»A ch du heilige Scheiße. Ich fliege in einem Privatjet nach Russland. Ich muss träumen«, murmele ich gegen den Turbinenlärm an.
Habe ich mir so etwas jemals erhofft?
Natürlich. Im Rahmen meiner Zukunftsvisionen, die eine Seniorpartnerschaft in einer berühmten Kanzlei betreffen, habe ich mir durchaus ausgemalt, wie ich einen großen Teil meines Lebens im Privatjet verbringe, um meine milliardenschweren Klienten, die sich auf dem gesamten Globus verteilen, zufriedenzustellen.
Doch dass ich es tue, bevor ich überhaupt mein Studium beendet habe, und dieser Flug absolut nicht mit meinem Jurastudium im Zusammenhang steht, damit habe ich wohl nicht gerechnet.
»Na ja. Es kommt immer anders, als man denkt«, kommentiere ich mit einem Schulterzucken und nippe an meinem Wasser.
Interessanterweise gibt es keine Flugbegleiterin. Der Pilot hat sich nicht vorgestellt und ich habe keine Sicherheitseinweisung erhalten. Wenn wir abstürzen, bin ich vollkommen aufgeschmissen.
Nur diese Wasserflasche hat mich auf einem der blankpolierten Tische des Passagierraums erwartet. Wohl vielmehr das Zeichen dafür, auf welchem mit champagnerfarbenen Leder bezogenen Platz ich den Flug verbringen soll, als eine Aufmerksamkeit.
An dieser Wasserflasche klammere ich mich nun schon seit Stunden fest und starre aus dem Fenster.
Ich habe versucht zu schlafen, doch es ging nicht. Obwohl ich hundemüde bin. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich diese Zeit nutzen sollte, um mir genau zu überlegen, ob ich das alles so will oder ob ich nicht am besten den nächsten Linienflug zurück nach Valentine nehme.
»Tja, Lev. Hat gewirkt. Natürlich geht mir die Pumpe. Ich befinde mich im Anflug auf ein vollkommen fremdes Land, dessen Gepflogenheiten mir unbekannt sind, dessen Sprache ich nicht einmal ansatzweise verstehe und dessen Regierungsform noch weniger.« Ich nehme einen weiteren Schluck Wasser und rolle mit den Augen. Und führe idiotische Selbstgespräche.
Verflucht, ich bin wirklich nervös. Zwar hatte ich genügend Zeit, mir Gedanken darüber zu machen, ob ich diese Nachhilfestunden doch besser absage, aber ich bin dahingehend wie blockiert. Ich komme mit meinen Überlegungen nicht weiter, weil ich nicht weiß, was ich will.
Asher hat erwähnt, dass ein Mädchen, welches mit Lev Bekanntschaft machen sollte, direkt zurückgeschickt wurde. Vielleicht nimmt Lev mir die Entscheidung ab, und ich kann mir daraufhin einreden, wie enttäuscht ich bin – und nicht, dass ich im Grunde meines Herzens eigentlich total erleichtert bin.
»Oh Gott«, murre ich und wende den Blick ab, als der Jet in diesem Moment die Wolkendecke durchbricht und mir die russische Pampa entgegenspringt. Ich habe ein ganz mieses Gefühl bei der Sache.

* * *
Der Privatjet ist auf einem winzigen Flugplatz gelandet, der mindestens genauso privat ist wie der Jet. Es gibt eine funkelnde Ankunftshalle und ein paar weitere, mit Pelz und Edelsteinen behängte Fluggäste, die unweit von mir aus ihren eigenen schnittigen Jets geklettert sind.
Aber das ändert nichts daran, dass wir uns in the middle of nowhere befinden. Beim Landeanflug habe ich nämlich nichts ausfindig machen können, was einer Stadt ansatzweise ähnlich käme.
Nur Wald. Und Steppe.
Er wird mich umbringen und irgendwo verscharren. Niemand wird es merken.
Im Laufschritt bewege ich mich über den vor Regen glänzenden Asphalt, der mich zu der gläsernen, elektrischen Schiebetür der Empfangshalle führt.
Wenn ich nicht vorher ertrinke , setze ich in Gedanken hinzu und mache einen Schlenker an einer ausladenden Pfütze vorbei. Es regnet in Strömen und ich befürchte, meine Frisur und mein Make-up lösen sich gleich in ihre Bestandteile auf, wenn ich nicht schnell genug laufe.
Hastig ziehe ich den Rollkoffer hinter mir her, dessen Räder bedenklich quietschen. Das haben sie schon immer gemacht, nur bin ich mir sicher, dass es durch die Feuchtigkeit noch schlimmer geworden ist.
Endlich gleiten die beiden Türhälften vor mir auseinander, ich mache zwei Schritte in die wohlige, trockene Wärme und zücke mein Handy.
Die Uhrzeit hat sich automatisch aktualisiert. Es ist kurz nach drei am Nachmittag, aber mein Zeitgefühl will mir natürlich weismachen, dass es acht Uhr morgens ist und ich die Nacht durchgemacht habe. »Verdammt, ich bin echt im Arsch.«
Inzwischen ist es mir egal, ob mich jemand hört und zu allem Überfluss auch noch verstehen kann. Meine Laune wird zusehends mieser, weil mich nicht nur der Regen nervt, sondern auch die Müdigkeit und mein leerer Magen. Und die Ungewissheit darüber, was mich erwartet, macht das Ganze erst recht nicht besser.
Stöhnend stecke ich das Handy zurück in meine Tasche und schaue mich verwirrt um. »Wie soll ich ...?«
»Tamara?« Ein breitschultriger Mann mit schwarzem Sidecut und eisblauen Augen steuert auf mich zu.
Ich nicke mit einem erleichterten Seufzen, allerdings schnürt sich mir in derselben Sekunde vor Nervosität die Kehle zu. Es ist so weit!
»Hoffentlich hattest du einen angenehmen Flug. Ich bin dein Fahrer«, erklärt er, bleibt etwa eineinhalb Meter vor mir stehen und fixiert meinen Blick. Sein Englisch ist einwandfrei, der russische Akzent ist trotzdem nicht zu überhören.
Gott. Diese Augen! »Hey«, erwidere ich und ärgere mich sogleich über meine heißen Wangen. »Tamara. Wie Sie bereits festgestellt haben.« Während ich überlege, ob ich den enttäuschenden, besser gesagt, nicht vorhandenen Service im Laufe des Fluges erwähnen soll, lächele ich ihn zögerlich an.
Doch er erwidert mein Lächeln nicht, sondern dreht mir wortlos den Rücken zu und setzt sich in Bewegung.
Soll ich ihm jetzt folgen? Oder hat das zu bedeuten, dass ich den Test nicht bestanden habe?
Unschlüssig mache ich einen Schritt vorwärts und bleibe wiederum so abrupt stehen, dass ich fast das Gleichgewicht verliere. »Ähm«, verkünde ich, laut genug, sodass der Fahrer mich hören kann.
»Was? « Er wirbelt herum und funkelt mich zornig an.
Erschrocken zucke ich zusammen. »Wow. Ähm. Darf ich ... soll ich ... zurückfliegen?«
Das Funkeln in seinem Blick verhärtet sich und ich mache einen Schritt rückwärts, den Griff meines Koffers fest umklammert.
»Wie kommst du darauf?!« Ich wette, man kann ihn bis in die hinterste Ecke der Halle hören, aber keiner der anderen Menschen scheint sich für uns zu interessieren.
Nur ein Mann, etwa fünf Meter von uns entfernt, ist synchron mit dem Fahrer stehen geblieben und wartet ab.
Ich wage nicht, ihn genauer zu betrachten. Nicht nur, weil mir mein ohnehin schon wild klopfendes Herz mir weismachen will, dass es sich bei dem mysteriösen Fremden um Lev handelt. Nein, ich traue mich einfach nicht, den Fahrer aus den Augen zu lassen. Mein Instinkt befürchtet nämlich, dass dieser mich anfällt, sobald ich ihn auch nur für eine Sekunde nicht beachte.
»Entschuldigung.« Ich räuspere mich und drücke die Schultern durch. Wenn ich so weitermache und keinen vernünftigen Satz zustande bekomme, hält er mich noch für geistesgestört. »Ich war ... ich bin mir nicht sicher, ob ich den Test bestanden habe.«
Perplex zieht der Fahrer die Stirn kraus und macht einen Schritt auf mich zu. »Welchen Test denn?«
»Na ja, Asher hat gesagt, dass ein Mädchen direkt nach ihrer Ankunft wieder zurückgeschickt wurde.« Irgendwie komme ich mir gerade total bescheuert vor. Ich bin doch nicht bei einer Datingshow.
»Habe ich gesagt, dass du abreisen sollst?«, fragt er mit einem entnervten Unterton.
Ist ja super. Kaum bin ich hier, schon habe ich es mir mit dem ersten von Levs Angestellten verscherzt. »Nein.« Ich schüttele den Kopf und setze mich zögerlich in Bewegung. »Tut mir leid, ich wollte Sie nicht aufhalten.« Und ich kann auch keine Gedanken lesen.
Er erkennt meine Entschuldigung mit einem knappen Nicken an, dreht mir wieder den Rücken zu und läuft schweigend voraus.
Wenn man einmal davon absieht, dass er ein Arschloch ist, muss ich ehrlich zugeben, dass der Fahrer durchaus attraktiv ist. Ich schätze ihn auf höchstens Mitte dreißig. Er ist mindestens eins fünfundachtzig und seinen Bewegungen unter dem Mantel nach zu urteilen, ist er athletisch gebaut – und das ist echt heiß. In dieser Sekunde verlassen wir die Ankunftshalle, aber aus irgendeinem Grund entwickle ich das dringende Bedürfnis, den Mann vor mir unverhohlen anzuglotzen: Wie er beim Laufen sanft die Schultern bewegt ... da muss ich ironischerweise direkt an Assassin’s Creed denken, in dem der Held an Fassaden hochklettert, von Dach zu Dach springt, seine Feinde hinterrücks absticht ... Sofern man sich während des Spiels die Zeit nimmt und den Helden langsamen Schrittes die Straße entlangschlendern lässt, bewegt er sich genauso wie der Fahrer vor mir: kraftstrotzend und gleichzeitig irgendwie ... lässig.
Einfach nur faszinierend.
»Fuck!« Schlagartig werde ich von seinem Anblick und meinen übermüdeten Hirngespinsten losgerissen, als ich mit Schwung in eine tiefe Pfütze trete und das kühle Wasser meine teuren Pumps und auch die Nylonstrümpfe mit bräunlichen Tropfen besprenkelt. Die angenehm trockene Wärme in der Ankunftshalle hat mich vollkommen vergessen lassen, dass ich den Weg vom Jet beinahe gerannt bin, um nicht allzu sehr durchzuweichen.
Überrascht dreht sich der Fahrer zu mir um und zieht beide Augenbrauen hoch. »Ist alles in Ordnung?«
Mir fällt jetzt erst auf, dass ich unvermittelt stehen geblieben bin und inzwischen den instinktiven Drang verspüre, auf dem Absatz kehrtzumachen. Das Spritzwasser der Pfütze hat das Fass sprichwörtlich zum Überlaufen gebracht: Drei Wochen soll ich es hier aushalten? Ich bin gerade fünf Minuten in diesem fremden Land und habe jetzt schon die Nase gestrichen voll. Das mit dieser Pfütze kann doch nur ein schlechtes Omen sein!
»Nein, ich habe mir bloß mein teuerstes Paar Schuhe ruiniert. Super. Kaum bin ich hier, schon glänze ich mit besudelter Kleidung«, antworte ich ihm, ohne darüber nachzudenken und mit einem vorwurfsvollen Tonfall, als sei er schuld an meiner Unbeholfenheit.
Natürlich reagiere ich total über und benehme mich wie eine waschechte Diva. Das weiß ich auch. Aber wie heißt es so schön? Du bist nicht du selbst, wenn du Hunger hast . Bei mir kommt obendrein die Müdigkeit und die Nervosität wegen Lev dazu, dass der Fahrer nicht einmal Gentleman genug ist, mir mein Gepäck abzunehmen … und dieser verdammte Regen raubt mir noch den letzten Nerv!
Eigentlich brauche ich mich gar nicht so aufzuregen. Eben dieses Wetter bin ich aus Valentine gewohnt. Zwar nicht gerade im Hochsommer, aber es ist ja nicht so, dass ich in Arizona wohne, sondern an der Ostküste.
»Wie bitte?«
An seiner Stelle wäre ich ebenfalls verwirrt. Es gibt kaum Menschen, die meine Äußerungen auf Anhieb nachvollziehen können und woher soll er auch wissen, dass ich mich im Grunde nur über mich selbst ärgere, weil ich mich nicht auf das Wesentliche konzentrieren kann.
Ich lächele entschuldigend. »Ja, natürlich ist alles in Ordnung. Es ist nur so ... verdammt nass.« Am liebsten hätte ich irgendetwas in Richtung Kackwetter gesagt, aber nachdem ich eben schon so lauthals geflucht habe, kann ich mich noch zusammenreißen. Tatsächlich bin ich, was die Gossensprache betrifft, gar nicht so bewandert, doch irgendwie fallen mir momentan nur Schimpfwörter ein, um meine aktuelle Situation und Gefühlslage zu umschreiben.
»Es sind nur ein paar Schritte bis zum Wagen«, erklärt er und dreht mir wieder den Rücken zu.
Ich kann nicht genau sagen, ob sein Tonfall amüsiert oder entnervt klingt. Ist beides möglich. Und anhand seines faszinierenden Gangbilds kann ich schlecht herausfinden, ob der Fahrer Gattung ›typisch Frau, zieht sich nicht dem Wetter entsprechend an ‹ mit einem entnervten Augenrollen oder mit einem amüsierten Schmunzeln ist. Vielleicht auch so ein Mittelding. Das macht ihn nur noch undurchschaubarer.
»Okay, danke«, bringe ich murrend zum Ausdruck und versuche, mit der freien Hand meine Jacke enger um mich zu ziehen, damit zumindest ein Teil von mir trocken bleibt. Meine andere Hand hält noch immer den Koffer fest, der ebenfalls ein Bad in der Pfütze genommen hat. Ich kann nur hoffen, dass er wasserdicht ist.
Erneut hängt mein Blick an den breiten Schultern des Fahrers fest. Wenn Lev mehrere Chauffeure angestellt hat, wovon ja auszugehen ist, muss ich Mister Faszinierendes-Gangbild eventuell nie wieder über den Weg laufen. Dann könnte ich der Zocker-Seite an mir und derjenigen, die es liebt, die unpassendsten Sprüche zu den schlechtesten Gelegenheiten loszuwerden, nachgeben und ihn fragen, ob er in seiner Freizeit gerne an Fassaden hochklettert und Menschen hinterrücks erdolcht.
»Vielleicht würde es die eigenartige Stimmung zwischen uns auflockern«, flüstere ich so leise, wie ich kann.
Okay. Eigenartige Stimmung ist übertrieben, mich stört es schlicht, dass ich keine Ahnung habe, wie ich diesen Mann einschätzen soll. Außerdem bin ich ohnehin mit den Nerven am Ende, weil ich allgemein keine Ahnung habe, wie ich alles einschätzen soll.
»Hast du etwas gesagt?«, fragt Mister Faszinierendes-Gangbild in derselben Sekunde, wie wir einen schwarzen SUV erreichen.
»Nein, nichts Wichtiges.« Verschämt schaue ich zu Boden und freue mich das erste Mal über den kühlen Regenschauer, der meine Wangen unverzüglich abkühlen lässt, bevor sie richtig rot werden können.
Toll, ein gutes Gehör hat er ebenfalls. Vielleicht kann er auch durch Wände gucken und verborgene Gegenstände und Schriftzeichen erkennen.
»Du führst also Selbstgespräche.« Er öffnet eine der Fahrgasttüren und wendet sich mir mit undurchdringlicher Miene zu.
»Ja. Leider.« Wie peinlich. Zum Glück ist er nur mein Fahrer und ich muss mich nach meiner Ankunft in Levs Haus nicht mehr mit ihm beschäftigen. Das bedeutet allerdings, dass ich mich demnächst mit Lev auseinandersetzen muss.
Oh Mann. Vielleicht ist das hier doch eine ganz, ganz dumme Idee.
Obwohl mein Körper nicht zögert, Mister Faszinierendes-Gangbild dankend zunickt und einsteigt, bleibt meine Seele vor dem Wagen stehen und schaut unsicher von rechts nach links, atmet einmal tief durch und folgt meinem Körper in das abgedunkelte Innere des Wagens. Nun ist es wohl zu spät, einen Rückzieher zu machen.
»Wieso?«, geht er auf mein ›Ja. Leider‹ ein. »Ist da etwa eine Stimme, die dir antwortet? Psychologisch bedenklich.«
Entgeistert zucke ich zur Seite. Zu früh gefreut, dass ich mich nicht mehr weiter über meine Selbstgespräche mit ihm unterhalten muss. Denn offenbar ist er gar nicht mein Fahrer: Eben hat er sich noch mit einer Hand auf dem Autodach in den Wagen gebeugt, um mir vor die Füße zu klatschen, dass er mein Verhalten möglicherweise für psychologisch bedenklich hält und in der nächsten Sekunde ist er eingestiegen und hat sich neben mich gesetzt.
»Wie jetzt?« Mein Blick schwenkt von ihm zum Cockpit und wieder zurück. »Ist das hier etwa eines dieser Autos, die vollkommen computergesteuert fahren?«
Nein. Der richtige Fahrer steigt augenblicklich vor mir ein. Es ist der Typ, der in der Ankunftshalle ein paar Meter von uns entfernt gelaufen ist und den ich kurz für Lev gehalten habe.
Vielleicht weniger ein Fahrer, sondern vielmehr ein Personenschützer, der den Mann, den ich Mister Faszinierendes-Gangbild nenne, in der Öffentlichkeit vor Zugriffen und Schusswunden bewahrt.
Eisblaue Augen mustern mein Gesicht, während ich zwischen ihm und dem richtigen Fahrer hin und her schaue. Keine Regung ist in seiner Miene zu erkennen, was mich noch mehr irritiert als alles andere. Kein überhebliches Schmunzeln, weil er mich hinters Licht geführt hat.
»Ähm. Lev?«, frage ich schließlich, da dies der einzige Schluss ist, zu dem ich gekommen bin.
»Korrekt.«
»Ähm.« Ich schlucke schwer. Spätestens jetzt ist er mir unheimlich. Während ich vor ein paar Minuten noch aufpassen musste, dass ich nicht anfange zu sabbern, weil ich sein Gangbild so reizvoll finde, wird mir nun bewusst, dass Lev ein durchaus gefährlicher Mann sein könnte, wenn man auf der falschen Seite steht. Zumindest aus seiner Sicht.
»Hat es dir die Sprache verschlagen oder weshalb siehst du mich so an, als habe ich dir soeben mitgeteilt, dass ich deine gesamte Familie umgebracht habe?«
Genau das schwebt mir gerade vor. Dass er droht, alle umzubringen, die mir lieb sind.
Hm. Möglicherweise könnte ich ihn ein wenig in die Irre führen. Ich hoffe, es ist nicht notwendig, aber so brauche ich wenigstens nicht zu befürchten, meine Mom in Gefahr gebracht und mich damit erpressbar gemacht zu haben.
»Okay. Dann müssten Sie bei Asher anfangen«, richte ich ihm aus. Ich sieze ihn weiterhin, weil ich finde, dass zumindest einer von uns halbwegs höflich bleiben sollte. Außerdem habe ich auf diese Weise das Gefühl, dass ich ihn besser auf Distanz halten kann. »Und er sagte mir, dass Sie alte Freunde sind. Wollen Sie das?«
Eine von Levs Augenbrauen zuckt empor. »So? Asher ist dir wichtiger als deine eigene Mutter?«
Er wendet sich für einen kurzen Moment von mir ab, um den Fahrer zu taxieren und ihm ein paar Anweisungen auf Russisch zukommen zu lassen. Seine Worte hören sich zumindest nach Anweisungen an; bei dieser Sprache kann ich es ehrlich gesagt schwer einschätzen. Für mich klingt sie immer gleichbleibend rau und ... forsch.
»Du weißt, dass er nichts mit seinen Angestellten anfängt?« Er wendet sich wieder mir zu.
»Wieso gehen Sie gleich davon aus, dass ich scharf auf ihn bin? Nur weil ich meinen Job mag und gut mit ihm auskomme, heißt es noch lange nicht, dass ...« Okay, und jetzt bezwecke ich genau das Gegenteil von dem, was ich eigentlich will. »Ist auch egal.« Ich schüttele den Kopf, schürze die Lippen und schaue nach vorn aus der Windschutzscheibe. Ich kenne diesen Mann seit ein paar Minuten und kehre bereits die Zicke heraus. Das sollte ich besser sein lassen.
»Dann kläre mich lieber auf, bevor ich irgendetwas Falsches sage ... oder tue«, höre ich Levs akzentuierte Stimme von rechts. Er klingt irgendwie ... eingeschnappt. Vielleicht sogar enttäuscht. »Wenn Asher nämlich der wichtigste Mensch in deinem Leben ist, werde ich dich sofort in den nächsten Flieger setzen und ihm Bescheid geben, dass er mir keine Mädchen schicken soll, die er einfach nur loswerden will, weil sie sich mehr von ihm ...«
»Stopp!«, rufe ich aus und der Fahrer schaut irritiert in den Rückspiegel, tritt aber zum Glück nicht auf die Bremse. »Damit meine ich nicht Sie«, wende ich mich schuldbewusst an die grauen Augen im Rückspiegel und hoffe, dass der Fahrer mich überhaupt verstehen kann.
Mit einem leisen Seufzen drehe ich mich wieder zu Lev, dessen Augen mich mit eisigen Pfeilen durchbohren.
Alles klar, er kann es also nicht leiden, wenn ihm jemand ins Wort fällt. Ist mir wurst. Womöglich wird er mich hierfür nachher bestrafen , aber meine perverse Seite kann es ohnehin nicht abwarten, endlich für meine zahlreichen verbalen Ausbrüche gerügt zu werden.
»Ich wollte damit lediglich darstellen, dass ich meinen Verwandten nicht sehr nahestehe. Und Asher ist mein Boss. Natürlich finde ich ihn heiß, da er es einfach ist , aber ich würde niemals auf die Idee kommen, mich ihm an den Hals zu werfen. Schon allein, weil ich dann meinen Job verliere und ich bin auf das Geld echt angewiesen.«
»Also hast du niemanden , der dir nahesteht?« Seinem Tonfall nach zu urteilen, wirkt Lev betroffen, sein Blick verrät mir allerdings etwas anderes: Gleichmut. Es ist ihm scheißegal. Eben haben mich seine Augen noch durchbohrt, aber das bloß etwa eine Sekunde lang, wahrscheinlich nur, um mir das nonverbale Versprechen zu geben, dass ich einen Fehler begangen habe – und mehr nicht.
»Niemand, der mir sehr nahesteht«, ergänze ich.
Falls er mein Privatleben wirklich derart intensiv studiert hat, wie ich erwarte, wird er wissen, dass ich meiner Mom regelmäßig Geld überweise, damit sie nicht zurück in die Wohnwagensiedlung muss, in der sie mich großgezogen hat. Die paar Male, die wir im Jahr telefonieren und uns sehen, kann Lev auch als Pflichtanrufe und -besuche interpretieren. Meine Geschichte sollte also weitgehend authentisch wirken.
Verbissen schaue ich wieder nach vorn. Was er kann, kann ich auch: Kaltblütigkeit ausdrücken. Möglicherweise nicht derartig perfektioniert, aber ich besitze eine gute Fassade, die ich nun wie einen Theatervorhang über meine Miene fallen lasse. Soll Lev doch denken, dass er in den Spiegel schaut, wenn ich ihn ansehe.
»Wieso haben Sie sich mir nicht von Anfang an zu erkennen gegeben?«, frage ich dennoch. Es verrät vielleicht meine Neugierde oder sogar, dass ich mich ein wenig auf den Schlips getreten fühle, aber immer noch besser als die Vorstellung, dass Lev weiterhin in meinem Privatleben herumwühlt.
»Ein Test. Um zu schauen, wie du reagierst.«
Ich ziehe die Stirn kraus. »Und, habe ich richtig reagiert?«
»Im Prinzip gibt es kein Richtig oder Falsch. Es ist nur für meinen ersten Eindruck; ob wir miteinander auskommen könnten oder nicht.«
Hä? »Und das erkennen Sie daran, wie ich mich Ihnen gegenüber verhalte, wenn ich davon ausgehe, dass Sie mein Fahrer sind?«
»Ja. Einmal, ob du dich für etwas Besseres hältst und einmal, weil du dich nur unnötig versteift hättest, wenn ich mich direkt bei dir vorgestellt hätte.« Er schnaubt leise. »Obwohl ich mir bei dir nicht ganz so sicher bin. Du wirkst vergleichsweise salopp.«
»Salopp?«
»Ja.«
»Okay.« Der sollte mich mal sehen, wenn ich wirklich salopp bin. Das, was er gerade als solches bezeichnet, ist nur meine Unfähigkeit, meine Klappe zu halten, wenn es notwendig ist. Na ja. Und die Tatsache, dass ich in aller Öffentlichkeit Selbstgespräche führe.
Noch immer schaue ich ihn nicht an. Meine erstarrte Miene, die einen Hauch Langeweile anzeigen soll, sitzt nach wie vor wie eine Eins.
»Also habe ich den Test doch bestanden«, wiederhole ich, bevor ein unangenehmes Schweigen zwischen uns eintritt.
Lev ist derzeit der Letzte, mit dem ich mich anschweigen will. Auf eine merkwürdige Art möchte ich ihm gefallen und ich fürchte, dass es nicht dazu kommen wird, wenn wir bereits nach den ersten fünf Minuten unseres ersten verbalen Schlagabtauschs nicht wissen, was wir einander zu sagen haben.
»Na ja.«
Eine gefühlte Ewigkeit warte ich auf eine nähere Ausführung, doch die kommt nicht. Er will mich aus der Reserve locken, das ist mir klar – und im selben Augenblick überrollt mich die Erkenntnis, dass das Spiel längst begonnen hat.
Kein Spiel. Meine Unterweisung. Die erste Lehrstunde.
Er testet mich. Checkt mich ab. Überprüft, wie weit er mit seinen Provokationen gehen kann. Er will herausfinden, wie weit ich mich aus dem Fenster lehne, wie sehr es mich nach einer Bestrafung dürstet, wie respektlos ich mich ihm gegenüber verhalte.
Bestimmt will er auch in Erfahrung bringen, inwieweit Asher mich über ihn aufgeklärt hat und ob ich weiß, was mich erwartet.
Ich möchte gar nicht versuchen, ihm irgendetwas vorzumachen. Zumindest nicht, was das betrifft. Allerdings habe ich auch keine Lust, mir an ihm die Zähne auszubeißen. Dafür bin ich viel zu übermüdet und ... hungrig.
Wie zum Beweis knurrt in diesem Augenblick mein Magen und ich lege hastig meine Hand auf die brennende Stelle in meinem Bauch.
»Hunger?«, fragt Lev zu allem Überfluss.
»Ja. Und müde«, gebe ich zu und schaue, anstatt ihn anzusehen, links aus dem Fenster.
Wir fahren durch ein karges Nirgendwo und in der Ferne kann ich die ersten Ausläufer eines Waldes ausmachen, wenn ich mich nicht irre. Die Umgebung wird in ein regnerisches Grau in Grau getaucht und das, was ich für Bäume halte, sind bloß düstere Schatten im trüben Nebel, die verkünden wollen, dass die nächsten Sonnenstrahlen noch eine Weile auf sich warten lassen. Und das Mitte Juli.
»Hier sieht es aus wie in einem verregneten Gruselfilm«, bemerke ich leise und dabei ist es mir egal, ob Lev sich angesprochen fühlt. Soll er doch denken, dass ich eines meiner Selbstgespräche führe.
»Ich dachte, du freust dich, wenn du dich dank des Niederschlags wie zu Hause fühlen kannst«, antwortet Lev ebenso gedämpft wie ich eben.
»Wie bitte? Ich wäre froh, wenn ich endlich mal wieder ein bisschen Sonne zu Gesicht bekäme!« Verständnislos schüttele ich den Kopf, allerdings, ohne ihn anzusehen. »Nein danke. Ich bin eher der Sommertyp.«
Ich dachte, ich würde eine der berühmten russischen Großstädte kennenlernen, doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Vielleicht bringt man mich auch in eine verlassene Holzhütte, in der ich die kommenden Wochen eine Art Survivaltraining absolvieren muss und alle paar Tage kommt Lev vorbei, um mich zu vögeln.
»Eher der Sommertyp«, wiederholt er meine Worte, wie um sie zu verinnerlichen. Keine Ahnung, was das soll.
Vorhin fand ich ihn ja, ehrlich gesagt, ziemlich heiß, aber momentan kann ich es mir gar nicht vorstellen, mit diesem Mann im Bett zu landen. Sein Verhalten mir gegenüber ist mir etwas zu suspekt. Normalerweise weiß ich schon nach dem ersten Wortwechsel, wie der Kunde sich das Ende des Abends vorstellt. Darum geht es ja auch. Weshalb sollte man Spielchen treiben?
Tja. Lev ist da anders.
Prompt fallen mir Ashers Worte wieder ein: Lev ist kein Kunde. Er ist mein Lehrer. Möglicherweise sogar mein Lehrmeister . Worin auch immer.
Ich gehe davon aus, dass er mich einfach in allem unterweisen will. Solange ich jedoch keine Ansage von ihm bekomme, mache ich, wonach mir ist. Und aktuell ist mir danach, aus dem Fenster zu schauen und ein unangenehmes Schweigen hervorzurufen, um ihn zu reizen.
Eben wollte ich ihm noch gefallen, aber jetzt nervt er mich. Wahrscheinlich sind die Müdigkeit und mein leerer Magen schuld an diesen Stimmungsschwankungen. Gestern war ich zu aufgeregt und habe keinen Bissen mehr hinunterbekommen. Außerdem war ich so naiv und bin davon ausgegangen, dass mir während des Fluges etwas zu essen angeboten wird.
»Du bist ein Quälgeist, oder?«, fragt er mich in diesem Moment.
»Quälgeist? Wo haben Sie denn dieses Wort aufgeschnappt? In meinem Leben hat man mich schon vieles genannt, aber Quälgeist zählt zu den Bezeichnungen, die ich noch nie gehört habe.« Ich starre ihn an und weiß nicht, ob ich spöttisch schnauben oder empört das Kinn vorschieben soll. »Und Sie sind ein Arsch.« Obwohl es albern ist, trifft mich sein Vorwurf. Er sagt es einfach so daher. Vollkommen aus dem Kontext gerissen und überhaupt nicht selbsterklärend. »Schicken Sie mich doch zurück, wenn ich Ihren Ansprüchen nicht genüge.«
In seinen Augen, die mich eben noch gelangweilt betrachtet haben, blitzt es für eine Millisekunde auf.
Soso. Ich habe also etwas an mir, das einen Nerv bei ihm trifft. Jetzt muss ich nur herausfinden, was genau es ist.
»Vergiss nicht, dass ich am längeren Hebel sitze. Du hast Hunger? Fein. Pass auf, dass ich dich nicht mit leerem Magen ins Bett schicke. Wenn ich es dir nicht erlaube, wirst du nirgendwo etwas zu essen finden.«
»Ah, die erste Drohung. Die erste Zurechtweisung. Die erste Andeutung, dass Sie das Maß aller Dinge sind. Oder passend zum Thema: dass Sie vorhaben, mich am langen Arm verhungern zu lassen, wenn Ihnen danach ist. Interessant.« Wieder blitzt es in seinem eisigen Blick auf und ich gebe mir größte Mühe, mir das überhebliche Schmunzeln zu verkneifen, das meine Mundwinkel für sich beanspruchen möchte. »Lev. Wenn Sie wollen, dass ich pariere, müssen Sie mir auch klare Anweisungen geben und mir vor allem Richtlinien aufzeigen, an denen ich mich entlanghangeln kann. Mit diesem Wischiwaschizeugs hier kann ich nichts anfangen.« Ich mache eine wedelnde Handbewegung in der Luft, achte dabei allerdings darauf, meinen neutralen Gesichtsausdruck mit einem Hauch Langeweile zu garnieren. »Sie müssen es mir sagen, wenn die Unterrichtseinheit bereits begonnen hat. Dann werde ich mich auch anpassen und die sein, die Sie haben wollen.«
Fassungslos starrt er mich an. Ich scheine es tatsächlich geschafft zu haben, dass er aus der Rolle fällt. »Keine Sorge«, bringt er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, »du wirst wissen, wann das Wischiwaschizeugs vorüber ist.«
Ich ziehe eine Augenbraue empor. »So?«
»Ja.« Noch immer durchbohrt mich sein eiskalter Blick. »Und du wirst mir den Respekt entgegenbringen, der mir gebührt. Ich bin keiner deiner notgeilen Kunden. Du willst etwas von mir und ich bin gewillt, es dir zu geben. Allerdings musst du es dir auch verdienen. Also benimm dich entsprechend und nicht wie eine spätpubertierende Göre, die meint, dass ihr durch ihre bloße Existenz alles zusteht, was sie haben will. Wenn du deine Wünsche erfüllt sehen möchtest, dann lerne, darum zu kämpfen.«
Ich schürze die Lippen. »Ich soll also um mein Essen kämpfen? Und wie sieht das in Ihrer Vorstellung aus?«
Er schnallt sich ab und lehnt sich zu mir. So nah, dass ich seinen Atem im Gesicht spüre. »Tamara.«
Sofort wende ich mich von ihm ab und schaue stur aus der Windschutzscheibe. Die Straße scheint endlos lang zu sein und verschwindet ein paar hundert Meter vor uns in sanften Kurven im wolkenverhangenen Wald.
Hatte ich also recht mit der Annahme, dass es sich bei den düsteren Schatten um Bäume handelt. Der Wald, den Asher angesprochen hat.
Wenn ich wenigstens wüsste, was mich am Ende dieser Straße erwartet.
»Ich verspreche dir eines«, zischt Lev in mein Ohr, »bei dem, was ich vorhabe, gibt es keine Richtlinien. Keine Regeln. Du tust schlicht und einfach, was ich dir sage.« Mit Daumen und Zeigefinger umfasst er mein Kinn und zwingt mich, ihn anzusehen. Ich schlage die Augen nieder. »Und wir beginnen damit, dass du ab sofort aufhörst, mir zu widersprechen. Du hörst auf, so frech zu sein und ... nein, ich weiß etwas viel Besseres: Du sprichst nur noch, wenn ich dich dazu auffordere.«
Alles klar. Damit habe ich gerechnet. Also, dass er mir früher oder später den Mund verbietet. Das wird nicht leicht für mich. Aber ich bin gewillt, es zu versuchen.
»Wie? Ab sofort?« Verdammt, ich kann es einfach nicht lassen.
Lev lässt seine Kiefermuskeln pulsieren und funkelt mich vernichtend an. »Ab sofort.«
Obwohl mir klar ist, dass ich Lev verärgert habe, durchströmt mich ein unvergleichliches Gefühl: Die eigenartige Erkenntnis, dass ich es so und nicht anders verdient habe.
Dass Lev genau weiß, was ich brauche.
Auf eine merkwürdige Art macht es mich glücklich, endlich jemanden gefunden zu haben, der mich kontrollieren wird. Oder es zumindest versucht.
Als ich registriere, dass Lev zwar noch immer mein Kinn zwischen seinen Fingern zusammenquetscht, aber nichts mehr sagt, nicke ich und muss mich beherrschen, nicht zu lächeln. Das würde er nur in den falschen Hals bekommen. Also lasse ich den Blick gesenkt und die Lippen geschürzt.
»Na gut«, brummt er leise. »Offenbar bist du doch nicht so schwer zu bändigen, wie ich anfangs gedacht habe.«
Bilde ich es mir ein oder klingt er schon wieder enttäuscht?
Ich hebe den Blick und schaue ihm in die eisblauen Augen. Seine Miene ist nach wie vor schwer zu lesen, enttäuscht würde ich sie aber nicht bezeichnen. Ich glaube sogar, dass sich Zufriedenheit in seinem Gesicht widerspiegelt.
»Ich werde dich July nennen. Wie der Monat, in dem ich dich besitze. Solange du unter meiner Kontrolle bist, wirst du auf keinen anderen Namen mehr hören.«