Lider öffneten sich flatternd, und er richtete seinen verschwommenen Blick auf sie. Dann erkannte er sie.
»Dir auf die Ebene der Schlacht zu folgen«, flüsterte er, »war vielleicht nicht meine weiseste Entscheidung.«
»Weise? Natürlich war das nicht weise!« Elvars Kiefer schmerzte, so sehr musste sie grinsen, während ihr die Tränen über die Wangen liefen und auf Grends Gesicht fielen. Sie streichelte seine Stirn. »Ich fürchtete …« Ihre Stimme versagte ihr den Dienst.
»Was hast du gefürchtet?«, murmelte Grend.
»Ein Leben, in dem du nicht mehr bei mir bist«, gestand Elvar.
Das Lächeln weichte Grends kantiges Gesicht auf. Er hob die Hand und legte sie an Elvars Wange. Dann streichelte er sie, überraschend sanft für einen so harten Mann wie ihn.
»Ha! Es braucht mehr als geflügeltes Gewürm, damit du mich loswirst«, sagte er, und seine Hand sank wieder zu Boden.
»Gut«, sagte Elvar.
»Durst«, murmelte Grend.
Elvar öffnete ihre Wasserflasche und hob seinen Kopf an, als sie ihm ein paar Schluck einflößte.
»Ich stehe gleich wieder auf«, flüsterte Grend, schloss die Augen und schlief ein.
Elvar lehnte sich an ihn, lächelte und aß ihr Abendessen.
Schritte kündigten jemanden an. Es war Sólín, zwei Trinkhörner mit Bier in den Händen. Die grauhaarige Kriegerin setzte sich neben Elvar und hielt ihr ein Horn hin.
»Ich stehe in deiner Schuld«, flüsterte Sólín undeutlich. »Geht es dir gut?«, fragte Elvar, als sie ihre Schüssel mit Skyr absetzte und das Horn nahm.
»Diese kleinen Vaesen-Mistkerle haben mir ein paar Zähne gestohlen«, lispelte Sólín und öffnete den Mund, um ihre roten blutigen Kiefer zu zeigen. Drei ihrer Vorderzähne fehlten.
»Das ist wirklich schlimm«, meinte Elvar.
»Ich lebe noch«, erwiderte Sólín gleichmütig. »Besser ein paar Zähne zu verlieren als das Leben. Und dafür muss ich dir danken.«
»Wir sind Schwertschwestern«, sagte Elvar. »Da gibt es keinen Grund für Dank. Du hättest dasselbe für mich gemacht.«
»Das hätte ich – hoffe ich«, sagte Sólín. »Aber das weiß man erst, wenn man in der Schlacht kämpft. Das ist der Moment, wo der Krieger sein Herz und seine Ehre wirklich zeigt.« Sie sah Elvar an, dann hielt sie ihr den Arm zum Kriegergruß hin. »Ich habe dein Kriegerherz gesehen und deine Kampfstärke, und ich bin stolz, dich Schwester nennen zu können.«
Elvar berührte Sólíns Arm und lächelte, und sie tranken schweigend zusammen ihr Bier.
Dann erregte Gelächter Elvars Aufmerksamkeit. Sie sah Biórr mit Uspa, Kráka und dem Hundur-Thrall. Er wandte sich von ihnen ab und ging zu dem eisernen Kessel, der über dem Feuer hing.
»Passt du kurz auf Grend auf?«, fragte Elvar und leerte ihr Horn. »Ich muss mich ebenfalls bei jemandem bedanken.«
»Klar«, sagte Sólín.
Elvar stand auf, ging durch das Lager und sah, dass Biórr sich von dem Kessel entfernte. Sie folgte ihm durch das Lager, vorbei an einer Feuergrube, um die Krieger saßen und plauderten. Sighvat summte vor sich hin. Sie hob die Hand und schüttelte den Kopf, als Blutgeschworene ihr Einladungen zuriefen, sich zu ihnen zu setzen und mit ihnen zu trinken. Dann ging sie bis zum Rand des Lagers, das am Ufer des Flusses lag. Hier waren die Fuhrwerke eng zusammengestellt worden, sodass die überlebenden Pferde ohne Fußfesseln nur an einen Pfahl angebunden werden mussten.
Biórr reichte Uspa, Kráka und dem Hundur-Thrall gerade Näpfe mit Speisen, und alle vier lachten über einen Scherz, den sie nicht mitbekommen hatte. Dann setzte er sich und fing an, mit ihnen zu essen. Sie blickten hoch, als Elvar vor ihnen auftauchte.
»Ich wollte dir danken«, sagte Elvar, aber plötzlich war ihr Mund trocken, und sie hatte alles vergessen, was sie sagen wollte.
»Gut, dann sprich weiter«, antwortete Biórr lächelnd.
»Danke«, sagte Elvar. »Du hast mein Leben gerettet und das von Grend. Wir wären Futter für die Tennúr geworden, wenn du nicht zu uns zurückgekommen wärst.«
»Ja, das wärt ihr«, stimmte Uspa ihr zu.
»Die Tennúr hätten mittlerweile ein Festmahl mit deinen jungen weißen Zähnen veranstaltet«, meinte Kráka, und sie lachten.
Sie blieb stehen, bis das Gelächter allmählich verstummte.
»Gern geschehen, Elvar Feuerfaust«, sagte Biórr.
»Warum hast du das gemacht?«, fragte Elvar ihn. »Warum bist du aus dem Schildwall ausgebrochen und hast dein Leben für mich riskiert?«
Er lächelte sie an. »Musst du das wirklich fragen?«
Elvar bückte sich, packte seine Hand, zog ihn hoch und drückte ihn fest an sich. Dann küsste sie ihn, weich und lange, schmeckte den säuerlichen Skyr in seinem Atem. Als sie sich trennten, sah Biórr sie blinzelnd an. Seine Wangen waren gerötet, und sie spürte, wie ihr Herz in ihrer Brust hämmerte. Sie drehte sich um, ohne seine Hand loszulassen, und führte ihn am Ufer entlang, weg vom Lager. Krákas schallendes Gelächter folgte ihnen noch ein Stück weit. Eine alte Weide stand am Ufer, und ihre Zweige bildeten einen Vorhang, der bis auf den Fluss und den lehmigen Boden reichte. Elvar drängte sich durch die Zweige zu einem Versteck am Stamm, wo der Boden von Moos bedeckt und weich war. Dann drehte sie sich um und sah Biórr an. Er stand nur da und erwiderte ihren Blick. Sie strich eine Strähne seines dunklen Haars zur Seite, die sich aus seinem Zopf gelöst hatte, fuhr mit den Fingern über seine sommersprossige Wange, dann glitt ihre Hand in seinen Nacken, und sie zog ihn an sich, küsste ihn noch leidenschaftlicher als zuvor. Langsam zog sie ihn mit sich zu Boden.