ELVAR
Elvar sah zu, wie Agnar zurückwich und Uspa, Sighvat und Kráka winkte, ihm zu folgen. Sie gingen durch eine Tür in die Küche und die Gemächer des Wirts.
»Hinaus«, hörte Elvar Agnar sagen, und im nächsten Moment tauchten der Wirt und seine Frau in der Tür auf und gingen in den Schankraum.
Oskutreð, dachte Elvar. Uspa hat gesagt, sie kenne den Weg nach Oskutreð. Die große Weltenesche, an der die Schlacht bei dem Untergang der Götter am grimmigsten tobte, wo Ulfrir und Berser fielen. Dieser Gedanke überstieg fast Elvars Fassungsvermögen, ihre Bereitschaft zu glauben. Ohne es zu merken, ging sie hinter Uspa und Sighvat her, und Grend folgte ihr. Sie kam zur Tür und sah Agnar, der neben Kráka an einem Tisch saß. Uspa saß ihm gegenüber, und Sighvat stand neben der Tür. Agnar blickte auf, als Elvar versuchte, den Raum zu betreten, und Sighvat ihr den Zutritt verwehrte.
»Das ist nicht für dich gedacht«, sagte Agnar zu ihr.
Elvar blieb stehen und sah Agnar an.
»Ich habe sie gehört«, sagte sie schließlich. »Ich habe gehört, was Uspa zu dir gesagt hat.«
Einen Herzschlag, nachdem diese Worte über ihre Lippen gekommen waren, schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sie sie vielleicht besser für sich behalten hätte.
Agnars Gesichtsausdruck veränderte sich, und sein Blick wurde ausdruckslos, was ihren Gedanken verstärkte. Er vertraut mir nicht, erkannte sie.
»Komm rein«, befahl er dann.
Elvar betrat den Raum, und Grend machte Anstalten, ihr zu folgen. Aber Sighvat hielt ihn auf.
»Er auch«, wies Agnar ihn an, und Sighvat machte Platz, damit Grend hereinkommen konnte.
Es war ein kleiner Raum mit einem Fenster und einer Tür. Der Tisch, an dem Agnar saß, war von Lehmöfen umgeben und einem Herdfeuer, über dem ein Eisenkessel hing. Ein paar Dutzend Bierfässer und etliche Nahrungsmittel waren an den Wänden gestapelt. Auf einem Regal standen Metkrüge, auf einer langen Bank lagen Hackbrett, Messer und Hackmesser, und auf zwei der Pritschen lagen Strohmatratzen.
»Du hast es gehört?«, erkundigte sich Agnar.
Elvar nickte. Sie wollte den Namen aussprechen, aber Agnar hob rasch die Hand.
»Bleibst du oder gehst du?«, wollte er von ihr wissen.
Elvar runzelte verwirrt die Stirn.
»Dieses Angebot deines Vaters, eine Kriegshorde anzuführen, wenn du zu ihm zurückkehrst. Also, bleibst du bei mir, oder schließt du dich ihm an? Ich sagte dir, du sollst zu mir kommen, wenn du so weit bist, aber dies hier …« Er wies auf Uspa. »Das verändert die Lage.«
Plötzlich herrschte eine angespannte Atmosphäre in dem kleinen Raum. Agnar betrachtete sie eindringlich, und sie hörte, wie Sighvat hinter ihr sein Gewicht verlagerte.
Elvar holte tief Luft. Sie hatte aufgrund der Ereignisse das Angebot ihres Vaters vollkommen vergessen.
»Ich bleibe bei dir. Bei den Schlachtgrimmen«, sagte sie.
Schweigen antwortete ihr, und alle starrten sie an. Sie konnte Grends durchdringenden Blick in ihrem Rücken fühlen.
»Bist du sicher?«, hakte Agnar nach. »Wenn du an diesem Gespräch teilnimmst, kannst du nicht mehr zurück. Du wirst mich nicht verlassen, um alles, was du hier erfahren hast, deinem Vater zu berichten.«
»Ich bin mir sicher«, erwiderte sie. »Ein Wolf kann nicht zum Lamm werden.« Sie sah bei diesen Worten Grend an. Es waren Hrungs letzte Worte an sie gewesen. Sie hatte die ganze Nacht darüber gebrütet und war sich sicher, dass sie sie jetzt richtig ausgelegt hatte. Sie hatte ihrem Vater nie vertraut. Er hatte sie ihr ganzes Leben lang mit klugen Worten und Halbwahrheiten beherrscht. Und obwohl sein Angebot das zu sein schien, was sie sich erträumt hatte, musste mehr dahinterstecken. Er würde ihr nicht einfach geben, wonach sie verlangte. Das lag nicht in seiner Natur, und wie gesagt, der Wolf konnte nicht zum Lamm werden.
Agnar sah ihr lange in die Augen, während sich das Schweigen in die Länge zog, und schließlich nickte er.
»Dann setz dich.« Er deutete auf einen Stuhl.
Uspa blickte auf ihre Hände.
»Oskutreð«, wandte Agnar sich an sie, »ist ein Mythos, eine ruhmreiche Geschichte, die Krieger wie ich am Herdfeuer erzählen, um unsere Träume mit Gold zu füllen.«
»Es ist real.« Uspa hob ruckartig den Kopf und verzog die Lippen. »Sieh dir die Welt um dich herum doch an. Berserkir und Úlfhéðnar wandeln hindurch. Sieh, wo wir hier sind, wir sitzen in einer Stadt und einer Festung, die in und auf dem Schädel einer Schlange errichtet wurde. Selbstverständlich ist Oskutreð real.«
Agnar sah Kráka an.
»Alle Besessenen sind überzeugt davon, dass Oskutreð existiert«, sagte Kráka. »Der Große Baum stand im Mittelpunkt des Untergangs der Götter, dort, wo unsere Vorfahren fielen. Guðfalla ist ein Lied in unserem Blut.«
Agnar blickte zwischen den beiden Seiðrhexen hin und her.
»In den Geschichten heißt es, dass Oskutreð unter der Vaesen-Grube wäre, hinter der Isbrún-Brücke, jenseits der Dunkelmond-Hügel«, sagte Elvar.
»Das ist wahr.« Uspa nickte. »Es ist keine Legende.«
»Wenn das wahr ist, wie kommt es dann, dass du den Weg kennst?«, wollte Agnar wissen. »Angeblich sind zweihundertsiebenundneunzig Jahre verstrichen seit jenem Tag, an dem die Götter untergingen, und niemand hat den Ort bis jetzt gefunden, trotz aller Geschichten über Relikte und Reichtümer und Macht.«
»Die Graskinna«, erwiderte Uspa. »Die Graue Haut, ein Galdur-Buch voll dunkler Magie. Es verrät den Weg, für jene mit dem Wissen.«
»Jene mit dem Wissen?«, fragte Agnar nach.
»Galdurmänner und Seiðrhexen«, präzisierte Uspa. »Die mit dem Wissen über die alten Sitten, jene, die die Welt mit Runen und Zaubern formen können.«
»Und wo ist dieses Graskinna?«, wollte Agnar wissen. »Kráka könnte einen Blick hineinwerfen und mir bestätigen, ob du die Wahrheit sagst oder nur verführerische Lügen erzählst, um deinen Sohn zurückzubekommen.«
Kráka nickte. Elvar sah, wie die Frau vor Anspannung zitterte.
Sie ist aufgeregt.
»Kráka kann keinen Blick hineinwerfen. Das kann niemand«, sagte Uspa. »Denn ich habe es zerstört.«
Agnar sah sie einfach nur an, während Kráka ein scharfes Zischen ausstieß.
»Du hast uns auf Iskalt gefunden, weil wir die Insel aus einem bestimmten Grund aufgesucht haben. Während mein Mann gegen den Troll kämpfte, habe ich das Buch in das Becken aus Feuer geworfen und die Worte der Entbindung gesprochen. Das Graskinna ist verloren.«
»Ich habe dich dabei gesehen«, stieß Elvar leise hervor.
Uspa sah sie einfach nur an.
»Wie haben Ilska und ihre Rabenfütterer von dir und diesem Graskinna erfahren, und woher wussten sie, dass sie hierherkommen mussten, um dich zu finden?«, fragte Agnar Uspa.
»Mein Mann und ich haben ihnen das Graskinna gestohlen. Sie haben uns schon sehr lange gejagt. So wie ihr, wegen des Kopfgeldes, das auf uns ausgesetzt ist. Berak hat einige von Ilskas Mannschaft getötet und auch noch andere Menschen, als wir vor ihr und ihren Rabenfütterern geflüchtet sind. Das musste er. Und als ihr uns hierhergebracht habt, sah ich einige von Ilskas Kriegern vor dieser Taverne. Wir alle haben sie gesehen. Ich habe versucht, mich und Bjarn zu verstecken«, fuhr sie ruhig fort. »Aber sie müssen mich gesehen und es Ilska berichtet haben.« Sie sah Elvar an. »Ich habe dir immer wieder gesagt, dass ich unbedingt Snakavik verlassen müsste.«
»Das hast du«, gab Elvar zu. »Aber du hast den Grund nicht erwähnt, nämlich dass Ilska die Grausame und ihre Rabenfütterer dich jagten, und dass du den Weg ins sagenhafte Oskutreð kennst.«
Uspa zuckte die Schultern. »Ich musste wissen, ob ich dir vertrauen kann, bevor ich dir solche Dinge anvertraue.«
Agnar lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und blies die Wangen auf.
»Das gefällt mir nicht«, murmelte er. »Du verlangst von mir, dass ich hinter Ilska der Grausamen und ihren Rabenfütterern herjage, sie finde und ihnen deinen Sohn wieder abnehme.« Er schüttelte den Kopf. »Allein sie zu finden ist schon eine große Aufgabe und könnte viele Monate dauern. Und dann müssen wir ihnen irgendwie deinen Sohn wieder wegnehmen. Das wird nicht einfach. Die Rabenfütterer haben sich ihren Ruf nicht umsonst erworben.«
»Hat Agnar von den Schlachtgrimmen Angst vor den Rabenfütterer-Hunden?«, erkundigte sich Uspa.
Agnar lächelte sie kalt an. »Versuch nicht, mich aufzustacheln oder an der Nase herumzuführen«, sagte er. »Ich bin ein praktischer Mann, und ich habe in der Tat Angst, gute Krieger zu verlieren, ja. Ich bin Häuptling der Schlachtgrimmen. Ich bin für sie wie ein Jarl, ich bin ihr Goldgeber. Ich lege unseren Kurs fest, entscheide, welche Schlachten wir ausfechten, und ja, ich lade uns den Tod auf die Schultern, der dort wie ein alter Rabe hockt. Mit all dem haben die Schlachtgrimmen ihren Frieden geschlossen, aber ich werde ihre Leben nicht einfach wegwerfen.« Er zupfte an dem blonden Zopf in seinem Bart. »Und während wir Ilska verfolgen, verdienen wir keine Münzen und kein Silber.«
»Also ist Silber dein Gott«, stellte Uspa verächtlich fest.
»Sei keine Närrin, Weib!«, fuhr Agnar sie an. »Mit Münzen zahlen wir für Nahrung und Met, ohne sie würden wir verhungern. Und Silber erbeuten wir in der Schlacht, ein Symbol unseres Schlachtenruhms und unseres Rufs. Warum, glaubst du, tragen wir Reifen aus Silber und Gold? Um unsere Spuren in dieser Welt zu hinterlassen. Was sonst wäre von Bedeutung?«
»Wenn du Oskutreð findest, würde dein Schlachtenruhm ewig leben«, behauptete Uspa.
»Warum hast du dann das Buch verbrannt?«, wollte Elvar wissen.
»Um ruhmgierige Narren wie dich davon abzuhalten, es zu finden!«, fuhr Uspa sie an. »In Oskutreð liegen die Überreste der Götter. Und es gibt dort noch andere Dinge.« Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Elvar sah sehr deutlich die Knochen von Ulfrir und Berak vor sich, von Svin und Rotta und Hundar, ihre Waffen, Rüstungen und Schätze, und die Waffen ihrer Kinder. Schweigen legte sich über sie, und Elvar sah, wie sich ihre Gedanken in Agnars Blick spiegelten.
»Vigrið ist kein friedliches Land, aber wenn der Weg nach Oskutreð bekannt wäre, würden neue Mächte in diesem Land sich erheben, und höchstwahrscheinlich mit ihnen ein neuer Krieg.« Uspa erschauderte. »Es ist besser, wenn dieser Weg versperrt ist und niemals gefunden werden kann.«
»Und warum willst du mir dann den Weg zeigen?« Agnar sprach gepresst, und die verführerische Aussicht auf Macht und Reichtümer war in seinem gierigen Blick deutlich zu erkennen.
»Für meinen Sohn«, antwortete Uspa. »Für die Liebe. Wenn du dieses Leben auf die Waage legst, dann erkennst du, dass das alles ist. Die Dinge dagegen, nach denen du strebst …« Sie schüttelte den Kopf.
Agnar beugte sich vor.
»Ich könnte dir einen Thrall-Kragen anlegen und dir befehlen, mir den Weg zeigen. Das würde mir den harten und gefährlichen Versuch ersparen, dir deinen Sohn zurückzuholen.«
»Ich würde eher sterben, als den Kragen einer Thrall zu tragen«, gab Uspa zurück. Ihr Blick schoss zu Kráka. »Ich will dich nicht beleidigen, Schwester. Jene Besessenen, die den Kragen tragen, klammern sich an das Leben. Das gehört zum Menschsein, dieser Wille zum Überleben. Härten und Prüfungen zu ertragen, in der Hoffnung, dass sie irgendwann einmal enden werden. Aber mich kümmert mein Leben nicht. Mich kümmert mein Mann, den ich verlassen habe, und mein Sohn, der mir geraubt wurde. Legst du mir den Thrall-Kragen an, ist mein Leben vorbei, denn ich würde meinen Sohn nie wiedersehen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Die Entscheidung ist klar für mich, der Tod ist auf jeden Fall besser. Und du hast gesehen, was ich mit Ilskas Kriegern gemacht habe. Zweifle nicht daran, dass ich mir mein Leben nehmen könnte, wann immer ich das will.«
Etwas an der Art, wie Uspa sprach, überzeugte Elvar von der Wahrheit ihrer Worte. Agnar lehnte sich auf dem Stuhl zurück und zupfte an seinem Bart.
Er glaubt ihr auch.
Agnar beugte sich vor.
»Du wirst mich erst nach Oskutreð bringen, und dann werde ich deinen Sohn für dich suchen«, sagte er.
Uspa lachte rau. »Hältst du mich für eine solche Närrin? Ich wäre wertlos für dich, sobald du Oskutreð gefunden hättest. Zuerst mein Sohn.«
»Es könnte ein Jahr dauern, ihn zu finden, und ich habe nicht genug Münzen und Silber, um eine so lange Suche durchführen zu können.«
»Dann finde ihn schneller«, gab Uspa zurück.
»Es gibt keine Garantien«, antwortete Agnar. »Oskutreð zuerst. Ich werde dir einen Eid schwören.«
Uspa wollte etwas erwidern, hielt jedoch inne, und ihre Miene veränderte sich.
»Ein Gelübde«, murmelte sie. »Vielleicht. Es gibt einen Eid, den du schwören kannst. Den wir einander schwören können. Aber es sind nicht nur Worte. Unsere Leben wären daran gebunden, und wenn wir diesen Eid brechen, hätte das … Konsequenzen. Schwöre diesen Eid, dann bringe ich dich zuerst nach Oskutreð.« Sie sah Agnar in die Augen. »Die Blóð Svarið.«
Elvars Blut erkaltete bei Uspas Worten in ihren Adern, obwohl sie nicht wusste, was sie bedeuteten.
»Was ist das?«, grollte Sighvat. Er stand dicht an der Tür und sorgte dafür, dass niemand lauschen konnte.
»Der Blutschwur«, erwiderte Kráka. »Er wird mit Blut geschworen, mit Runen und Machtworten. Wenn du den Blóð Svarið ablegst, bindest du dich an dein Gelübde, und an die, die ihn mit dir sprechen. Es ist ein Siegel in deinem Körper und gültig bis zum Tod. Ihn zu brechen bringt den Tod.«
Kráka sah sie der Reihe nach an. »Einen äußerst schmerzhaften Tod.«
»Wenn alle hier Anwesenden diesen Eid ablegen, zeige ich euch den Weg nach Oskutreð«, versprach Uspa und blickte von Agnar zu Elvar, zu Sighvat, Grend und zu Kráka.
»Was genau ist mit ›schmerzhaft‹ gemeint?« Sighvat runzelte die Stirn und griff unwillkürlich zu dem Anhänger um seinen Hals. Es war die Klaue einer Frostspinne, Sighvats erstes getötetes Vaesen bei den Schlachtgrimmen.
»Wir werden diesen Eid schwören und ihn mit unserem Blut und Seiðr-Magie besiegeln«, sagte Uspa. »Das wird uns binden, solange das Blut in unseren Adern fließt.«
»Schmerzhaft?«, wiederholte Sighvat und blickte Uspa finster an.
»Wenn du das Gelübde brichst, bevor du stirbst, wird dein Blut in deinen Adern zu kochen beginnen. Du wirst kreischend vor Schmerz verrecken«, sagte Uspa und sah sie alle der Reihe nach an. »Nur so werde ich zustimmen, euch nach Oskutreð zu bringen, bevor ihr nach meinem Bjarn sucht.«
Sighvat atmete zischend aus. »Das gefällt mir nicht«, murmelte er.
»Ich habe bereits einen Schwur geleistet und werde keinen zweiten ablegen«, brach Grend sein Schweigen. Er warf einen Blick auf die weiße Narbe in seiner linken Handfläche.
»Ihr alle müsst den Eid schwören«, beharrte Uspa. »Ihr habt alle von Oskutreð sprechen hören. Das ist der einzige Weg, wie wir uns gegenseitig vertrauen können.«
»Nein«, beharrte Grend.
»Uspa hat recht.« Agnar sah von Grend zu Elvar.
»Grend ist eidgebunden an mich«, erklärte Elvar. »Wohin auch immer ich gehe und welchen Weg ich wähle, Grend wird mir folgen. Wir können ihm auch ohne deinen Eid trauen.«
»Nein.« Ihre Stimme klang scharf wie eine Lederpeitsche. »Alle oder keiner. Das ist das größte Geheimnis in ganz Vigrið. Ich werde es nicht teilen, ohne euren Eid und euer Blut.«
Elvar sah Grend an. Sie kannte die Umstände und die Bedeutung seines letzten Gelübdes. Er erwiderte ihren Blick und sah die Hoffnung und das Verlangen in ihren Augen. Die Muskeln in seiner Wange zuckten, und er nickte schließlich. »Ich werde den Eid ablegen«, sagte er. »Aber nur für Elvar. Für mich spielt all das keine Rolle.«
Sighvat schnaubte.
»Schließ die Tür«, befahl Uspa Sighvat, als sie aufstand und zu der langen Bank ging. Agnar nickte, und der Hüne gehorchte. Er schloss das Licht und den Lärm aus der Schänke aus. Uspa nahm ein Hackbrett und ein scharfes Messer und setzte sich wieder an den Tisch.
»Kommt näher«, sagte sie. Sighvat und Grend traten zum Tisch, und Uspa begann, Runen in das Hackbrett zu schnitzen. Drei, vier Runen, eine Reihe von geraden Linien, einige angewinkelt, und alle tief in das Holz. Als Elvar sie sah, fühlte sie ein Summen in ihrem Blut, in ihrem Kopf.
Will ich das tun? Mich an das Schicksal eines besessenen Kindes binden? Es mit Ilska der Grausamen und ihren Rabenfütterern aufnehmen? Sie sah Bjarns Gesicht, erinnerte sich daran, wie er von der Wellen-Jarl ins Meer gerissen wurde und wie sie hinter ihm hergesprungen war.
Ich bin schon an ihn gebunden.
Und der Gedanke an Oskutreð wirbelte wie Met in ihrem Blut, berauschend und überwältigend. Furcht und Erregung durchströmten sie, kribbelten in ihrem Körper, flatterten in ihren Adern und vereinigten sich zu einer berauschenden Mischung.
Die Namen jener, die Oskutreð finden und all die Schätze, die es dort gibt, werden ewig leben. Noch lange, nachdem der Name meines Vaters vergessen und seine Knochen zu Staub zerfallen sind.
Stille legte sich über sie, so schwer wie ein regengetränkter Umhang.
»Leben.« Uspa deutete flüsternd auf die erste Rune. Sie zog das Messer über ihre Handwurzel und ließ das Blut in die Rune tropfen. Es füllte die tiefgeschnitzte Furche.
»Líf«, hauchte Kráka.
»Tod.« Uspas Blut füllte die zweite Rune.
»Dauða«, wisperte Kráka.
»Blutschwur«, murmelte Uspa, als sie die dritte Rune füllte.
»Blóð Svarið«, wiederholte Kráka.
»Qualen.« Damit füllte Uspas Blut die letzte Rune.
»Kvöl.« Kráka krächzte, und das Wort klang in Elvars Kopf wie ein Trommelschlag oder eine Tür, die zufiel.
»Ihr alle«, sagte Uspa, »vereinigt jetzt euer Blut mit meinem.«
Bewegung kam in die Schlachtgrimmen, als die Scramasaxe gezogen wurden. Elvar zog sich ihre Klinge über die Handfläche und streckte die Hand aus. Grend tat dasselbe, und aus seiner Hand floss Blut. Sie packte seine Hand, weil sie wusste, dass er ihretwegen dieses Opfer brachte, wusste, dass er es nicht tun wollte, und wusste, dass nur sein Gelübde an Elvars tote Mutter ihn dazu veranlasste. Ihr Blut mischte sich und tropfte in die Runen.
Agnar streckte die Hand aus. Sein Blut tropfte ebenfalls hinein, dann folgte Sighvat und schließlich Kráka. Sie alle hielten die Hände über die Runen, während ihr Blut hinuntertropfte und sich mischte.
Dann hob Uspa an zu sprechen.
»Blóð eið munum við gera,
að binda hver við annan með rúnir af krafti,
hurðir að gömlu leiðunum, innsiglaðar og bundnar með blóði.«
Uspa flüsterte nur, aber ihre Stimme schien den ganzen Raum zu erfüllen und hallte laut in Elvars Kopf.
»Einen Bluteid schwören wir, binden uns aneinander mit den Runen der Macht, der Tür zu dem alten Wissen«, übersetzte Kráka heiser.
»Eið okkar innsigluð með blóði okkar, lífi, dauða og kvalum,
bundin með blóði okkar«, fuhr Uspa fort.
»Unseren Eid besiegelt unser Blut, Leben, Tod und Qual, gebunden mit unserem Blut«, intonierte Kráka.
Ein Wind fegte durch den Raum, und Elvar fröstelte. Das Blut in den Runen zischte und siedete, Dampf stieg davon auf, und dann schwebte das Blut plötzlich in der Luft. Lange Strähnen wie Fasern oder rote Fäden malten die Runen in der Luft. Sighvat keuchte auf. Mit einem Knistern rückten die Blut-Runen zusammen, verschmolzen zu einem langen Strang, der immer höher stieg, noch höher, bis zu ihren Händen, die sie immer noch über die Runen ausgestreckt hielten. Der Blutstrang wickelte sich um sie, band die Hände und Handgelenke zusammen und zog sie fest. Elvar zuckte zusammen, als der Strang ihre Haut berührte. Er war heiß, und Schmerz lief ihren Arm hinauf, aber sie konnte ihn nicht zurückziehen. Sie hörte Grends Zischen neben sich, sah wie Sighvats Arm zuckte, aber keiner zog zurück.
Der Gestank nach verbranntem Fleisch stieg ihr in die Nase, und sie hörte das Brutzeln von verbrannter Haut.
»Svo skal pað vera«, knurrte Uspa. »Sagt es mit mir zusammen.«
»Svo skal pað vera«, intonierten Elvar und die anderen.
»So soll es sein«, übersetzte Kráka. Die Blutschnur um ihre Hände und Handgelenke wand sich, zischte und blubberte, dann verdampfte sie.
Elvars Arm sank herunter, und um ihre Hand und ihr Handgelenk wand sich ein roter Striemen wie eine Tätowierung.
Sie sahen sich an, und in ihren Blicken hielten sich Furcht und Ehrfurcht die Waage.
Agnar lächelte.
»Auf nach Oskutreð«, sagte er. Elvar konnte die Begeisterung nicht unterdrücken, die durch ihre Adern brauste, ebenso wenig das Gelächter, das tief aus ihrer Kehle drang.