KAPITEL ACHTUNDDREISSIG

ELVAR

Elvar stand neben einem schwarz schimmernden Felsbrocken und blickte zur Sonne im Osten. Sie verbannte die Dunkelheit und brachte Farbe in eine Welt aus Asche und Schatten. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und konnte kaum glauben, was sie da sah, obwohl sie dastand und es mit eigenen Augen betrachtete.

»Das ist also die Vaesen-Grube«, sagte Grend neben ihr.

Sie standen am Rande einer Klippe. Der Boden war von einer dünnen Schicht Erde und gelblichem Gras bedeckt, durch das ab und zu schwarz schimmernder Fels hindurchschien. Vor ihnen öffnete sich eine Kluft, breit und sehr tief, durch die sich ein Fluss aus Feuer wälzte. Schwarze Krusten bedeckten ihn, er schimmerte orangefarben, und an vereinzelten Stellen glühte er weiß vor Hitze. Heiße Winde stiegen aus der Grube und überzogen Elvars Körper mit einer dünnen Schweißschicht. Seit Tagen war die Temperatur angestiegen. Als sie den Horndal-See verlassen hatten und nach Norden gegangen waren, war es anfangs kühler geworden, und am dritten Tag waren sie schließlich durch eine verschneite Landschaft marschiert. Grend hatte beim Aufwachen Eis im Bart gehabt. Aber später an diesem Tag war der Schnee auf dem Boden weniger geworden, obwohl sie durch einen richtigen Schneesturm stapften. Der Wind war immer noch kalt, und es schneite auch noch, aber der Boden war wärmer geworden. Elvar hatte es durch die Sohlen ihrer Stiefel gefühlt, und der Schnee und das Eis auf dem Boden waren einfach geschmolzen. Dann, am späten Nachmittag des gestrigen Tages, hatte Elvar Flecken aus Gras und schwarzem Fels unter dem schmelzenden Schnee gesehen. Kurz danach hatte sie ihren Robbenfellmantel und den Wolfspelz ausgezogen und sie auf eines der Packpferde geschnallt, die bereits ihren Helm und ihren Speer trugen. Ihr Kettenhemd hatte sie angelassen, sie trug ihre Waffen am Gürtel und hatte den Schild auf den Rücken geschlungen. Es schneite immer noch, aber der Schnee zischte und schmolz schon in der Luft. Der Boden strahlte Hitze aus wie frisch gebackenes Brot, das man gerade aus dem Ofen genommen hatte.

»Hast du schon jemals so etwas gesehen?«, flüsterte Elvar.

»Nein«, erwiderte Grend leise. »Und dann ist da noch das da.« Er deutete nach Norden, über die Kluft hinweg, die Vaesen-Grube, auf einen Berg. Sein Gipfel war blankes Gestein und fast eben, als hätte ein Gigant eine riesige Axt genommen und dem Berg den Gipfel abgeschlagen. Ein Geflecht aus roten Adern überzog den Berghang. Es waren Ströme aus Feuer, die aus seiner Kruste sickerten wie Eiter aus entzündeten Wunden.

»Eldrafell, der Feuerberg«, sagte Elvar. »Wenn man in Snakavik und in Snakas Schädel aufwächst, dann gewöhnt man sich an wundersame Dinge. Ich hätte daher nie gedacht, dass ich einmal etwas sehen würde, bei dessen Anblick ich … Ehrfurcht empfände.«

»Ha, das ist wohl wahr!« Grend lachte laut, was er selten tat.

Laut den Legenden war der Eldrafell beim Untergang von Snaka zerbrochen, und ein Ozean aus Feuer war aus seiner Kehle geströmt. Er war über das Land und in die Vaesen-Grube geflossen, einer riesigen Kluft im Land, in der die Vaesen hausten. Sie waren vor den Flammen geflüchtet, sodass alle möglichen Kreaturen, die in dieser Unterwelt gehaust hatten, sich jetzt aus der Grube den Weg in die Welt des Himmels, der Luft und des Fleisches gebahnt hatten.

Die Lichter tanzten und flackerten am Himmel, und der Eldrafell und der Horizont hoben sich als Silhouetten ab. Sie verblassten, als die Sonne aufging, aber sie waren immer noch hell genug, dass Elvar sie sehen konnte. Lichter in allen Farben und Schattierungen, gelb und rot und violett, die um blau und grün und pink herumwirbelten. Während der kurzen Nacht war der ganze Horizont mit diesem wogenden Schillern der Guðljos, der Götterlichter erleuchtet gewesen. Einige sagten, es wären die Seelen der Götter, die in der Schlacht gefallen waren und nicht zur Ruhe kämen, weil sie immer noch ihren ewigen Krieg ausfochten.

»Es ist … wunderschön«, stieß Elvar leise hervor.

»Das stimmt.« Grend sah sie an. »Dir zu folgen war …« Er machte eine Pause und betrachtete sie eindringlich. »… ereignisreich.«

Elvar lächelte. »Besser, als sich einen Bauch anzufressen und eine verwöhnte Jarls-Tochter in Snakavik zu hüten«, erwiderte sie. Grend zuckte die Schultern und verzog das Gesicht, als wäre er sich da nicht ganz sicher.

Elvar schlug ihm auf den Arm.

»Du hättest mit Gytha sprechen sollen, als wir in Snakavik waren«, sagte sie.

Grends Miene veränderte sich. Sämtlicher Humor und alle Wärme verflogen, und er schob unwillkürlich das Kinn vor.

»Das hätte nur Schmerz verursacht. Sinnlos, die Glut eines Herdfeuers anzufachen, das nicht brennen kann.«

»Es könnte brennen«, widersprach Elvar. »Gytha könnte sich uns anschließen.« Sie sah ihn an, registrierte, dass ihre Worte sich in seine Gedanken einnisteten. Hoffnung zuckte kurz über sein Gesicht, doch sofort folgte ihr Schmerz, und er kniff die Augen zusammen.

»Sie würde niemals mitkommen. Sie hat deinem Vater die Treue geschworen.«

»Du hast sie nie gefragt. Für dich würde sie es tun.«

Er atmete seufzend aus.

»Dann hätte sie meinetwegen ihren Eid gebrochen.« Ein Muskel zuckte in seiner Wange.

»Du bist ein störrisches Maultier«, erklärte Elvar. »Das Leben ist für die Lebenden, und das Glück muss man sich nehmen.« Ein Bild von Biórr tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Es war nicht das erste Mal, dass sie auf ihrer Reise nach Norden an ihn gedacht hatte, seit er sie geküsst hatte.

Grend schüttelte den Kopf.

Hinter ihnen ertönten Schritte, und Agnar trat zu ihnen. Uspa und Kráka begleiteten ihn.

»Das ist wirklich ein Anblick, keine Frage.« Agnar grinste, als er den Blick über die Vaesen-Grube gleiten ließ.

Die Schlachtgrimmen hatten ihr Lager auf einem kleinen Hügel etwa sechzig Schritt von dem Rand der Grube entfernt aufgeschlagen. Sie waren vor Kurzem hier angekommen, kurz vor Einbruch der Nacht, oder vielmehr vor Beginn des Zwielichts. Denn sie näherten sich der Sommersonnenwende, und die Dunkelheit der Nacht war zu einem langen, nebelartigen Zwielicht verblasst. Uspa war zum Rand der Vaesen-Grube getreten und dann daran entlanggegangen. Alle Schlachtgrimmen folgten ihr. Elvar war fast vor Erschöpfung zusammengebrochen, als Uspa endlich erklärte, dass sie sich am richtigen Ort befänden. Dann hatten sie sich alle darangemacht, das Lager aufzuschlagen; zu Agnars Frustration. Er hatte sofort auf die andere Seite überwechseln wollen, aber Uspa sagte, das wäre unmöglich. Sie müssten auf den richtigen Moment warten.

Auf heute.

»Wir müssen die Brücke finden und weitermarschieren«, sagte Agnar und blickte über die Vaesen-Grube zum nördlichen Horizont. Elvar sah ebenfalls dorthin und fragte sich, wo diese berühmte Brücke wohl sein mochte. Sie konnte keine Spur davon erkennen, sah nur geschmolzenes Gestein und Rauch.

»Und wo ist Oskutreð?«, murmelte Agnar. »Er soll der Größte aller Bäume sein, und seine Zweige stützen den Himmel. Dann sollten wir ihn doch wohl sehen können?«

»Sehr viel davon wurde beim Guðfalla zerstört«, erklärte Uspa. »Erwarte nicht, dass er so aussieht wie in den Legenden.« Sie deutete auf eine Reihe von Hügeln östlich von Eldrafell. »Die Dunkelmond-Hügel«, sagte sie. »Wir sind fast am Ziel.«

»Wir müssen die Isbrún-Brücke finden und weiterziehen«, wiederholte Agnar. Er drehte sich um und blickte nach Süden. Elvar folgte seinem Blick, sah aber nur blauen Himmel und in der Ferne den weißen Glanz der Sonne auf Schnee. Sie kniff die Augen zusammen. War da etwas am Rand ihres Blickfeldes? Ein Fleck am Horizont, der sich bewegte?

Sie waren bei ihrer Reise nach Norden auf überraschend wenig Widerstand der Vaesen getroffen, wenn man bedachte, dass die Vaesen mit weit größerer Kühnheit über die Ebenen nördlich des Knochenmassivs wanderten, als sie in den Ländern im Süden zeigten. Auf dieser Seite der Bergkette lebten weit weniger Menschen, und die wenigen hausten in isolierten, befestigten Gehöften, die mit Runen geschützt und von zähen und mutigen Frauen und Männern verteidigt wurden. Vor einem Tag waren sie an den Kadavern einer ganzen Elchherde vorbeigekommen. Über fünfzig Tiere lagen im blutgetränkten Schnee, und gefrorenes Fleisch und Pelze hingen zerfetzt zwischen den Knochen.

Es war schwer zu sagen, was sie getötet hatte, da sie von allen möglichen Raubtieren und Aasfressern aufgesucht worden waren, einschließlich der Tennúr, die sämtliche Zähne aus den Schädeln gefressen hatten. Aber fünfzig Elche zu fangen und zu erlegen erforderte eine furchteinflößende Menge von Vaesen. Denn das verlangte nicht nur Stärke, sondern auch List.

»Hast du vielleicht mit deinen scharfen Augen die Elchjäger gefunden?«, fragte Kráka Agnar.

»Was sind sie? Kobolde? Skraelinge? Oder Huldra-Volk?« Als Elvar die Frage stellte, spürte sie dieses vertraute Beben in ihrer Magengrube und ihrem Blut. Es drängte sie, ihren Wert unter Beweis zu stellen, ihren Schlachtenruhm zu verdienen. Ihren Vater zu widerlegen.

»Ach, es hat vielleicht nichts zu bedeuten.« Agnar blinzelte, sah zur Seite und rieb sich die Augen, die wegen des gleißenden Schnees schmerzten. »Wie auch immer, ob da etwas ist oder nicht, wir müssen weiter.«

»Heute ist es so weit.« Uspa blickte gen Himmel. »Es ist Sólstöður, der Beginn des langen Tages, bei dem die Nacht für dreißig Tage vom Himmel verbannt ist.«

»Gut.« Agnar lachte und klatschte in die Hände. »Dann lass uns beginnen.«

Elvar stand schweigend da, flankiert von Grend auf der einen und Biórr auf der anderen Seite. Die Schlachtgrimmen hatten sich am Hang des Hügels aufgestellt, auf dem sie gelagert hatten. Sie standen stumm und grimmig im Licht der aufgehenden Sonne da und blickten alle nach Norden, auf die Vaesen-Grube und das, was dahinter lag. Eines der Packpferde stampfte mit den Hufen und wieherte.

Uspa trat vor und ging die zwanzig Schritte zu dem schwarzen Granitfelsen, neben dem Elvar zuvor gestanden hatte. Die Seiðrhexe zog einen Scramasax aus ihrem Gürtel, fuhr mit der Schneide über ihre Handwurzel, und das Blut quoll aus dem Schnitt. Sie ballte die Faust, öffnete die Hand und legte ihre blutigen Fingerspitzen auf das schwarze Gestein. Dann drückte sie langsam ihre Handfläche dagegen.

»Isbrú, opinberaðu þig, blóð guðanna skipar þér«, intonierte Uspa. Ihr Blut sammelte sich in den Spalten im Felsgestein und tropfte zu Boden. Ein Zittern lief durch den Stein, als würde er atmen. Dann tauchte der Abdruck einer Hand auf, riesig neben der kleinen Hand von Uspa. Elvar blinzelte und blickte genauer hin.

Nein, es war kein Handabdruck, sondern der einer Tatze. Abdrücke von Krallen, so lang wie Elvars Scramasax, waren in den schimmernden schwarzen Felsen gegraben.

Der Abdruck eines Wolfs oder eines Bären. Ist das das Zeichen von Ulfrir oder von Berser? Das Mal eines Gottes? Furcht und Erregung kribbelten in ihrer Magengrube.

»Isbrú, opinberaðu þig, blóð guðanna skipar þér!«, rief Uspa erneut. Sie trat von dem Felsen weg und ging zu der Vaesen-Grube, war fünf Schritte vom Rand entfernt, vier, drei, zwei, und dann sah es aus, als würde sie über den Rand treten und in den Tod stürzen.

»Nein!«, schrie Agnar.

Uspa trat über den Rand des Abgrunds in die Luft.

Die Schlachtgrimmen schrien, und Agnar stolperte ein paar Schritte vorwärts.

Dann landete Uspas Fuß auf etwas Solidem.

Die Luft vor Uspa begann zu schimmern wie in einem Hitzedunst, aber Farben flackerten darin, als wären die Guðljos-Lichter, die Elvar am Nachthimmel hatte schimmern sehen, auf die Erde gefallen. Sie bildeten einen Umriss, einen breiten und langen Umriss, eine sich windende, verdrehte Brücke, die sich über die Vaesen-Grube bis zu dem Land dahinter spannte.

»Sehet, die Isbrún-Brücke!«, rief Uspa, als sie sich umdrehte und die Schlachtgrimmen ansah.

Elvar lächelte und spürte das Zittern der Erregung bis in ihre Knochen. Die Sagengeschichten wurden lebendig, und sie war Teil davon.

»Ha!« Agnar schrie, reckte seine Faust in die Luft und lachte, hüpfte auf der Stelle.

»Schlachtgrimmen, dort liegt die Brücke nach Oskutreð! Die letzten Füße, die sie berührt haben, waren die der Götter!«, rief Agnar. Er grinste, und seine Leute jubelten, stampften mit den Füßen und rammten ihre Speerschäfte in den Boden. Elvar stimmte in ihren Chor ein.

Dann spürte sie etwas in den Füßen, eine Vibration durch die Sohlen ihrer Stiefel. Sie runzelte die Stirn und blickte nach unten. Sie sah, dass der Boden des Hangs, auf dem sie stand, zu zittern begonnen hatte. Das Gras bebte, und die Erde vibrierte. Sie verlagerte ihr Gewicht, trat zurück und runzelte die Stirn.

Etwas bewegte sich in der Erde, da, wo sie gerade noch gestanden hatte. Ein Umriss tauchte auf, wie eine Handvoll Würmer, schimmernd und sich windend.

Nein, keine Würmer. Finger. Oder Klauen.

Eine Hand bohrte sich durch den Boden, klein wie die eines Kindes. Aber die Finger waren lang, dünn und spitz. Dann tauchte noch eine Hand auf, danach ein Gesicht, zierlich und mit spitzen Gesichtszügen. Eine schmale Linie von Nase und Kinn, haarlos und mit großen dunklen Augen. Die Kreatur zog sich aus der Erde. Sie reichte ihr bis zum Knie. Tintenschwarze Adern schimmerten unter der alabasterfarbenen Haut, die Flügel auf ihrem Rücken zitterten und wirbelten eine Erdwolke durch die Luft. Sie blickte zu Elvar hoch, öffnete weit ihr Maul und zeigte zwei Reihen von Zähnen in jedem Kiefer. Die äußeren waren scharf, die inneren flach wie Mahlsteine. Sie zischte Elvar an.

Ein Tennúr!

Auf dem ganzen Hang zitterte der Boden und bewegte sich, als immer mehr der kleinen Kreaturen auftauchten. Dreißig, vierzig, fünfzig und schließlich mehr, als Elvar zählen konnte. Und immer noch mehr krochen aus dem Boden. Es war, als wäre der Hügel, auf dem sie gelagert hatten, ein riesiges Nest. Sie flatterten mit den Flügeln, und Erde spritzte in kleinen Wolken durch die Luft, als sie hochsprangen und sich auf die Schlachtgrimmen stürzten. Die Krieger schrien erschrocken auf, warnend. Elvar taumelte zurück, als das Tennúr, das unter ihren Füßen aufgetaucht war, auf sie zuflog. Es streckte die Krallen aus und riss sein Maul weit auf. Sie griff nach ihrem Schwert und versuchte ihren Schild vom Rücken zu lösen und zu packen. Scharfe Krallen fuhren ihr durch das Gesicht, und sie schrie, während ihr Schwert noch halb in der Scheide steckte. Die Krallen des Tennúr bohrten sich in ihre Wangen, und es zog sich auf sie, schnappte mit weit aufgerissenem Kiefer nach ihr. Seine Zähne waren gefährlich nah an ihren Augen.

Elvar schüttelte den Kopf, als sie ihr Schwert endlich gezückt hatte, stolperte und fiel rücklings zu Boden. Das Tennúr klammerte sich immer noch an sie, und dann schoss sein Kiefer auf sie zu.

Unvermittelt klatschten Blut und Knochen in Elvars Gesicht, dann war das Tennúr verschwunden, und sie erblickte Grend, der mit seiner Axt neben ihr stand. Elvar lag auf dem Boden, starrte zu ihm hoch, und im nächsten Moment bewegte sich etwas unter ihr. Kleine Hände schaufelten sich aus dem Boden, griffen nach einem ihrer Beine, und eine andere Kreatur bewegte sich an ihrem Arm. Sie schlug um sich, konnte sich aber nicht selbst befreien. Grends Axt schlug immer wieder zu, und die Tennúr kreischten. Blut verteilte sich wie Nebel in der Luft, dann war Elvar frei und sprang auf. In dem Moment hackte Grend ein Tennúr in der Luft in zwei Teile, das gerade mit summenden Flügeln auf Elvar zuflog. Die sah, dass zwei Tennúr an Grends Beinen hochkletterten, wobei ihre Klauen blutige Furchen in seiner Hose hinterließen. Er ignorierte sie, um sie zu verteidigen. Sie rammte einem Tennúr ihr Schwert in den Rücken und spießte es auf. Die Kreatur kreischte, schlug um sich, ließ Grends Bein los, und sie schleuderte es von ihrer Klinge auf ein anderes Tennúr, das gerade auf sie zuschoss. Die beiden prallten gegeneinander und landeten krachend auf dem Boden.

Immer noch hingen Tennúr an Grend. Eines krallte sich an seinen Rücken, riss sein Maul auf und biss in seine Schulter. Zähne knirschten über Kettenpanzer. Elvar bohrte ihm ihr Schwert ins Auge, und die Kreatur fiel schlaff zu Boden.

Jetzt hatte Elvar ihren Schild in der Faust und hämmerte den Buckel auf ein Tennúr. Die Kreatur wurde durch die Luft geschleudert. Grend knurrte, als noch mehr Tennúr um ihn herumschwärmten. Blut sickerte aus den Wunden an seinen Beinen, er hatte Bissspuren an Hals und Kinn, und von einer Platzwunde auf dem Kopf lief ihm Blut über das Gesicht. Elvar stach und schlug auf die Kreaturen ein, die sich an ihn klammerten. Es war eine blutige Ernte. Als er sich schließlich von ihnen befreit hatte, stellten sie sich Rücken an Rücken mit erhobenen Schilden auf und schlugen mit Schwert und Axt auf den wirbelnden Sturm aus Flügeln und Zähnen und Krallen ein und deckten sich gegenseitig. Elvar wünschte sich, sie hätte ihren Speer und ihren Helm nicht auf eines der Packpferde geschnallt.

Agnar brüllte, schrie Schlachtrufe oder Befehle, Elvar konnte es nicht genau verstehen. Sie sah, wie die Krieger zu ihm rannten, ihre Schilde zusammenlegten und einen kleinen Kreis bildeten, aus dem hervor sie mit ihren Speeren und Schwertern zustachen. Dann bewegte sich der Schildwall zu der Isbrún-Brücke. Ein Pferd wieherte schrill, bäumte sich auf und brach zusammen, vollkommen unter Tennúr begraben. Eine Frau lag auf dem Boden, Sólín, glaubte Elvar. Sie rollte sich durch das wogende Gras und kämpfte gegen mindestens ein Dutzend der Kreaturen, die versuchten, ihre Kiefer aufzuzwingen und ihr die Zähne aus dem Zahnfleisch zu reißen.

Wir müssen uns bewegen, wir müssen zu Agnars Schildwall.

Grend grunzte, und Elvar spürte, wie sich sein Gewicht von ihrem Rücken löste. Sie taumelte zurück. Dann drehte sie sich um und sah ein Tennúr auf Grends Schulter. Es hatte einen schimmernden schwarzen Stein in den Händen, von dem rotes Blut tropfte. Grend lag ausgestreckt auf dem Boden. Sein schwarzes Haar am Hinterkopf war blutgetränkt, und das Tennúr zerrte an seinem Kopf, versuchte seine langen Krallenfinger in seinen Mund zu schieben.

Grend, der einzige zuverlässige Mensch in ihrem Leben, der Mann, der ihr Treue geschworen und seinen Eid nie gebrochen hatte. Der Mann, der alles geopfert hatte, um sie zu beschützen.

Elvar schrie vor Furcht und Zorn und schlug mit ihrem Schwert auf das Tennúr mit dem Stein ein. Sein Kopf wirbelte durch die Luft. Dann trat sie über Grends reglosen Körper, hob den Schild und hackte mit ihrem Schwert auf die Tennúr ein, die versuchten, sich auf ihn zu stürzen.

Sie war die Einzige, die noch auf dem Hang stand. Agnar und sein Schildwall waren schon halb bei der Brücke, und noch weiter entfernt führten Sighvat, Kráka, Huld und der Hundur-Thrall die überlebenden Packpferde in einem weiten Bogen von dem Hügel und den dort schwärmenden Tennúr weg.

Furcht flammte in ihr auf, dass man sie mit diesem Ungeziefer zurücklassen könnte. Dass man ihr die Zähne und die Augen herausreißen würde. Dass sie so nah an Oskutreð war und dann scheiterte.

»Agnar!«, brüllte Elvar. Sie sah, dass der Schildwall auf seinem Weg zur Brücke zum Stehen kam, und ihr Blick fiel auf Agnars Gesicht, der über seinen Schildrand zu ihr sah. Dann schrie er etwas, aber die Worte gingen im Gekreische der Tennúr unter. Doch der Schildwall setzte sich wieder zu ihr zurück in Bewegung. Hoffnung keimte in ihr auf.

Aber die Tennúr sahen auch, dass der Schildwall sich bewegte, woraufhin sie wie verrückt durcheinanderflogen. Immer mehr stürzten sich auf Elvar, bis sie nichts mehr außer Schwingen und Zähnen und Krallen sehen konnte. Sie spürte, wie Schläge auf sie herabprasselten. Wo Krallen ihre Haut zerfetzten, brannte es wie Feuer, sie kratzten schrill über ihr Brynja, ihr Schwert war blutüberströmt, ihr Schild blutig und zerhackt. Ihre Arme waren schwer wie Blei und ihre Muskeln brannten. Die Schwäche sickerte in ihren ganzen Körper.

Wegen des Blutverlusts, begriff sie. Ihr war klar, dass sie sich nicht mehr sehr viel länger auf den Beinen halten würde.

Dann kreischten die Tennúr und wimmerten, stürzten um sie herum zu Boden, mit schlaffen Flügeln und Armen. Jemand schob sich durch den Vorhang aus Schwingen und Körpern, ein Mann. Er schwang seinen Speer mit einer berserkirhaften Geschwindigkeit in großen Bögen und zerfetzte die Kreaturen. Eine Lücke öffnete sich zwischen den Tennúr, und Elvar sah ihn. Es war Biórr. Sein Gesicht war zu einer Fratze verzerrt, als er sich mit Speer und Schild eine Gasse durch diesen Mahlstrom aus Vaesen bahnte. Er sah Elvar und grinste, blickte auf Grend hinunter.

Der Anblick von Biórr flößte Elvar neue Kraft ein. Sie hob den Schild, stach zu, schlug um sich und hackte auf die Kreaturen ein. Schließlich erreichte Biórr sie, und sie stellten sich schützend über Grend und kämpften, bis sich eine Lücke vor ihnen öffnete. Die Tennúr zogen sich zurück, flatterten in der Luft und starrten Elvar boshaft und gierig an. Biórr nutzte die kleine Atempause, um sich den Schild auf den Rücken zu schieben, sich hinzuhocken, Grend mit einem Ächzen aufzuheben und sich den schweren Mann über die Schultern zu wuchten. Dann stand er auf.

Sofort stürzten sich die Tennúr wieder auf sie, aber Elvar hob ihren Schild und bahnte sich mit dem Schwert einen Weg durch sie hindurch. Sie schützte Biórr und Grend so gut sie konnte. Dann stolperte sie über etwas, blieb aber auf den Füßen und sah einen blutigen Leichnam am Boden liegen. Er war jedoch nicht mehr zu erkennen, weil Tennúr seine Haut zerfetzten, sich um die Zähne stritten, während sie sie aus dem malträtierten Mund rissen. Schreie und laute Rufe drangen zu ihr durch, dann wurde der brodelnde Strom aus Vaesen dünner, und sie sah Schilde. Eine Wand aus Schilden marschierte auf sie zu. Sie erreichte freies Gelände, als sie den Hang hinter sich ließ und der Boden eben wurde. Zwar flogen immer noch Tennúr um sie herum, aber sie sah auch Flecken des Himmels dazwischen. Sólín rollte sich vor ihr über den Boden und versuchte, einen Tennúr mit einer Hand festzuhalten, während sie mit dem Scramasax auf die Kreatur einstach. Elvar wandte sich ihr zu und hackte ihr Schwert in die Schulter des Tennúr. Die Kreatur kreischte und stürzte zu Boden. Elvar packte Sólíns Handgelenk und zog die grauhaarige Kriegerin auf die Füße. Agnar brüllte, und sie entdeckte sein Gesicht im Schildwall. Eine Lücke öffnete sich zwischen den Schilden, durch die Elvar Sólín stieß. Dann lief sie zurück, um Biórr zu decken. Nach wenigen Herzschlägen stolperte Biórr in den Kreis der Schlachtgrimmen, Grend immer noch über den Schultern. Elvar folgte ihm. Die Schilde legten sich mit einem Knall zusammen und schützten sie, dann bewegte sich der Schildwall erneut, weg von dem Hügel und zu der Isbrún-Brücke.

Etwas summte über ihr, und sie spürte einen scharfen Schmerz im Ohr und auf der Kopfhaut, als ein Tennúr auf ihrem Kopf landete. Die spitzen Finger gruben sich in ihre Haut und in ihren Zopf. Agnar packte die Kreatur an der Kehle, die nach ihr schnappte. Dann riss er sie von Elvar herunter, warf sie zu Boden, wo die Krieger sie zerstampften. Der Schildwall bewegte sich weiter, und das Summen der Tennúr ließ nach. Schließlich drängte sich Elvar neben Biórr und legte ihre Hand an Grends Hals, suchte nach seinem Puls.

Sie seufzte erleichtert, als sie ihn fand. Er schlug langsam und regelmäßig.

»Danke«, sagte sie und drückte Biórrs Arm. Er grinste gequält, während er unter dem Gewicht von Grend ächzte.

Elvar warf einen Blick zurück, als der Schildwall seinen Marsch fortsetzte. Eine Wolke der Vaesen schwebte wirbelnd über dem Hügel. Trauben der Kreaturen hockten auf dem Boden, wo sie wie Ameisen über Leichen krochen. Die eines Pferdes und einer Handvoll Krieger.

Dann veränderte sich der Boden unter Elvars Füßen. Das Gras und die Erde verwandelten sich in etwas so Solides wie Gestein. Elvar blickte nach unten. Sie stand auf der Isbrún-Brücke. Agnar gab einen Befehl, und der Schildwall öffnete sich. Die Krieger blieben stehen und sahen sich staunend um.

Die Brücke war so breit, dass fünfzig Krieger nebeneinander hätten marschieren können. Sie bestand aus Eis, aus dickem, solidem Eis, das unter Elvars Füßen knirschte und knackte, als würde sie über gefrorenes Gras gehen. In dem Eis schimmerte Licht, gefangen und gebrochen, Licht von dem Fluss aus geschmolzenem Feuer, den Elvar durch die Brücke sehen konnte. Er blubberte weit unter ihr.

Wieso schmilzt das Eis nicht?

»Das ist nicht der richtige Ort, um eine Pause zu machen!«, rief Uspa. Sie stand auf dem Scheitelpunkt der Brücke. Hinter ihr lag ein Land, das schon seit hundert Jahren nicht mehr von Menschen betreten oder auch nur gesehen worden war.

»Ha! Die Seiðrhexe spricht die Wahrheit!«, rief Agnar. »Weiter!«, brüllte er. »Auf nach Oskutreð!«