July

Tag 2

N ach einer weiteren Viertelstunde Fahrt durch ein Waldgebiet, danach durch ein düsteres Waldgebiet und später sogar über einen Rollsplittweg durch das düstere Waldgebiet, haben wir gestern dann die prunkvolle Villa am See erreicht. Am nebeligen See. Umrahmt von ... na? Genau. Wald. In Regenwolken gehüllten Wald.

Trotz der irgendwie unheimlichen und drückenden Atmosphäre ein wunderschönes Landschaftsbild. Diese Art von in Dunstschwaden gehüllte verwunschene Elfenlandschaft, bei der man sich eine teure Spiegelreflexkamera herbeiwünscht, weil das eigene Smartphone es einfach nicht schafft, die Stimmung einzufangen.

Dieses Gefühl überkam mich allerdings nur so lange, bis ich die ersten Schritte von der großflächigen Einfahrt vor der Villa bis zu der schweren zweiflügeligen Eingangspforte aus Ebenholz gemacht habe. Da fiel mir nämlich wieder ein, wie nass so ein Regenvorhang ist, und ich habe die Dunstwolken mit all ihrer bildgewaltigen Pracht verflucht.

Levs eingefrorene Miene hat dem Ganzen sowieso nicht abgeholfen. Ich wollte ihn fragen, ob es sich bei der Villa um einen Neubau handelt, der vorgeben soll, schon mindestens zweihundert Jahre alt zu sein, oder ob dieses Haus tatsächlich so alt ist. Ein Relikt aus der längst vergangenen Zarenzeit vielleicht. Aber da er mir ja den Mund verboten hat, wollte ich ihn nicht noch mehr verärgern.

Das war gestern noch meine geringste Sorge. Aber inzwischen … Ganz ehrlich: Der Typ hat sie nicht alle.

Ich habe mir ja irgendwie erhofft, dass er mir irgendwann von selbst von diesem Haus, dem See und dem Grundstück erzählt. Oder er ist in kommender Zeit nicht mehr so streng, und ich darf Fragen stellen und wieder so viel reden, wie ich will.

Sehr witzig. Ich bin nicht hier, um Lev ins Ballett oder auf irgendwelche Opernbälle zu begleiten, sondern, damit er seine dunkelsten Gelüste an mir ausleben kann. Wieso verdränge ich das ständig?

Obwohl ich am Fenster stehe und die warmen Sonnenstrahlen genieße, die heute hin und wieder durch die dicke Wolkendecke am Himmel hervorblitzen, schüttelt es mich.

Wie soll ich sagen? Seitdem ich hier bin, habe ich aus irgendeinem Grund die von Asher heraufbeschworenen kalten Füße bekommen: Da ist etwas an Lev, das mich ängstigt. Das mich davon abhält, Vertrauen zu ihm zu fassen.

Keine Ahnung, was es ist. Doch allein, wenn ich an seinen eisigen Blick denke, stellen sich mir die Nackenhaare auf. Mein Instinkt will mir weismachen, dass es besser ist, mich von Lev fernzuhalten.

Seinetwegen bin ich derart verunsichert, dass ich mich noch nicht einmal traue, Selbstgespräche zu führen, weil ich Bammel habe, dass Lev dieses Zimmer verwanzt hat. Solange ich kein Vertrauen zu ihm fasse, kann ich mich nicht auf ihn einlassen. So, wie ich es tun müsste, um eine gute Schülerin zu sein. Auf der anderen Seite bin ich mir sicher, dass Asher mich nicht hierhergeschickt hätte, wenn er Lev nicht zu hundert Prozent vertrauen würde.

Achselzuckend schaue ich wieder aus dem Fenster. Die Aussicht ist hinreißend. Das Sonnenlicht bricht sich gerade in den sanften Wellen des Sees und gaukelt mir vor, dass mich heute ein wunderschöner Sommertag erwartet. Die graublaue Wolkenwand am Horizont lässt allerdings etwas anderes vermuten. Entweder eine weitere Regenfront oder vielleicht sogar ein Gewitter.

Der Nebel hat sich wiederum komplett verzogen und nun lässt sich auf der exakt gegenüberliegenden Seite des Sees eine weitere Villa erkennen. Sie wirkt wie eine Spiegelung. Als wäre das Wasser nicht unter mir, sondern wie eine gläserne Wand vor mir, die Levs Domizil reflektiert.

»Das hier ist dein Zimmer. Wir befinden uns in einem der Erkertürme und du hast von hier aus die schönste Aussicht «, höre ich noch immer Levs frostige Stimme neben mir. Wie eine leise Drohung, dass ich es gefälligst zu schätzen wissen sollte, weil er mich nicht in irgendein dreckiges Kellerloch wirft. »Es hat ein angrenzendes Bad, wodurch es für dich keinen Grund gibt, dein Zimmer zu verlassen. Du wirst es nicht verlassen. Du wirst warten, bis jemand kommt, um dich einzukleiden. Du wechselst mit niemandem ein Wort. Du schweigst. Ich werde es herausfinden, wenn du dich nicht an meine Anweisungen hältst, July. Die Wände haben Ohren und meine Angestellten sind Petzen. «

Mehr hat er nicht zu mir gesagt. Nur einen herablassenden Blick hat er mir noch zugeworfen.

Seitdem er mir während der Autofahrt den Mund verboten hat, schien er von Minute zu Minute distanzierter zu werden und seine Blicke wurden immer abweisender. Ich bin davon ausgegangen, dass er seine miese Laune bei nächster Gelegenheit an mir auslässt und gestern Abend war es mir sogar egal. Ich war so übermüdet und ausgehungert, dass ich alles ertragen und hingenommen hätte.

Doch Lev ist nicht gekommen. Nur ein Dienstmädchen brachte mir irgendwann, nachdem ich schon ein paarmal weggenickt war, ein Tablett, auf dem sich eine kleine Schüssel mit Salat befand. Mehr gab es nicht, obwohl ich bereits den gesamten Flug über hatte hungern müssen.

»Setz dich wieder auf den Stuhl«, befiehlt mir das gleiche Dienstmädchen jetzt.

Kaum dass ich aufgewacht bin und geduscht habe, stand sie auch schon in meinem Zimmer. Obwohl die Zeitverschiebung sieben Stunden beträgt, habe ich erstaunlich gut geschlafen und ich fühle mich halbwegs ausgeruht. Ich wette, dem Salatdressing war ein Schlafmittel beigemischt, damit mein Jetlag mich nicht zu sehr aus den Latschen haut und die plötzliche Präsenz des Dienstmädchens bestätigt meine Annahme, dass dieses Zimmer nicht nur verwanzt ist, sondern eventuell sogar kameraüberwacht.

»Heute noch!«

Keine Ahnung, was sie von mir will. Wir sind doch längst fertig.

Gemächlich drehe ich dem Fenster den Rücken zu und scanne möglichst unauffällig die stuckverzierte Decke und die Zimmerecken ab. Ich kann nichts erkennen, was einer Kamera ähnlichsähe. Da muss ich mich wohl nachher etwas eingehender umsehen.

Als sie ins Zimmer kam, hatte das Dienstmädchen einen bombastischen Schminkkoffer in der einen Hand und in der anderen ein glitzerndes, schwarzes Kleid, das über und über mit Perlen und Fäden versehen ist.

Mit grimmiger Miene hat sie meine Arme, meine Oberlippe und Brauen in Augenschein genommen – wahrscheinlich hat Lev ein Faible für haarlose Mädchen. Sein Glück, dass ich diesbezüglich ziemlich penibel bin.

Daraufhin hat sie mich eine halbe Ewigkeit lang geschminkt. Obwohl meine Brauen perfekt gezupft waren, ließ sie es sich nicht nehmen, die Pinzette aus ihrem Köfferchen zu zücken und mir damit das Leben schwer zu machen. Blöde Kuh.

Zuletzt hat sie mich in dieses nuttige Charlestonkleid gesteckt: Es reicht mir bis knapp oberhalb der Knie, aber direkt unterhalb meines Hinterns beginnen bereits die Fäden und darunter befindet sich keinerlei Stoff mehr. Als wäre das nicht schon genug, besteht das Kleid auf der linken Seite bis zu meiner Taille ausschließlich aus Fäden. Ich muss mich nur ein wenig zu heftig bewegen, und jeder wird sehen, dass ich nicht den Hauch von Unterwäsche trage.

Also kann ich nur hoffen, dass mir keine pornografische Veranstaltung bevorsteht, sondern dass Lev bloß einen merkwürdigen Zwanzigerjahre-Fetisch hat und mich später im Rhythmus eines flotten Swings auspeitschen wird. Ich frage mich gerade, welche von beiden Aussichten mich mehr erschreckt.

Das grimmige Dienstmädchen hielt mir den Spiegel hin und ich bin fast hintenübergefallen. Ganz ehrlich: Ich erkenne mich nicht wieder. Ich sehe aus wie eine Schaufensterpuppe. Mein Gesicht ist elfenbeinfarben, meine Lippen haben ein dunkles Weinrot angenommen, meine Brauen wirken wie aufgemalt und meine Wimpern sind übertrieben lang.

Ja, die Bezeichnung, unnatürlich geschminkt zu sein, hat für mich eine ganz neue Bedeutung erhalten. Und in Kombination mit dem Charlestonkleid wird mir echt ein wenig mulmig zumute.

Chaotische Bildfolgen, in welcher Weise Lev mich gleich unterweisen wird, rattern in meinem Kopf hin und her. Und alle enden damit, wie er mich in einen gläsernen Sarg steckt und nach Sibirien verschiffen lässt, um mich im ewigen Eis zu konservieren.

Wenn ich wenigstens wüsste, was mit mir los ist. Vorgestern konnte ich es nicht abwarten, ihn kennenzulernen und jetzt ... will ich eigentlich nur noch nach Hause und das alles nie wieder ansprechen. Ich glaube, ich habe meine perversen Sehnsüchte in Valentine vergessen.

»Setz dich endlich hin, ich muss dich frisieren!« Das Dienstmädchen trägt dieses typische schwarze Kleid, das ihr bis knapp oberhalb der Knie reicht, mit weißer Strumpfhose, spitzenbesetzter Schürze und Häubchen. Ihr hellblondes Haar hat sie zu einem strengen Knoten im Nacken zurückgebunden. Ihre Stimme ist stark akzentuiert und klingt, als sei sie es gewohnt, andere Leute herumzukommandieren.

Ihre Montur ist zu ... gewagt. Das Kleid ist einen Hauch zu kurz, das Schürzchen irgendwie sinnlos und der Ausschnitt ein bisschen zu tief. Sie ist ebenfalls sehr stark geschminkt. Alles in allem wirkt sie ein wenig grotesk. Verkleidet.

Ich glaube, ich bin in einer Pornovilla gelandet.

Außerdem scheint sie mich für meine bloße Existenz zu verachten. In solchen Fällen versuche ich stets, darüber hinwegzusehen, doch manchmal gelingt es mir nicht so ganz.

Auch heute stellen sich mir die Nackenhaare auf und ich spanne mich unmerklich an. Ich habe vor Ewigkeiten etwas Vernünftiges gegessen, bin definitiv unterzuckert und habe keine Ahnung, was mich erwartet. Wenn diese Ziege meint, mich verurteilen zu müssen, breche ich entweder in Tränen aus, oder, viel wahrscheinlicher, ich fahre meine Krallen aus und lade sie zum Catfight ein.

Nur befürchte ich, dass Madame am längeren Hebel sitzt. Und Lev wird nicht grundlos gesagt haben, dass seine Angestellten Petzen seien. Vielleicht will sie mich absichtlich provozieren.

Der Verdacht keimt in mir auf, dass sie eifersüchtig ist und mich loswerden will. Okay, forbidden Lovestorys ausdenken kann ich: das Dienstmädchen und der Oligarch. Eine standesübergreifende Liebesgeschichte, die nicht sein darf. Und die böse Amerikanerin, die dem jungen Glück im Wege steht.

Na ja. Jung? Lev ist definitiv über dreißig, würde ich sagen. Er ist mit Asher befreundet. Vielleicht sind sie sogar zusammen zur Schule gegangen. Auf irgendeine piekfeine Privatschule in der Schweiz. Oder Lev hat irgendetwas auf einer amerikanischen Elite-Hochschule studiert.

»Dein Haar ist viel zu lang. Und du solltest es färben. Dieses Straßenköterblond ist furchtbar.«

Verärgert presse ich die Lippen zusammen, um ihr nicht etwas Entsprechendes zu antworten. Mein Sprechverbot hat sich in den vergangenen Minuten ja nicht in Luft aufgelöst.

Seit wann können Haare zu lang sein? Und außerdem ist mein Haar nicht straßenköterblond, sondern hellbraun. Und es ist gefärbt. Ich habe blonde Strähnen.

Wenn das die kommenden drei Wochen so weitergeht, raste ich aus. Ich habe ja bereits jetzt Schwierigkeiten, meinen Mund zu halten.

Ruppig drückt sie mir eine Art Stirnband mit Perlen- und Federschmuck auf den Kopf. Ich hebe die Hand und will es befühlen, doch das Dienstmädchen haut mir auf die Finger. »Nicht anfassen. Ich soll dir ausrichten, wenn etwas an diesem Kostüm kaputtgeht, wirst du es bezahlen, und das kannst du nicht. Die Teile, die er für dich ausgesucht hat, sind mehr wert als dein Leben.«

Ja, klar. Das würde bedeuten, dass er ein Fitzgerald-Museum geplündert hat oder was auch immer. Ich glaube nicht, dass Lev mich in derart teure Fetzen steckt. Wie er weiß, bin ich in einer Wohnwagensiedlung aufgewachsen. Wenn eines dieser Outfits reicht, um meiner Mutter ein Haus zu kaufen und ihr bis zu ihrem Lebensende Geld zu schicken – nein, das Risiko sollte ihm zu hoch sein, dass ich eines dieser Kleider am Ende meines Aufenthalts verschwinden lasse. Na ja. Wenn ich so darüber nachdenke ... eigentlich wiederum doch nicht.

Frustriert senke ich den Blick und betrachte meine Hände. Komischerweise hat mich die bisherige Situation noch nicht dazu getrieben, an den Fingernägeln zu kauen oder an meiner Nagelhaut zu zupfen. Vielleicht sollte ich einfach aus Prinzip damit anfangen. Von Valentine aus kann Asher gar nichts machen, und ich bezweifle, dass er Lev den Auftrag erteilt hat, mich und meine nervigen Ticks im Zaum zu halten. Und ob Lev da ebenfalls ein Problem mit hat, wenn ich meine Finger verunstalte ... das wäre schon ein reichlich bescheuerter Zufall.

Als hätte ich ihm genau diese Gedanken brühwarm aufgetischt, springt in dieser Sekunde die Zimmertür auf – und ich gleich mit.

Während ich mir vor Schreck an die Brust fasse und einen Laut von mir gebe, der wie eine Mischung aus ›Ah! ‹ und einem Keuchen klingt, kommt Lev wie ein Einmann-Sturmtrupp ins Zimmer gerauscht: Seine Miene wirkt kalt. Nicht abweisend-kalt wie gestern, sondern verärgert-kalt. Sein eisiger Blick verankert sich in meinem und er bleibt gerade einmal einen Schritt vor mir stehen. In würdevoller Arroganz funkelt er zu mir hinunter, während ich wie die wahrhaftige Schülerin, die ich wohl für ihn sein soll, mit großen Augen zu ihm aufsehe.

Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass Lev aus irgendeinem Grund weiß, dass ich gerade drauf und dran war, an meinen Fingernägeln zu knabbern?

»Guten Morgen«, knurrt er.

Okay. Ist das jetzt wieder ein Test? Denkt er, dass ich darauf hereinfalle und ihm antworte?

Vollkommen unbeeindruckt von Levs Erscheinen drückt das Dienstmädchen mich zurück in den Stuhl und steckt mein Haar in dem Stirnband fest.

Unvermittelt kommt mir der Gedanke, dass Lev diese Show nicht zum ersten Mal abzieht, was auch der ausschlaggebende Grund ist, weshalb ich mich beim nächsten Atemzug merklich entspanne und ihn bei Weitem nicht mehr so erschrocken anglotze wie noch vor ein paar Sekunden. Normalerweise würde ich ihm jetzt einen blöden Spruch zukommen lassen, aber bisher habe ich mich genug unter Kontrolle, um den Mund zu halten.

Ich sage nichts und auch Lev starrt mich schweigend an. Abwartend.

»Gut.« Er zieht dieses Wort extrem in die Länge. Er scheint mich dafür zu loben, dass ich ihm keinen guten Morgen wünsche – was ja auch den Tatsachen entspricht.

Ich mag ihn nicht. Ich finde ihn nur heiß , rufe ich mir augenblicklich ins Gedächtnis. Seine Augen und sein Gangbild sind der Hammer, aber sympathisch ist er mir nicht. Ergibt das Sinn?

»Du darfst nicken und den Kopf schütteln. Wenn ich dich begrüße, wirst du mir künftig zunicken, damit ich weiß, dass du meine Worte zur Kenntnis genommen hast. Oder auch, wenn ich schlicht wissen muss, dass ich deine Aufmerksamkeit habe.«

Ich nicke. Gott, dieser Mann ist echt komisch drauf. Ob ich wohl auch mit den Schultern zucken darf? Das werde ich ihn gleich als Erstes fragen, sobald er mich wieder sprechen lässt.

»Gefällt dir das Kleid?«

Na toll. Ein Ja wäre gelogen und ein Nein zu übertrieben. Von daher senke ich den Blick und schaue auf den mit schwarzen Perlen verzierten Stoff, der knapp meinen Unterleib bedeckt. Also ganz ehrlich: In den Zwanzigern gab es so einen durchsichtigen Kram noch nicht. Da waren die jüngeren Herrschaften zwar etwas rebellischer angehaucht, doch es wurde eher mit nacktem Rücken provoziert als mit durchscheinender Spitze. Von wegen teuer. Das nehme ich Lev nicht ab.

Ein Finger legt sich unter mein Kinn und schiebt meinen Kopf zurück in den Nacken, damit ich Lev wieder ansehen muss. »Gefällt. Dir. Das. Kleid?«

Na gut. Machen wir es anders: Ich nicke und schüttele gleich daraufhin den Kopf.

Levs Augen verengen sich. »Was soll das heißen?«

Wie kann es sein, dass ihn so etwas verärgert? Um ihm klarzumachen, dass ich nicht weiß, was ich von diesem Kleid halten soll, müsste er mir die Erlaubnis erteilen, zu sprechen. Also zucke ich nun doch mit den Schultern. Obwohl das vielmehr seine letzte Frage beantwortet und nicht die, ob ich dieses nuttige Möchtegern-Charlestonkleid mag.

»Es gefällt dir nicht.« Inzwischen befindet sich nicht nur der Finger unter meinem Kinn, sondern wie gestern auf der Fahrt hierher presst Lev mein Kinn zwischen zwei Fingern zusammen. Bilde ich es mir ein, oder legt sich ein düsterer Schatten über seine Miene?

Erneut zucke ich mit den Schultern und kann irgendwie nicht normal atmen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und aus einem bescheuerten Grund habe ich Schwierigkeiten, meine Beine stillzuhalten. Seit wann bin ich denn so zappelig?

»Ich stelle dir die Frage ein drittes und letztes Mal, July: Gefällt dir dieses Kleid?«

Ich schüttele den Kopf und im selben Moment wird mir klar, dass es ein Fehler war. Doch genauso wäre es ein Fehler gewesen, zu nicken und ihn demnach anzulügen. Dieses Spiel kann ich einfach nicht gewinnen.

Das Dienstmädchen hat längst aufgehört, an mir herumzudoktern. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie noch immer hinter mir steht, aber sie tut nichts. Ich kann sie nicht einmal atmen hören.

In diesem Moment macht Lev den letzten Schritt auf mich zu, schiebt ein Bein zwischen meine Schenkel und legt sein Knie auf der Sitzfläche meines Stuhls ab. Allein dadurch, dass an meiner linken Körperhälfte ab der Taille nur Fäden bestehen, wird es mir ermöglicht, die Beine so weit wie nötig zu spreizen. Erst jetzt verstehe ich den Sinn dieses Kleids. Für ein Escort-Girl, besser gesagt, für eine Prostituierte – denn als etwas anderes fühle ich mich gerade nicht – ist dieses Kleid durchaus praktisch.

»Merk dir eines, July«, raunt Lev zu mir hinunter, »wenn ich dich in teure Stoffe hülle, hat es dir künftig zu gefallen.« Sein Mundwinkel zuckt, aber ich bezweifle, dass das, was ihn gegenwärtig amüsiert, auch mich amüsieren würde. Davon einmal abgesehen, glaube ich nicht, dass ihn wirklich etwas erheitern kann. Vielmehr wirkt dieses Mundwinkelzucken wie eine hochmütige Reaktion auf den Gedanken, wie unabänderlich ich in seiner Falle sitze. »Weißt du auch warum?«

Ich schüttele den Kopf.

»Weil du sonst nackt durch dieses Haus streifen wirst. Und das willst du nicht. Weil ich damit jedem, der dir begegnet, die Erlaubnis erteile, dich anzufassen. Dich zu streicheln. Dich zu vögeln. Jedes deiner Löcher auszufüllen. So lange und so oft wie gewünscht. Überall.«

Ich gebe ein leises Keuchen von mir. Das ist widerlich. Herabwürdigend. Und warum, verdammte Scheiße, macht mich diese Vorstellung an?

»Willst du das?«

Sofort reiße ich die Augen auf und schüttele erneut den Kopf.

»Und weshalb lügst du mich jetzt an?«

Arschloch. Er hat mich durchschaut. Warum auch immer. Ich habe keine Ahnung, was mich verraten hat. Meine Beine sind längst nicht mehr zappelig und eigentlich schaue ich ihn nur an wie ein Auto. Es deutet nichts darauf hin, dass ich ihn angelogen habe.

Oder er blufft. Er folgt einem Instinkt, dass die Vorstellung, nackt durch die Villa zu spazieren und mich von jedem vögeln zu lassen, der mir begegnet, zumindest meine Fantasie anregt. Ob diese Situation auch in der Realität anregend ist, wage ich etwas zu bezweifeln.

Verärgert presse ich die Lippen zusammen. Er versucht, mich zu provozieren. Das ist die einzige Möglichkeit. Er will mich dazu bringen, zu sprechen. Normalerweise habe ich ja wirklich das Problem, dass ich meine Klappe nicht halten kann, aber Lev hat eine Art an sich, die meinen Ehrgeiz weckt: Was auch immer dieses Spiel zu bedeuten hat, ich will es gewinnen. Wenn es überhaupt im Rahmen des Möglichen liegt.

»Okay. Du möchtest es nicht zugeben. Da wir beide uns erst kennenlernen müssen, bin ich heute ausnahmsweise ein wenig gnädig mit dir.« Er stemmt die Hände in die Seiten und mustert mein Gesicht. »Es gefällt mir, was Galina aus dir gemacht hat. Du bist perfekt.«

Sofort bekomme ich heiße Wangen, allerdings kann er lange darauf warten, dass ich den Blick von seinen hellen Augen abwende. Außerdem rede ich mir ein, das Make-up sei derart dick aufgetragen, dass Lev meine roten Wangen nicht erkennen kann. Alles andere würde bei mir nämlich einen Teufelskreis auslösen: Ich erröte, realisiere, dass Lev es sehen kann, erröte noch mehr, und so geht es immer weiter und es gibt kein Entrinnen.

»Weißt du, weshalb ich hier bin?«

Ich schüttele den Kopf. Mir fallen zig Antworten ein, aber welche davon stimmt, wird er mir selbst erläutern müssen.

»Weil ich es nicht abwarten konnte, dich zu sehen.«

Um Gottes willen, was ist denn in ihn gefahren? Will er mir einen Heiratsantrag machen?

»Besser gesagt, ich kann es nicht abwarten, dich zu benutzen

Wundervoll. Meine Wangen wollten gerade den Siedepunkt erreichen, doch nun hat ein einziges Wort es geschafft, den Spieß umzudrehen: Unverzüglich fühle ich mich wieder wie eine billige Prostituierte, die ohne Unterwäsche in ein nuttiges Charlestonkleid gesteckt und wie eine Barbiepuppe geschminkt wurde.

Lev will mich benutzen. Die Tatsache hat im Grunde die ganze Zeit vor mir geschwebt und ich hätte einfach hinsehen müssen. Wozu lässt er mich sonst so zurechtmachen und wieso verbietet er mir den Mund?

»Gestern habe ich dein freches Mundwerk mit Nahrungskarenz bestraft. Ich kann erkennen, wie es hinter deiner hübschen Stirn arbeitet, und ich bin mir sicher, dass deine Zunge einige Beleidigungen für mich parat hält. Spuck sie aus, denn ich bin davon ausgegangen, dass diese Spielerei zwischen uns wesentlich interessanter wird.«

Mit einem herablassenden Lächeln hebt Lev die Hand und streicht mit den Fingerspitzen über meine Wange. So zart, dass ich kaum seine Berührung spüre. Er tut es nicht, weil er mich für zerbrechlich hält, nein. Er tut es, damit die Schminke nicht verwischt.

Ich weiche zurück und schenke ihm ebenfalls ein Lächeln. Aber ein ironisches. Mehr bekommt er nicht.

»Hm. Ich bin enttäuscht, July. Asher sagte, dass ich mir an dir die Zähne ausbeißen werde. Dass du mich zur Weißglut treiben wirst.« Erneut platziert er seinen Finger unter meinem Kinn und drückt meinen Kopf in den Nacken. »Ich kann das Feuer in deinem Blick erkennen, aber es lodert nicht. Es glimmt nur vor sich hin.« Lev lässt von mir ab und greift stattdessen mit beiden Händen nach seiner Gürtelschnalle. »Du langweilst mich«, wirft er mir in einem mauligen Tonfall vor und stößt ein lautes Seufzen aus.

Perplex beobachte ich seine Hände, die langsam den Gürtel öffnen. Das alles passiert sicher keine zwanzig Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Wird er das tun, von dem ich glaube, dass es gleich geschehen wird? Vor Galina?

Wie in Zeitlupe lässt er die Gürtelschnalle fallen und die Finger zu den Knöpfen seiner Jeans wandern. Mir wird jetzt erst bewusst, dass Lev im Gegensatz zu mir leger gekleidet ist. Schwarze stonewashed Jeans, schwarzer Ledergürtel mit einer auffälligen, silbernen Schnalle in Form eines brüllenden Löwenkopfes, und ein hellgrau meliertes Shirt mit V-Ausschnitt. Möglicherweise gibt es doch keine Pornoveranstaltung. Oder zumindest keinen Kostümparty-Brunch.

Lev öffnet den ersten Knopf seiner Jeans. »Du musst es nur sagen, wenn ich hiermit aufhören soll, July. Du musst dich nur trauen.« Er löst den zweiten Knopf. »Dann wird das hier wenigstens wieder ein bisschen reizvoller.« Der dritte Knopf.

Unverhohlen starre ich auf die Stelle, wo sich nach und nach das offenbart, was sich hinter diesen Knöpfen verbirgt ... Schwarzer Stoff. Keine Ahnung, ob ich erleichtert oder enttäuscht sein soll, dass Lev Boxershorts trägt und nicht, so wie ich, nackt ist.

Absurderweise wird mir in diesem Augenblick bewusst, dass ich bereits angefangen habe, ihn und sein Benehmen in bestimmten Schubladen zu verstauen. Beispielsweise ging ein Teil von mir davon aus, dass Lev keine Unterwäsche mag. Scheint nicht der Fall zu sein.

Überhaupt scheint hier alles allgemein immer weniger zu stimmen: Mir wird klar vor Augen geführt, dass Lev ein Spiel mit mir treibt, das ich nicht gewinnen kann.

Der vierte Knopf – und Lev hält inne. »Sieh mich an, July.«

Ich befolge seinen Befehl. Wie gerne würde ich ihn darauf aufmerksam machen, dass er mich Tamara nennen soll, wenn er nicht will, dass ich ihm den Schwanz abbeiße – falls er gleich wirklich den Nerv hat, ihn mir in den Mund zu stecken.

Während ich zu ihm aufschaue, merke ich, wie er mit der freien Hand an seinen Shorts herumfuhrwerkt. »Braves Mädchen«, brummt er. »Letzte Chance, mich aufzuhalten.«

Mit jedem Atemzug, den er macht, mit jedem weiteren Wort finde ich ihn unerträglicher. Das hatte ich noch nie bei einem Kunden.

Bei Lev habe ich das Problem, dass eine Art Instinkt in mir aufkeimt, der mir immer lauter mitzuteilen versucht, dass Lev nicht ... der richtige Umgang für mich ist. Dass ich weit, weit weglaufen sollte. Allein bei dem Gedanken, ihm gleich einen Blowjob verpassen zu müssen, schnürt sich mir die Kehle zu.

Aber ich reagiere nicht. Ich bin wie erstarrt. Meine Seele befindet sich außerhalb meines Körpers. Sie steht am Fenster, genießt die einzelnen Sonnenstrahlen und das glitzernde Wasser.

Mein Körper pariert. Mein Körper wartet gehorsam auf das, was gleich kommen mag.

»Du willst mich wirklich nicht aufhalten?«, hakt Lev noch einmal nach. Seine Augen blitzen maliziös.

Schweigend schaue ich ihn an. Er hat mir den Befehl erteilt, so lange nichts zu sagen, bis er mich eindeutig dazu auffordert.

Momentan will er mich schlicht dazu bringen, seinen direkten Befehl zu missachten, damit er mich bestrafen darf – woran er seinen eigentlichen Spaß hat. Als hätte er zwei verschiedene Persönlichkeiten, die sich gegenseitig torpedieren wollen.

Ich sehe nicht ein, dafür den Kopf hinzuhalten, nur weil er sich uneinig mit sich selbst ist: Ich halte mich an den ursprünglichen Befehl. Wenigstens weiß ich hier, was mir blüht. Wenn ich jetzt etwas sage, habe ich keine Ahnung, was er mit mir anstellt.

»Okay.« Er lässt mein Kinn los und im nächsten Moment habe ich seinen harten Schwanz in meinem Mund. Er stößt ihn mir so tief in den Rachen, dass er meinen Würgereflex auslöst.

Entgeistert weiche ich zurück, doch schon wie fast erwartet bohren sich seine Finger in meinen Nacken, die meinen Kopf an Ort und Stelle halten – und Levs andere Hand umfasst meine Kehle.

Hilflos keuchend umklammere ich seine Unterarme und die ersten Tränen sammeln sich in meinen Augenwinkeln; ich bin mir nicht sicher, ob sie vom Würgen kommen oder ob mir gerade wirklich nach Heulen zumute ist.

»Sehr gut, July. Du hast die richtige Entscheidung getroffen. Um diesen Blowjob wärst du niemals herumgekommen.«

Nochmals versenkt er sich tief in meiner Mundhöhle. Dieses Mal bin ich darauf gefasst und kann entsprechend reagieren: Soweit es Levs Hände zulassen, lege ich meinen Kopf in den Nacken und pariere rechtzeitig, sodass ich nicht würgen muss.

Lev gibt ein genießerisches Stöhnen von sich und beginnt, meinen Mund mit festen Stößen zu ficken. Seine Finger bohren sich nachdrücklich in die Haut in meinem Nacken, während die andere Hand meine Kehle weiterhin umfasst hält – doch das beinahe ... vorsichtig. Er will mir nicht die Luft abdrücken. Es ist nur eine stille Aufforderung an mich, das zu tun, was er von mir verlangt.

Diese Erkenntnis ist der Punkt, an dem ich abschalte: Ich bin July. Ich bin hier, um von Lev unterrichtet zu werden; damit ich meinen künftigen Kunden befriedigende Dienste anbieten kann. Weil ich eine Nutte bin.

Genau dieses Gefühl vermittelt Lev mir. Ich bin hier, um von ihm benutzt zu werden, und er tut es, ohne zu zögern. Ich habe keinen eigenen Willen, solange Lev sich in meiner Nähe befindet. Das gehört zur Abmachung.

Erneut gibt er ein tiefes Stöhnen von sich und ich schmecke den ersten salzigen Lusttropfen auf meiner Zunge.

Zögerlich löse ich die Hände von seinen Unterarmen und lege sie auf seiner Hüfte ab, nur ganz sacht, weil ich erst herausfinden muss, was Lev zulässt und was nicht.

»Genau so, July.« Seine Bewegungen werden unbeherrschter, der Griff um meinen Nacken noch fester. Levs Atmung wird abgehackter, und auch ich schnaufe leise, fast panisch, weil meine innere Stimme mir weismachen will, dass ich nicht genügend Sauerstoff aufnehmen kann, wenn das Tempo sich weiterhin verschärft.

Ein letzter, fester Stoß und sein warmes Sperma benetzt meinen Gaumen. »Schluck es.« Levs Stimme ist ein dunkles Knurren, das direkt aus der Hölle zu stammen scheint.

Ich befolge seinen Befehl.

»Gut gemacht.« Er entzieht sich mir und streicht mir gleichzeitig über den Kopf, als sei ich seine folgsame Hündin, die sich eine Belohnung verdient hat.

Ich hasse mich dafür, dass ich mich in diese Situation begeben habe. Ich bin eine Jurastudentin, keine Nutte. Und ich will auch nicht wie eine behandelt werden. Das steht jetzt für mich fest. Und dafür, dass Lev genau das tut, weil ich in seinen Augen nichts anderes als eine Nutte zu sein scheine, verachte ich ihn noch viel mehr als mich selbst.

Denn es macht mich an. Es macht mich an, dass er mich wie ein Stück Fleisch behandelt. Dass er versucht, mir mit dieser Kostümierung meine Persönlichkeit, ja sogar meine Identität zu nehmen. Sein Verhalten mir gegenüber trifft mich auf meiner niedersten Ebene. Die Ebene, der meine perversen Fantasien entspringen.

Vorhin dachte ich noch, Lev würde diese Ebene nicht ansprechen, aber das Gegenteil ist der Fall. Er tut es auf eine Weise, die mir Angst macht. Unterschwellig und heimtückisch. Sodass ich es nicht merke. Er manipuliert mich über meine Angst. Über meinen Widerwillen. Ich verachte ihn.

»Sieh mich an«, fordert er erneut, während er mit beinahe hektischen Bewegungen seine Hose verschließt.

Ich unterdrücke ein Augenrollen und tue wie mir geheißen. Es kotzt mich an, dass er mich ständig dazu auffordert, zu ihm wie eine gefügige Hündin aufzuschauen.

»Begreifst du es jetzt?«

Ich schüttele den Kopf. Ich habe keine Ahnung, ob er dasselbe denkt wie ich. Vielleicht hält er mich auch für dumm und unterschätzt mich. Das sollte ich ausnutzen.

Jetzt ist er derjenige, der seufzend die Augen verdreht und sich sogar tatsächlich zu einem dünnen Schmunzeln herablässt. »Du darfst vorerst wieder sprechen.«

»Oh, vielen Dank«, platzt es sofort aus mir heraus, aber gleichzeitig stutze ich, weil meine Stimme ein wenig kratzig wirkt. Meine Stimmbänder sind es wohl nicht gewohnt, so lange zu schweigen. Ich räuspere mich leise.

»Mäßige deinen Tonfall, July. Dir das Sprechen zu erlauben, ist eine Gefälligkeit von mir dir gegenüber, weil du das erste Spiel durchschaut hast. Sozusagen eine Belohnung. Auch dafür, weil es sich gut angefühlt hat, deinen Mund zu ficken. Das könnte zu einer meiner neuen Lieblingsbeschäftigungen werden.«

»Ganz toll. Ich fand das eben eigentlich nicht so geil.« Okay. Erzähl das meinem Unterleib. Der prickelt wie verrückt und hätte nichts dagegen, wenn mir irgendwer oder irgendetwas jetzt sofort einen Orgasmus bescheren würde. Meine Stimme klingt zwar gelassen, allerdings weiche ich Levs missbillig funkelnden Augen aus – eben weil ich ungewollt scharf geworden bin und befürchte, dass er es merkt. Und das gönne ich ihm nicht. »Darf ich aufstehen?«, frage ich gerade noch rechtzeitig, bevor sich meine Beine verselbstständigen und mir diese Entscheidung abnehmen.

Lev macht eine einladende Handbewegung. »Tu dir keinen Zwang an.« Er scheint sich entschieden zu haben, meinen Seitenhieb zu ignorieren.

Sofort springe ich auf die Füße und nehme etwas Sicherheitsabstand zu ihm ein. Gleichzeitig suche ich das Zimmer nach Galina ab. Sie ist verschwunden. Sie hat sich anscheinend davongestohlen, ohne dass ich etwas davon mitbekommen habe.

Das sollte ich mir von ihr abgucken. Falls ich Hals über Kopf von hier verschwinden muss. Oder will. Beispielsweise, weil mein Körper gegen mich intrigieren könnte und anfängt, die Sache mit Lev gutzuheißen.

Ich stemme die Hände in die Seiten und sehe ihn auffordernd an. »Ich heiße Tamara . Und es wäre nett, wenn ... du mich so nennen würdest.« Ich finde, jetzt wo ich seinen Schwanz im Mund hatte, darf ich Lev ruhig duzen.

»Wieso sollte ich das tun? Ich kann dich nennen, wie ich will.«

Mist. Ich habe mir schon fast gedacht, dass er so etwas von sich gibt.

»Und ich tue es nicht grundlos. Ich will, dass du dich immer im Juli an mich erinnerst. Ich möchte, dass du durch den Namen July – wenn du ihn siehst, ihn hörst oder schreibst – automatisch getriggert wirst. Ich will, dass du dich angesprochen fühlst, sobald jemand in deinem Beisein diesen Namen ausspricht. Dass ein prickelnder Schauer deinen Nacken erfüllt und bis zu deiner Pussy hinunterrinnt, weil du für einen winzig kleinen Moment befürchtest, dass ich hinter dir stehe und dir Dinge aufzwingen werde, die du gar nicht willst, weil sie gegen deine Prinzipien sind.«

»Das ist krank!«

»Ja, durchaus. Aber es macht dich scharf. Oder etwa nicht?« Er verschränkt die Arme vor der Brust und schenkt mir ein überlegenes Lächeln.

Oh verflucht. Wie recht er hat.

»Das ist es doch, was du wolltest, oder nicht? Weshalb du hier bist. Asher hat mir klare Anweisungen gegeben, was ich darf und was nicht. Letzteres ist für mich allerdings frei interpretierbar und wenn ich mit dir fertig bin, wirst du einen Teufel tun und dich bei Asher ausheulen, wie gemein ich zu dir war.«

Verdammt, jetzt macht er mich auch noch neugierig. »Und das wäre?«, hake ich prompt nach, weil mein Mundwerk seine wiedergewonnene Freiheit begrüßt und alles nachholen will, was ihm in den vergangenen Stunden verwehrt blieb.

»Was ich darf oder was ich nicht darf?« Noch immer ziert ein arrogantes Lächeln seinen Mundwinkel.

»Was Asher dir verboten hat.«

Er macht einen Schritt auf mich zu und ich weiche automatisch zurück. »Warum sollte ich so dumm sein und dir das verraten?«

Ich zucke mit den Schultern und lasse mein Augenmerk über ihn gleiten. Das soll ihm vermitteln, dass ich ausreichend Mut besitze, um ihn unverhohlen abzuchecken. »Du sagtest gerade, ich würde niemals auf die Idee kommen, bei Asher zu petzen, wenn du mit mir fertig bist. Also kannst du es mir auch verraten.«

Erst jetzt komme ich auf die Idee, seine nackten Unterarme zu studieren: Sie sind vollständig mit Tätowierungen in sämtlichen Grauschattierungen übersät. Größtenteils kyrillische Zeichen, aber auch ein imposanter Löwenkopf auf seinem linken Unterarm und darüber eine altmodische Taschenuhr, deren Zeiger auf der XII und auf der XI stehen. Fünf vor zwölf. Gibt es diese Redewendung auch im Russischen? Und vor allem frage ich mich, was das zu bedeuten hat.

Lev folgt meinem Blick und verschränkt unmittelbar die Arme hinter dem Rücken. Ich glaube nicht, dass die Tattoos ihm peinlich sind. Vielmehr habe ich den Verdacht, dass er mir etwas verschweigen, vielleicht sogar vor mir verheimlichen möchte. Oder sie gehen mich schlicht nichts an.

»Beispielsweise will er nicht, dass ich dir dauerhafte Male zufüge.«

Stirnrunzelnd lasse ich meinen Blick eine Sekunde lang an der Stelle verweilen, wo sich eben noch seine Unterarme befanden. »Du meinst blaue Flecke?«

»Auch. Aber ich denke, Asher hat da vielmehr an solche Male gedacht, die Narben hinterlassen könnten. Auf deiner Haut und auf deiner Seele. Außerdem hat er mir strikt verboten, dich als mein Eigentum zu kennzeichnen. Ich soll dich schließlich ausbilden und nicht auf mich prägen.«

»Und schon wieder redest du mit mir, als wäre ich dein Haustier.« Wer weiß? Vielleicht macht gerade das unser Verhältnis zueinander aus.

»Bist du doch auch.«

»Alles klar. Schön, dass wir das geklärt haben.« Naserümpfend schaue ich an mir herab und beginne, an einer der Perlen in Höhe meines Bauchs herumzuzupfen. »Na ja. Lieber dein Haustier als deine Nutte.«

»Wieso? Das ist doch dein Job! Oder habe ich da etwas missverstanden?«

»Nein, hast du nicht. Und ich mache diesen Job gerne.« Ich schaue wieder auf. »Aber du behandelst mich, als sei ich dadurch wertloser als andere Frauen – oder du gibst mir zumindest das Gefühl. Was berechtigt dich dazu? Nur weil ich mit Männern Sex habe und mich dafür bezahlen lasse, bin ich ein Stück Dreck? Wenn dieser Job unnötig wäre, würde ich damit nicht so viel Geld verdienen.«

Er schüttelt den Kopf und stößt dabei ein geringschätziges Schnauben aus. »Wie kommst du darauf, dass ich dich schlechter behandle als andere Frauen? Hast du einen Vergleichswert?«

»Ist ja super. Du gibst jeder Frau in deinem Umkreis das Gefühl, wertlos zu sein?«

»Japp.« Er nickt. »Außer meiner Mutter vielleicht – wenn ich wüsste, wo sie ist. Obwohl ... Nein. Meine Mutter ist ein Stück Dreck.« Sie ist auch diejenige, die mir und meinem Bruder gezeigt hat, dass keine Frau es wert ist, sich von ihr zerstören zu lassen.

»Du hast einen Bruder?« Das fehlt mir ja noch. Gleich zwei von dieser Sorte.

Er neigt den Kopf zur Seite und fixiert meinen Blick. »Willst du ihn kennenlernen?«

Instinktiv weiche ich seinen eiskalten Augen aus und schlinge die Arme um meinen Oberkörper, als würde ich frösteln – oder mich vor etwas abschirmen wollen. »Nicht zwangsläufig.«

»Gut.« Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass er erneut einen Schritt auf mich zumacht. »Und wenn doch, brauchst du nur zur anderen Seite des Sees zu laufen. Nikolaj freut sich über jeden Besuch, dem er Angst einjagen kann.«

»Wieso werde ich das Gefühl nicht los, dass dein Bruder noch viel kranker im Kopf ist, als du es bist?«

»Wieso werde ich das Gefühl nicht los, dass du immer direkt aussprichst, was dir in den Kopf schießt?«, äfft er mich nach, klingt dabei allerdings so bedrohlich, dass ich nicht glaube, dass er diese Frage auch nur mit einem winzigen Funken Humor gestellt hat. Er macht einen weiteren Schritt auf mich zu und diesmal weiche ich wieder zurück. Mein Rücken berührt die Wand zwischen Zimmertür und Kleiderschrank.

»Würdest du mich denn um den See laufen lassen?«, frage ich, nicht, weil mich dieser Nikolaj tatsächlich interessiert, sondern weil das eine gute Gelegenheit ist, um herauszufinden, wie frei ich mich künftig bewegen darf.

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Würde ich meinen vor Kurzem angeschafften Hund frei laufen lassen? Nein. Das Gleiche gilt für dich. Erst wenn ich mir sicher bin, dass es dich immer wieder hierher zurückziehen wird – und damit meine ich nicht mich oder dieses Haus; damit meine ich dein Zimmer. Sofern du dich freiwillig und gerne in diesem Zimmer aufhältst, weil du dich hier sicher fühlst wie zu Hause, dann könnte es passieren, dass ich deine Leine ein wenig lockere.«

»Das hast du ja schön formuliert«, ist meine schnippische Antwort.

»Was hast du denn erwartet? Ein Leben in Luxus? Drei Wochen hausen wie eine russische Zarin?« Er hat mich endgültig eingeholt und seine Hand legt sich sacht an meine Kehle.

Mein Herz macht einen erschrockenen Satz, doch ich lasse Lev gewähren. Ganz einfach, weil ein gewisser anderer Teil von mir nur darauf gewartet hat, dass er es noch einmal tut. Sehnsüchtig darauf gewartet. Dieser Teil will so unbedingt, dass er mich kontrolliert.

»Nein. Ich … möchte nur wissen, woran ich bin.«

Seine Augen haben ein bösartiges, eisblaues Glühen an sich, das mir den Eindruck vermittelt, dass Lev sogar fähig wäre, einen Mord zu begehen. Einfach aus Lust und Laune heraus. Genau jetzt. Genau hier. Und er würde damit durchkommen. Weil er als russischer Oligarch inoffiziell über dem Gesetz steht. Das ist allgemein bekannt und ich wusste es. Nur habe ich diese Tatsache bisher nicht ernst genommen. Vielleicht auch verdrängt.

»Ich bin wirklich kurz davor, dich nach Hause zu schicken, July«, bringt er knurrend hervor. »Du bist nicht bereit hierfür. Ich merke, dass du es willst, dass du dich auf mich einlassen möchtest und auf die Erfahrungen, die ich dir anbieten würde, aber ich denke, du bist ... zu jung, zu unerfahren. Zu trotzig.« Seine Hand drückt immer fester zu und ich ringe nach Luft. Eine fieberhafte Panik wallt in mir auf und meine Beine beginnen, hektisch zu zappeln; sie versuchen, Lev von mir wegzudrängen, doch er weicht mir geschickt aus, ohne den Griff zu lockern. Seine Finger drücken sich schmerzhaft in meinen Hals. »Und zu nervig.«

»Nein ...« Ich versuche, den Kopf zu schütteln, seine Hand ist bloß derart fest auf meine Kehle gepresst und drückt gleichzeitig von unten gegen mein Kinn, sodass sie meinen Kopf komplett bewegungsunfähig macht. »Lev, du ... ich ...« Reflexartig will ich seine Finger von meinem Hals lösen, doch seine freie Hand schnellt hoch, umfasst meine Handgelenke und zwingt meine Arme wieder hinunter. »Lev ...!« Mein Herz hämmert so stark, dass ich es in meinen Ohren wie ein wummerndes Rauschen vernehme und die Panik, die sich wie ein glühendes Knäuel durch meinen Brustkorb brennt, beginnt, meine Gedanken zu beherrschen. »Du musst ... mir Zeit ... geben«, keuche ich, »und ... mir sagen ... was du von mir ... erwartest.«

»Nein.« Er klingt nachdenklich und presst im selben Moment noch fester zu, sodass ich ein weiteres Mal nach Luft ringe, meine Lunge schreit nach Sauerstoff, doch ihm scheint es egal zu sein.

»Lev, ich ... bekomme ... keine ...!« Kopflos versuche ich, ihn in irgendeiner Weise abzuschütteln, aber es gelingt mir nicht.

»Weißt du, was ich machen werde, July?« Seine Finger bohren sich noch stärker in meinen Hals, während die andere Hand nach wie vor meine Handgelenke umschließt und sie so fest zusammenpresst, dass ich glaube, meine Knochen krachen zu hören.

»Lev ...!«

»Wenn du Glück hast, werde ich dich so lange behalten, bis man diese Blutergüsse, die ich dir gerade zufüge, nicht mehr sieht. Aber nicht einen Tag länger.«

»Lev, bitte ...!«, bringe ich heiser über meine Lippen, die sich bereits eigenartig taub anfühlen. Mit weit aufgerissenen Augen glotze ich ihn an, voller Panik, und winde mich unter ihm. Schwarze Schatten wabern in meinem äußeren Sichtfeld, die immer mehr an Intensität gewinnen. Mein Brustkorb verkrampft sich und versucht, mit zuckenden Bewegungen an Sauerstoff zu gelangen. Heiße Tränen rinnen mir über die Wangen.

»Allerdings ... wenn ich dich so ansehe, vergeht mir mit jeder weiteren Sekunde die Lust, dich zu ertragen.« Aus heiterem Himmel reißt er mich herum, weg von der Wand, und schubst mich grob von sich.

Ich stolpere mehrere Schritte rückwärts, gegen den Stuhl, der unkontrolliert durch den Raum fliegt, wodurch ich nochmals strauchele und mir meine Beine letztlich den Dienst versagen: Wie ein nasser Sack falle ich um. Ich bin so benebelt, dass ich die Kontrolle über meinen Körper und dessen Reflexe verloren habe und fange mich nicht einmal ab. Ich spüre einen stechenden Schmerz in meinem Steiß und dann knallt mein Hinterkopf hart auf den teuren Holzfußboden.

Jetzt weiß ich, was die Leute meinen, wenn sie sagen, dass sie Sterne sehen: Ich nehme nichts mehr wahr außer ein paar Lichtpunkte, die schwarzen, wabernden Schatten in meinem äußeren Sichtfeld und das wummernde Rauschen in meinen Ohren.

In diesem Moment möchte ich nur noch schlafen und alles vergessen. Ich atme tief ein, giere förmlich nach Luft und mir wird augenblicklich klar, dass Lev recht hat: Ich habe mir das alles viel zu einfach vorgestellt. Um das durchzustehen, was ich mir ausgemalt habe – Vergewaltigungs- und Entführungsfantasien, eine brutale Behandlung durch meinen Sexpartner, die ruhig Male hinterlassen darf ... Fesselspiele und vor allem Psychospielchen ... das alles würde ich durch Lev erhalten und erfahren. Ich wünsche mir, diese Dinge zu erfahren und vor allem darin unterwiesen zu werden. Aber dafür braucht es Vertrauen. Und ich vertraue Lev nicht. Ich bezweifle, dass ich das jemals könnte.

Er bemüht sich gar nicht. Ich bin mir sicher, dass er mich sogar loswerden will . Er wollte mich womöglich von Anfang an nicht.

Keine gute Basis für eine dreiwöchige Zusammenarbeit. Ich bin kaum achtzehn Stunden hier und es macht den Anschein, dass es keinen Zweck hat. Ich fühle mich deplatziert.

Irgendwie habe ich komplett aus den Augen verloren, weswegen ich hier bin und auch, dass das hier wiederum ein Psychospielchen ist. Ein Test, ob ich diese Ausbildung wirklich will oder ob ich bloß aus meiner postpubertären Langeweile heraus eine komische Anwandlung bekommen habe und damit in die falschen Kreise geraten bin.

So eine Scheiße.

Japsend liege ich auf dem Boden und rege mich nicht. Ich atme ein und aus. Die Lichtblitze und wogenden Schatten verschwinden mit jedem Atemzug und auch das Rauschen in meinen Ohren.

Nach einer gefühlten Ewigkeit starre ich noch immer an die stuckverzierte Decke und weigere mich, den Gedanken zuzulassen, dass das Leben weitergeht. Dass Lev sich nach wie vor in diesem Zimmer befindet und mich aller Wahrscheinlichkeit nach beobachtet.

Falsch. Mit einem Mal ist er über mir und setzt sich mit seinem vollen Gewicht auf meinen Brustkorb.

»Was ...?« Meine Rippen rebellieren mit einem scharfen Stechen unter der Belastung und wenn ich könnte, würde ich mich vor Schmerzen zusammenkrümmen. »Nein, ich ...!« Mit einem lauten, qualvollen Keuchen reagiere ich auf Levs wiederholte Folter, finde seinen bohrenden Blick und beobachte hilflos, wie er von Neuem meine protestierenden Handgelenke packt und über meinen Kopf stemmt. Mein Herz begrüßt die erneut aufwallende Panik wie einen alten, unliebsamen Bekannten und beginnt, schwer und schnell zu schlagen. »Lev!«

»Wie? Du gibst schon auf? Ich habe noch nicht einmal angefangen, Süße.« Er beugt sich tief zu mir hinunter, sodass seine Lippen sanft meine Stirn streifen. Doch für mich hat das nichts Sinnliches an sich, es ist einfach nur eine Machtdemonstration seinerseits, die ein Gefühl von heftigem Widerwillen in mir wachruft.

Nein. Ein Teil von mir reagiert darauf mit leichter Begierde. Der Teil, der sich diese Behandlung von Lev gewünscht hat und bis eben keinen Mucks von sich gab, sondern gespannt beobachtet hat. Verdammt, wie kann mein Verstand mir derart in den Rücken fallen?

»Sehr unelegant, wie du auf den Boden geplumpst bist«, wispert er. »Ist dir schwindelig? Schlecht? Siehst du Doppelbilder?«

»Fick dich!«, presse ich gequält hervor.

»Ah, sehr gut. Offensichtlich nicht.« Er richtet sich auf. »Falls du gerade denkst, dass ich mir Sorgen um dich mache ... nein. Ich will nur nicht, dass du mich vollkotzt. Es wird Zeit, nach unten zu gehen. Du hast heute eine Aufgabe zu erfüllen. Deswegen das Kleid.« Sein Mundwinkel zuckt arrogant. »Und außerdem muss ich aufpassen, dass ich dich nicht aus Versehen umbringe. Das würde Asher mir niemals verzeihen. Schließlich bist du sein bestes Pferd im Stall.« Im selben Moment, wie er meine Handgelenke loslässt, steht er auf. Automatisch nehme ich einen befreiten Atemzug, bleibe aber nach wie vor auf dem Boden liegen.

Interessant, das mit Asher. Nein, was ist denn jetzt schon wieder los? Anstatt mich auf die aktuelle Situation zu konzentrieren, findet mein Verstand einen Weg, um auszubrechen und sich mit der Tatsache zu beschäftigen, dass ich offenbar Ashers beste Angestellte bin – oder eventuell eben diejenige, in der er das größte Potenzial sieht. Bisher dachte ich immer, dass ich nur eine von vielen bin.

»Was ist? Kannst du dich nicht mehr bewegen? Habe ich dir etwa aus Versehen das Genick gebrochen und du bist querschnittgelähmt?«

»Sehr witzig«, krächze ich und stütze mich ab, scheue mich aber, Lev anzusehen.

Eine normale Reaktion wäre jetzt, ängstlich vor ihm zurückzuweichen oder wenigstens vermeiden zu wollen, dass er mich in irgendeiner Weise berührt. Dabei regt sich in mir lediglich der Trotz ihm gegenüber. So schnell kriegt er mich nicht klein.

Ja, ich muss zugeben, dass mir das Herz noch immer bis zum Hals schlägt, doch es macht mich nur wütend. Wütend, dass ich mich nicht körperlich gegen ihn zur Wehr setzen kann. Aktuell würde ich ihn echt gerne wie so eine amerikanische Geheimagentin verdreschen. Weil das nämlich das Letzte ist, womit er rechnet.

»Wie wäre es, wenn du mir meine Sachen aushändigst, und ich verlasse jetzt sofort dein Haus. Ich gehe davon aus, dass ich furchtbar aussehe und Galina mich noch einmal komplett neu stylen muss.« Meine Stimme klingt belegt. Es fühlt sich an, als sei mein Kehlkopf angeschwollen, sodass meinen Stimmbändern verwehrt wird, ihre Arbeit ordnungsgemäß zu verrichten. Sag bloß, Lev hat das mit Absicht gemacht, damit mir zukünftig das Sprechen schwerfällt!

»Eben nicht. Dein verheultes Gesicht mit dem verlaufenen Make-up und die zerrupfte Frisur sind ideal. Genau so passt du perfekt in das heutige Bild.«

»Das heutige Bild? «

»Du wirst es gleich erfahren.«

Mit seinen Worten erscheint eine Hand vor meinem Blickfeld. Um es zu vermeiden, ihn ansehen zu müssen, habe ich auf meine immer noch nackten Füße gestarrt. Auf die mit Nagelfolie beklebten Zehen, die in ihren unterschiedlichen Neonmustern absolut gar nicht zu dem Charlestonkleid passen wollen. Ich schaue auf und kapiere erst einen Wimpernschlag später, dass Lev mir die Hand hinhält, um mir aufzuhelfen.

»Und was ist, wenn ich mich weigere?«, frage ich in einem spitzen Tonfall. Ich nehme seine Hand tatsächlich an und lasse mich von ihm auf die Füße ziehen.

»Dann erntest du meinen Respekt für das Durchhaltevermögen deines Trotzes, aber das wird nichts ändern. Ich werde dich nur noch schlechter behandeln und dir zeigen, was es zu bedeuten hat, wenn ich dir wirklich meinen Willen aufzwinge.« Er lacht leise. »Übrigens stehe ich auf deinen Nagellack. Aber du solltest trotzdem die Pumps anziehen, die Galina dir hingestellt hat.« Er zeigt zum Fußende meines Bettes.

Keine Ahnung, wann die Schuhe da aufgetaucht sind. Galina scheint sich unsichtbar machen und Gegenstände aus reiner Luft erschaffen zu können.

»Okay«, kommentiere ich lediglich. Es handelt sich um geschlossene schwarze Pumps mit ziemlich hohen Absätzen. In meiner Freizeit kleide ich mich lieber sportlich leger, allerdings habe ich durch meinen Escort-Job inzwischen häufig genug Abendkleider und entsprechendes Schuhwerk tragen müssen, von daher werden diese Absätze keine Folter für mich sein.

»Braves Mädchen«, gibt Lev schon wieder von sich, während er mich dabei beobachtet, wie ich zu den Schuhen tapse und sie überstreife.

Erbost spitze ich die Lippen. Für diese zwei Worte werde ich ihm eines Tages eine knallen. Einfach so. Weil sie mich aggressiv machen.

Er folgt mir und hält mir den Ellbogen hin, den ich skeptisch annehme. »Unten befinden sich ein paar Geschäftspartner und Bekannte aus meinem Golfclub . An Regentagen langweilen sie sich häufig und bevor sie auf ... dumme Gedanken kommen, sind meine informellen Brunch-Vormittage eine gelungene Abwechslung für sie.«

Er geleitet mich aus meinem Zimmer und führt mich über den von Tageslicht erhellten Gang, von dem mehrere deckenhohe, zweiflügelige Türen abgehen, die allesamt offenstehen. Die Sonne, die durch die Öffnungen hindurchscheint, malt helle Muster auf denselben Holzfußboden, der auch in meinem Zimmer verlegt wurde.

Wusste ich es doch. Lev hat sich Gäste eingeladen. Die fadenscheinige Begründung, die er mir genannt hat, nehme ich ihm wiederum nicht ab. Zwar hat es gestern wie aus Kübeln gegossen, aber ich bezweifle, dass das heutige Wetter die wirklich überzeugten Golfer von ihren Schlägern fernhalten könnte.

Er hat zur Fleischbeschauung eingeladen; ganz klar. Keine Ahnung, ob ich diejenige bin, die auf dem Präsentierteller serviert wird – aber das ist mir auch egal. Hauptsache, ich staube endlich etwas Vernünftiges zu essen ab.

»Und was soll diese Kostümierung?«, hake ich direkt nach, um ihm klarzumachen, dass ich nicht ganz so nichtsahnend bin, wie er vielleicht vermutet. »Ich meine, du trägst Jeans und T-Shirt, wieso sehe ich aus wie ein nuttiges Flapper Girl? « Davon einmal abgesehen, dass ich fürchte, abgrundtief beschissen auszusehen, seitdem Lev mich drangsaliert hat.

»Das wirst du gleich herausfinden«, antwortet Lev erwartungsgemäß kryptisch und obwohl ich ihn nicht angucke, kann ich das Schmunzeln in seiner Stimme vernehmen.

»Ah, ja. Wie überraschend.« Ich unterdrücke ein Augenrollen und konzentriere mich lieber darauf, meiner Neugierde nicht nachzugeben und einen Blick durch jede einzelne offen stehende Tür zu werfen. Stattdessen drücke ich den Rücken durch, hebe das Kinn an und schaue strikt geradeaus. Ich werde mein zerzaustes Haar und das zerstörte Make-up mit Stolz tragen; als sei es absolut beabsichtigt.

Wir passieren eine weitere zweiflügelige Tür und betreten eine Galerie, die freien Blick auf das weiträumige Vestibül der Villa zulässt: Im Gegensatz zu gestern ist die Halle rappelvoll, mit Gestalten in den unterschiedlichsten Erscheinungsbildern.

»Das ist ein Scherz«, flüstere ich, den Blick starr auf die Szene unter uns gerichtet, und erwarte gar keine Antwort von Lev. Offensichtlich wurde auf einen Dresscode verzichtet, was ich trotz meiner Aussage irgendwie ansprechend finde, da Lev ja grundsätzlich in Kreisen fungieren dürfte, derentwegen er sich normalerweise gezwungen sieht, den ganzen Tag in Designeranzügen herumzurennen.

Manche der Gäste sind wie Lev vollkommen leger gekleidet, andere tragen Anzug und Krawatte, die nächsten klischeetriefende Golfoutfits mit karierter Hose und Flatcap, und die darauffolgenden ... Lack und Leder.

Unter ihnen befinden sich mehr Männer als Frauen, aber ich erkenne auch einige Damen in Zweiteilern, Cocktailkleidern und bestimmt fünf weitere mit modeldürren Figuren in ähnlichen Charlestonkleidern wie meines.

Der größte Unterschied, den die Flapper Girls zum Rest der Gäste ausmachen, ist, dass diese regungslos wie Schaufensterpuppen auf verschiedenen Sitz- und Liegegelegenheiten verharren und ins Leere starren.

Eine von ihnen tut es sogar, während ein Mann in Lederjacke und tiefsitzender Bluejeans in diesem Augenblick durch das Kleid hindurch in einen ihrer Nippel kneift und gleichzeitig seine Zunge über ihr Dekolleté fahren lässt. Sie verzieht keine Miene.

Lev gibt ein leises Knurren von sich und schiebt mich zum Treppenabsatz. »Du wirst, wie es aussieht, meinen Bruder schneller kennenlernen, als dir womöglich lieb ist.«

Neugierig folge ich seinem Blick, der auf eben den Mann gerichtet ist, der gerade das arme Model belästigt. »Wieso wundert es mich nicht?« Im Prinzip war mir schon fast klar, dass dieser Typ irgendetwas mit Lev zu tun hat.

Unvermittelt mustert er für einen Moment mein Gesicht und lacht, als habe ich etwas wirklich Witziges gesagt. Allerdings wendet er sich sofort wieder von mir ab und zieht mich die erste Stufe hinunter. Noch hat uns niemand bemerkt.

»Okay. Pass auf, July«, beginnt er mit leisen Worten.

»Tamara.«

Abrupt bleibt er stehen und ich verliere beinahe das Gleichgewicht. In diesem Moment bin ich das erste Mal froh darüber, dass Lev mich dazu aufgefordert hat, mich an seinem Unterarm festzuklammern. Das letzte Mal habe ich es aus einem anderen Grund getan. »Wenn du mir noch einmal vorschreiben willst, wie ich dich zu nennen habe, darfst du die Nächte im Hundezwinger verbringen. Und dann wollen wir sehen, wie es deinem Trotz ergeht. Und vor allem, was danach von Tamara übrigbleibt.«

Ich schenke ihm ein ironisches Lächeln. »So. Wirst du das? Willst du auch sehen, was ich dann bei nächster Gelegenheit mache? Ich werde die armen Tiere freilassen. Zwingerhaltung ist nämlich Tierquälerei und damit kann ich gar nicht umgehen. Außerdem könnte meine Nähe zu den verhaltensgestörten Hunden bleibende Male an mir hinterlassen und mir war so, als hättest du Asher versprochen, auf diese zu verzichten.«

»Wieso gehst du davon aus, dass meine Hunde verhaltensgestört sind?«

»Bist du blöd? Soll ich dich mal dein gesamtes restliches Leben in einen Zwinger stecken? Dich dazu nötigen, in deinen eigenen Ausscheidungen zu schlafen und zu fressen? Ohne Sozialkontakt, Bewegung, Ablenkung und Zuwendung? Meinst du, da bist du nicht nach einiger Zeit verhaltensgestört? « Gelassen erwidere ich Levs erstaunten Augenaufschlag. »Außerdem weichst du mir aus. Es geht darum, dass ich mir in diesem Zwinger, der bestimmt nicht hygienisch sauber ist, sonst was für Krankheiten und Parasiten zuziehen könnte. Vielleicht haben deine Hunde aufgrund ihrer schrecklichen Lebenssituation tatsächlich ein Aggressionsproblem und fallen mich grundlos an. Das wird Asher nicht gutheißen und das weißt du auch.«

Zwei weitere Sekunden lang fixiert Lev meinen Blick und zuckt schließlich mit den Schultern. »Ich werde dich July nennen. Punkt.«

»Und ich werde dich jedes Mal verbessern. Punkt.«

Was, um Gottes willen, treibt mich bitte dazu, Lev provozieren zu wollen? Während wir auf einer Treppe stehen! Eine spontane, kraftvolle Bewegung seinerseits und ich fliege die mindestens zwanzig Stufen hinunter. Bin ich besessen?

Keine Ahnung, ob Lev – entgegen meinen bisherigen Erfahrungen mit ihm – eine recht anständige Impulskontrolle hat und niemals zu solch unüberlegten Handlungen tendieren würde. Woher soll ich das auch wissen? Ich kenne ihn gar nicht! Also sollte ich endlich anfangen, seinen Blick, der mich in dieser Sekunde mal wieder durchbohrt, ernst zu nehmen, verdammt!

»Leg dich nicht mit mir an. Ich warne dich. Du hast sie echt nicht mehr alle, wenn du glaubst, dass deine Worte unbestraft bleiben«, bringt er mir knurrend entgegen.

»Was willst du machen? Mich hungern lassen? Früher oder später musst du mir etwas zu essen geben. Auch heute habe ich mich bisher ausschließlich von Wasser ernährt. Dabei bin ich mir nicht einmal sicher, ob man das hiesige Leitungswasser überhaupt trinken sollte.«

»Wohl eher nicht.«

»Was? Du wirst mir wohl eher nicht das Essen verbieten oder ich sollte wohl eher nicht das Leitungswasser trinken?«

»Dass ich kein Problem damit habe, dich hungern zu lassen, wirst du mittlerweile gemerkt haben. Von diesem Brunch wirst du ebenfalls nichts bekommen.«

»Ach. Das wird ja immer schöner hier.«

Lev zieht mich eine weitere Stufe hinunter. Wenn das in diesem Tempo weitergeht, sind wir frühestens heute Abend unten angekommen.

»Das habe ich dich vorhin schon gefragt: Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Du bist hier, um dich unterweisen zu lassen, und nicht, um dich wie eine verzogene Prinzessin aufzuführen.«

»Wann habe ich mich denn bitte wie eine Prinzessin aufgeführt? Ich sage dir lediglich, was ich denke.«

»Und das solltest du dir dringend abgewöhnen. Ich frage mich echt, was in dich gefahren ist.«

Ja, das frage ich mich auch. Ich kann es einfach nicht unterlassen, mit ihm zu diskutieren: »Ich dachte, du willst mich nicht unterweisen. Also brauche ich gar nicht erst anzufangen, die wissbegierige Schülerin zu spielen.« Widerstrebend lasse ich mich von Lev die nächste Stufe hinunterziehen.

»Du hast von Anfang an nicht wissbegierig auf mich gewirkt. Falls du dir einbildest, dass ich es mag, wenn ich mir an meiner Schülerin die Zähne ausbeißen muss, dann hast du dich aber geschnitten. Ich mag es, wenn meine Schülerinnen parieren und lernen, die Bestrafungen zu genießen, die ich ihnen zukommen lasse.«

»Ach. Du widersprichst dir gerade. Vorhin hast du herumgejammert, dass ich so langweilig sei und Asher dir etwas anderes versprochen hätte. Hältst du mich für blöd? Was erwartest du denn jetzt von mir? Du redest davon, mir irgendwelche Bestrafungen zukommen zu lassen, weil ich so frech bin. Doch eben hast du gesagt, dass deine Schülerin ihre Bestrafungen genießen soll. Wenn ich dir allerdings keinen Grund liefere, mich zu bestrafen, bist du wiederum nicht zufriedengestellt.« Nun habe ich selbst den Faden verloren, aber ich bin mir sicher, dass ich sein widersprüchliches Verhalten ziemlich genau auf den Punkt gebracht habe.

Erneut wendet Lev sich mir zu und lässt dabei seinen markanten Kieferknochen pulsieren, während seine Brust sich aufgebracht hebt und senkt. »Du hast schlicht keine Ahnung, July. Du treibst mich zur Weißglut und das solltest du um jeden Preis vermeiden. Die letzten Mädchen, die mich derartig weit getrieben haben, leiden bis heute unter meiner Vergeltung.«

»Du hast mir bereits klargemacht, was mit mir passiert, wenn ich dich verärgere, danke.«

»Und warum lässt du es dann nicht einfach?«

»Ich kann nicht.« Ich schaue ihm direkt in die Augen. »Weil ich nicht möchte, dass du mich noch einmal als langweilig bezeichnest.« Damit habe ich ihm soeben mehr offenbart, als ich vor mir selbst zugeben konnte. Vielleicht musste ich es aussprechen, um mir darüber im Klaren zu sein.

Er erwidert meinen Blick mit eisiger Miene. »Du forderst mich also wirklich heraus. Gut. Dann werde ich dir Benehmen beibringen.«

Okay. Meine Aufrichtigkeit scheint ihn ja nicht besonders zu beeindrucken. »Nein. Ich möchte nur, dass du einsiehst, dass ich keine willenlose Puppe bin. Ich bin schwer zu kontrollieren.«

»Und genau deswegen solltest du gehen. Du wirst das, was ich von dir erwarte, niemals hinbekommen.«

»Was macht dich da so sicher?«

»Drei Wochen, July. Es würde wahrscheinlich Monate dauern, in denen ich dir die Seele aus dem Leib prügeln muss, bis du endlich parierst.« Er setzt sich wieder in Bewegung und zieht mich mit sich.

»Aber Asher rechnet, glaube ich, durchaus damit, dass du mich länger dabehältst.«

»Das ist mir scheißegal. Du musst dein Studium beenden. Das gefallene Mädchen steht dir nicht.«

Ich mache ein beeindrucktes Geräusch. Auf Lev soll es zynisch wirken, aber ich muss gestehen, dass mir seine Formulierung gefällt. Keine Ahnung warum. Braucht er auch nicht zu erfahren. »Also, zum einen bin ich kein gefallenes Mädchen und zum anderen macht mir der Job Spaß.«

»Natürlich bist du eines. Du verkaufst deinen Körper für Geld und hast obendrein Sex mit den Kunden, wenn sie draufzahlen.«

»Na und? Vielleicht würde ich ja auch privat mit ihnen schlafen?«

»Das würde dich zu einer Schlampe machen. Und wieso nimmst du dann das Geld?«

»Irgendwie muss ich ja meine Miete bezahlen.«

Er schnaubt leise. »Du musst gar nichts. Und das weißt du genauso gut wie ich.«

Er hat recht. Aber er kapiert es nicht. »Ich mag den Job. Und ich lasse mir von dir deswegen kein schlechtes Gewissen einreden. Finde dich damit ab, dass ich gerne eine Hure bin.«

»Dann brauchst du mich ja nicht.«

»Stimmt.«

»Fein.«

»Fein.« Wir nehmen drei weitere Stufen und haben etwa die Mitte der Treppe erreicht. Bis jetzt scheint uns noch immer niemand entdeckt zu haben.

Schließlich bricht Lev das Schweigen: »Also. Da du mich ja mit deinen blöden Sprüchen vom Thema abgebracht hast, muss ich dir jetzt die Kurzfassung auftischen. Du platzierst dich auf der Chaiselongue da vorn.«

Er zeigt zu einem verlassenen Liegesofa, das in der Nähe der Eingangspforte steht. Es wirkt recht abseits im Vergleich zu den anderen Sitzgelegenheiten, auf denen sich die Models drapiert haben. Dort hält sich niemand auf, die Gruppierungen der Gäste befinden sich mehr im Inneren des Vestibüls.

»Sobald du eine bequeme Position gefunden hast, bewegst du dich nur einmal pro Stunde – und dann ausschließlich, um eine andere Stellung einzunehmen. Wenn du auf Klo musst, hast du Pech gehabt. Wenn mein Bruder oder ein anderer dich befummelt, hast du Pech gehabt. Du wirst dich erst frei bewegen, sobald ich dir die ausdrückliche Erlaubnis dazu erteilt habe.« Wieder funkelt er mich an. »Und: Du wirst dein Augenmerk die ganze Zeit auf mich richten. Dein Blick folgt mir. Du wirst nur mich ansehen. Egal wie sehr mein Bruder dir auf den Sack geht.« Wieder pulsieren seine Kiefermuskeln. »Und wenn ich auch nur einmal bemerke, dass dein Blick nicht mehr auf mir ruht, wirst du tatsächlich im Zwinger übernachten.«

Ich nicke. »Okay.« Keine Ahnung, wieso, aber es klingt spannend. Endlich passiert hier mal was. Oder, besser gesagt, endlich fühle ich mich nicht mehr so nutzlos.

* * *

Ja. Und das Gefühl hat sich leider nach spätestens zehn Minuten ins Gegenteil gekehrt. Vielleicht sind es auch nur drei Minuten, ich kann es nicht sagen, weil ich ja, wie gesagt, nicht einmal auf die Uhr schauen darf.

Jeder der einzelnen Gäste hat mich, als wir den Fuß der Treppe erreicht haben, wie Luft behandelt. Als gehöre ich zum Inventar. Wie ein Möbelstück oder ein Strauß Blumen. Das mag jedenfalls der Grund sein, weswegen ich zuvor davon ausgegangen bin, dass niemand unsere Anwesenheit bemerkt hat.

Ich wüsste echt gerne, ob es für die Gäste ein ungeschriebenes Gesetz ist, dass ich – als Levs gefallenes Mädchen  – gemieden werden soll. Alle halten sich daran, weil sie nicht in Ungnade fallen wollen. Allerdings würde das nicht zu der Aussage passen, dass ich Pech gehabt habe, wenn jemand – explizit sein Bruder – mich betatscht.

»Du bist also Levs neues Mädchen«, höre ich mit einem Mal einen dunklen, stark akzentuierten Bariton hinter mir.

Wenn man vom Teufel spricht. Das kann ja nur Nikolaj sein. Seine Stimme klingt wie Levs ... nein. Sie ist anders. Tiefer? Kratziger? Unter Umständen ist es sein starker Akzent, der sie rauer als Levs wirken lässt. Oder es ist etwas ganz anderes, Unbewusstes möglicherweise, das mich erkennen lässt, dass dieser Mann, der inzwischen so dicht hinter mir steht, dass ich seinen Atem in meinem Nacken spüre, mit Lev verwandt ist.

Sofort presse ich die Lippen fest aufeinander, damit ich nicht aus Versehen eine meiner zynischen Antworten preisgebe, die mir auf der Zunge liegen. Auch widerstehe ich dem Drang, mich zu ihm umzudrehen, um mir ein Bild von ihm zu machen: Beispielsweise, ob er Lev 2.0 darstellt oder ob Nikolaj auf seine eigene, ganz andere Art gestört ist.

Lev selbst steht etwa fünf Meter von mir entfernt in einer Gruppe Anzugträger, unterhält sich angeregt und nippt an einem Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Anscheinend ist das russische Nationalgetränk Wodka nicht seine erste Wahl.

»Ach, komm schon«, raunt Nikolaj in mein Ohr. Beim Sprechen berühren seine Lippen meine Ohrmuschel und ich würde am liebsten zurückweichen.

Ich bewege mich keinen Millimeter, ich verziehe keine Miene; ich blinzle nicht einmal.

»Beweis mir, dass du nicht so langweilig bist wie die anderen Mädchen in diesem Raum. Ich wette, du hast Temperament. Sonst hätte Asher dich niemals zu Lev geschickt.«

Ich würde mich ihm so gerne entziehen. Durch seine Worte an meinem Ohr stellen sich die kleinen Härchen auf meinen Unterarmen auf. Wenn ich mich wohlfühlen würde, wäre das kein Problem, dann würde ich es sogar genießen. Doch mein Instinkt sagt mir, dass Nikolaj nicht der Typ Mann ist, bei dem man sich wohlfühlen sollte. Genau wie Lev – nur dass ... Nikolaj ein anderes Kaliber ist.

Es klingt abgedreht, aber in dieser Sekunde wünsche ich mir, dass Lev hierher guckt und mich vor seinem Bruder rettet. Doch weshalb sollte er das tun? Es gibt keinen Grund. Womöglich sieht Lev es sogar als meine ideale Bestrafung an, Nikolaj in meinem Nacken zu wissen.

Nichtsdestotrotz versuche ich, meinen Blick regelrecht in Levs Schädel zu brennen, damit er merkt, was hier vor sich geht. Vielleicht ist ja an der Behauptung, dass man die Blicke eines anderen auf sich spüren kann, etwas dran. Wenn ich ihn nur intensiv genug anstarre …

»Versuche es gar nicht erst, Kleines. Lev wird nicht hierhersehen und schon gar nicht wird er mich wegschicken. Ich darf seine Mädchen benutzen, wenn mir danach ist.« Sogleich bemerke ich eine Bewegung im Augenwinkel und mir wird die Sicht auf Lev verwehrt, wie er nach wie vor in der Gruppe Geschäftsleute steht, sich angeregt unterhält und hin und wieder sogar den Kopf in den Nacken legt und lacht. Eine tiefsitzende Bluejeans versperrt mir die Sicht. »Habe ich jetzt deine Aufmerksamkeit, Mädchen? «, höre ich Nikolajs Stimme über mir.

Mädchen. Irgendwie bezeichnend, dass Lev seinem Bruder nicht von mir erzählt hat. Sein Bruder, der mir jetzt die Sicht versperrt.

Ich weiß, dass es albern ist, aber es stört mich, dass Nikolaj meinen Namen nicht kennt. Weil ich nur ein Mädchen für Lev bin. Eines von vielen.

Ich habe keinen blassen Schimmer, was ich machen soll. Ich darf mich nicht bewegen, um an Nikolaj vorbeizuschauen und wieder Lev im Auge zu haben. Andererseits hat Lev mir genauso verboten, den Blick von ihm abzuwenden, was ich hiermit tue, weil sein Bruder direkt vor mir steht.

Mein Herz beginnt zu klopfen. Gerade habe ich mich noch darüber geärgert, wie langweilig meine Aufgabe ist, und jetzt befürchte ich das Schlimmste. Würde Lev mich vor seinen Gästen würgen? Verprügeln?

Ich rühre mich nicht. Ich gebe vor, als würde Nikolaj gar nicht für mich existieren. Ich sehe durch ihn hindurch. Da vorn steht Lev und gibt sein gestelztes Lachen von sich.

»Was denn? Wieso starrst du mir so auf den Schritt? Fragst du dich etwa, wie groß mein Schwanz ist? Ob er vielleicht noch größer ist als der meines Bruders?« Nikolaj lässt ein leises Lachen ertönen.

Sehr witzig. Sein Schwanz ist das Letzte, woran ich hätte denken können. Nikolajs gesamter Körper geht mir am Arsch vorbei.

Die Situation ist so grotesk. Ich würde am liebsten einfach aufstehen und gehen. Aus irgendeinem Grund bin ich sauer auf Lev. Nicht nur, weil er mich zwingt, seinen Bruder zu ertragen, sondern auch, weil er sich vor seinen Gästen so wohlfühlen und entspannen kann. Er zeigt Humor und amüsiert sich. In meiner Gegenwart hat er äußerste Schwierigkeiten, sich zu einem Lachen durchzuringen. Ja, ich bin sogar der festen Überzeugung, dass Lev ein Mensch ist, der nicht sehr viele Gründe findet, um zu lachen. In meinem Beisein ist er angepisst. Genervt. Kalt. Was sagt das über mich aus?

Ungnädige Hände greifen in meinen Schopf und reißen an meinen Haaren. Ich gebe ein leises, schmerzerfülltes Schnaufen von mir, aber ich verziehe keine Miene. Ich bin eine Puppe. Ich bin eine Puppe.

»Du wirst mich jetzt ansehen.«

Nein, werde ich nicht.

Mit einem Ruck zieht Nikolaj meinen Kopf in den Nacken und weil ich beim besten Willen nicht mehr in Levs Richtung gucken kann, schließe ich die Augen. Wie bei einer Spielzeugpuppe, deren Lider zuklappen, sobald man sie in eine horizontale Lage bringt.

Seine Handfläche landet mit einem lauten Klatschen auf meiner Wange und mein Kopf wäre zur Seite geflogen, wenn Nikolajs andere Hand sich nicht so fest in meinen Schopf gegraben hätte. »Sieh. Mich. An.«

Tränen steigen in meine Augen und ich muss meine gesamte Kraft aufbringen, um nicht das Gesicht zu verziehen. Meine Wange brennt und ein glühender Knoten bildet sich in meiner Kehle. Ich glaube, ich habe mich noch nie so hilflos und gleichzeitig so gedemütigt gefühlt.

Die Hand an meinem Hinterkopf ballt sich zusammen, mein Haar immer noch zwischen ihren Fingern. Es tut so weh, dass ein leises Winseln über meine Lippen kommt.

»Dann eben nicht.« Mit einem Ruck lässt die Hand meinen Schopf los und mein Kopf schleudert nach vorn. Meine Zähne krachen schmerzhaft zusammen und ich muss mich zwangsläufig an der Lehne der Chaiselongue festkrallen, damit ich nicht vornüberfalle.

Ich bin hierhergekommen, um Lev zu Diensten zu sein und nicht seinem Bruder. Wo ist er? Warum hilft er mir nicht?

Ganz einfach. Lev ist ein Monster. Es ist keine Stunde her, schätze ich, dass er mich genötigt hat, seinen Schwanz in den Mund zu nehmen und kurz darauf hat er mich fast erwürgt. Natürlich wird er mir nicht helfen. Er wird mich bestrafen, weil ich ihn aus den Augen verloren habe. Weil ich nicht gehorcht habe. Ich kann nichts dagegen machen und vor allem kann ich nichts dafür. Aber es wird ihm einerlei sein, ob es meine Schuld ist.

Genau das ist es, was Nikolaj provoziert. Er macht es mit Absicht, weil er will, dass ich von Lev bestraft werde. Sadistischer Bastard.

Aber das ist egal. Ich werde jetzt tun, wonach Lev verlangt hat. Ich habe einen Auftrag von ihm erhalten und den werde ich durchziehen, selbst wenn Nikolaj es mit allen Mitteln zu verhindern versucht.

Als wäre nichts gewesen, bringe ich mich wieder in Position und verharre regungslos, den Blick auf Nikolajs Schritt gerichtet. Genauer gesagt, auf die Knopfleiste seines Hosenschlitzes. Ich konzentriere mich voll und ganz darauf, nicht in Tränen auszubrechen. Nach wie vor würde ich am liebsten aufspringen, in mein Zimmer rennen, mich in irgendeiner Ecke verkriechen und so lange heulen, bis ich keine Luft mehr bekomme.

Ich bin ein Nichts. Das ist es, was Lev mir die ganze Zeit zeigen wollte. July ist ein Nichts. Und solange ich July bin, wird sich das nicht ändern. Erst wenn ich dieses Haus und dieses Land verlasse, bin ich wieder Tamara. Eine Jurastudentin, die sich mit ihrem Job als Escort-Girl ihre Miete finanziert.

»Was nun, kleines Mädchen?« In diesem Moment wandern Nikolajs Finger zu dem Hosenschlitz und knöpfen die Jeans mindestens genauso langsam und genussvoll auf, wie Lev es vorhin gemacht hat, bevor er mir seinen Schwanz in den Mund gedrückt hat. »Schenkst du mir endlich die Beachtung, die mir zusteht, oder gibst du weiterhin vor, ich würde nicht existieren?«

Wenn Nikolaj jetzt wirklich den Nerv hat, mir seinen Schwanz in den Mund zu stecken, kann er sich auf etwas gefasst machen. Das wird er nicht genießen.

Obwohl die Art und Weise, wie die Brüder ihre Hosen aufknöpfen, identisch ist, erkenne ich einen Unterschied: Levs Vorgehensweise hatte für mich, wenn auch nur ganz entfernt, etwas Sinnliches an sich. Das war vielleicht der Grund, weswegen ich es vorhin einfach über mich ergehen lassen habe; weil der perverse Teil von mir es so wollte. Im Gegensatz dazu widert mich die Vorstellung, Nikolaj einen Blowjob zu verpassen, regelrecht an. Es ist nicht richtig. Schon gar nicht, solange Lev es mir nicht befohlen hat.

»Mund auf«, fordert er mit harscher, rauer Stimme. Ohne zu überlegen presse ich meine Lippen noch fester aufeinander, als Nikolajs Erektion in dieser Sekunde aus dem engen Gefängnis seiner Hose entkommt und mir fast ins Gesicht klatscht.

Ich starre wieder in die Richtung, wo ich Lev vermute, auch wenn ich damit gezwungenermaßen genau auf Nikolajs zuckenden Schwanz glotzen muss, der es offensichtlich gar nicht abwarten kann, meine Mundhöhle zu erobern. Instinktiv beiße ich die Zähne zusammen.

Grobe Finger packen mich am Kinn und schieben meinen Kopf erneut in den Nacken. Diesmal lasse ich es mir nicht nehmen, Nikolajs Gesicht zu studieren. Er wird mich gleich zu einem Blowjob zwingen. Dann kann ich ihn auch ansehen. Eigentlich ist ohnehin alles zu spät. Ich kann mit ihm reden. Aufstehen und gehen.

Nikolaj sieht Lev sehr ähnlich, keine Frage. Sie haben dieselbe Haar- und Augenfarbe und übereinstimmende Gesichtszüge. Doch Nikolajs Miene ist wesentlich verhärmter. Gezeichnet. Und sein Blick … sein Blick ist irre. Eine gefährliche Art von irre.

Lev ist ebenfalls nicht ganz richtig im Kopf, das weiß ich selbst. Irgendetwas haben die beiden in ihrer Vergangenheit erlebt, das sie zu dem gemacht hat, was sie jetzt sind. Doch Lev ist ... entweder kann er es besser verstecken als sein Bruder – oder er will es besser verstecken, während Nikolaj schlicht zu dem steht, was er ist. Es kann auch sein, dass Lev diese Vergangenheit besser verkraftet hat als sein Bruder. Oder er musste nicht so viel leiden.

Der Wunsch keimt in mir auf, die beiden – vor allem Lev – besser kennenzulernen, um sie zu verstehen. Ich glaube, wenn ich Levs Handlungen nachvollziehen kann, wenn ich weiß, warum er so ist, wie er ist, kann ich damit umgehen. Ich kann auf seine Wünsche eingehen, und ich brauche vor allem keine Angst vor ihm zu haben, weil ich ihn einschätzen kann und nicht mehr das Gefühl bekomme, dass er willkürlich mit mir umspringt.

Wie beispielsweise diese Situation: Ich darf nicht sprechen, ich darf mich nicht bewegen und ich darf meinen Blick nicht von Lev abwenden.

Sein Bruder torpediert alle drei Dinge. Ich bräuchte ihn nur wegzuschubsen, aber dann hätte ich mich bewegt. Ich könnte ihn beschimpfen, um Levs Aufmerksamkeit zu erhaschen, doch dann hätte ich gesprochen. Na ja. Und die Sache mit dem Ansehen hat sich ja leider schon erledigt.

Das Schlimmste von allem: Ich habe Angst. Keine Angst davor, was Lev mir antun wird, nachdem Nikolaj mit mir fertig ist, sondern ich habe Angst vor Nikolaj selbst. Ich bin nicht hier, um ihm zu Diensten zu sein. Und das möchte ich auch nicht. Lev hat meinem Boss Versprechungen gegeben. Dinge, die er mir nicht antun wird. Aber Nikolaj hat ihm keinerlei Versprechungen gemacht. Wenn der mich in seine Finger bekommt, macht er, wonach ihm ist; und offensichtlich wird Lev nicht eingreifen.

»Ich sagte: Mund auf«, knurrt Nikolaj zu mir hinunter. Seine eiskalten Augen bohren sich in meinen Kopf, ganz so, wie Levs Blick es auch immer tut. Nur habe ich das Gefühl, richtige Mordlust in Nikolajs Miene zu erkennen.

Ich wünschte, irgendwer hätte mir Drogen verabreicht, sodass ich alles ganz teilnahmslos hinnehmen könnte: Lev, der mich an seinen Bruder weiterreicht, damit dieser mir antun kann, wonach ihm gerade ist und Nikolaj, dem es scheißegal zu sein scheint, dass sich hundert fremde Menschen mit uns in diesem Raum befinden. Er packt einfach seinen Schwanz aus und will vor den Augen aller meinen Mund ficken. Als wäre ich eine willenlose Puppe. Was ich auch bin. Wie die anderen Mädchen in den Charlestonkleidern.

Keine Ahnung, weshalb die Gäste sich noch nicht mit den anderen Mädchen beschäftigt haben, aber mir fällt es gerade wie Schuppen von den Augen, dass es wirklich so eine Veranstaltung ist. Ich schätze, die Gäste warten auf ein Okay von Lev, auf eine bestimmte Uhrzeit oder darauf, dass das Essen abgeräumt wird. Nikolaj hält sich einfach nicht daran. Er tanzt aus der Reihe. Wahrscheinlich, weil er es kann. Weil Lev es ihm durchgehen lässt.

Offensichtlich bin ich nicht Levs Mädchen, sondern irgendein Mädchen, das es über sich ergehen lassen muss, sofern jemand Interesse an ihm hat. Aber wozu dann Levs Befehl, dass ich meinen Blick nicht von ihm abwenden soll? Die anderen Mädchen haben ihn doch auch nicht angesehen.

Ich mustere Nikolajs Gesicht, gebe bloß vor, dass ich durch ihn hindurchgucke. Ganz so, wie es das andere Mädchen vorhin bei ihm gemacht hat. Als wäre ich gar nicht da. Nur eine Puppe. Gebrochen und unter Drogen gesetzt. Bereit, das zu ertragen, was jetzt folgen wird. Aber mein Geist ist woanders.

Das ist es, was Nikolaj denken soll. Stattdessen bin ich voll da; ich studiere jedes Merkmal seines Gesichts und stelle mir vor, wie meine geballte Faust dort eines Tages mit voller Wucht hineinschlagen wird. Ich werde mich ebenso an Lev rächen, falls er das hier nun zulässt. Ich glaube nämlich nicht, dass Asher damit einverstanden wäre, wenn er wüsste, dass Lev mich gleich am ersten Tag dem Raubtier in Form seines Bruders zum Fraß vorwirft.

Ja, ich bin voll da, aber ich gebe vor, als sei ich es nicht. Nikolaj wird die Angst nicht in meinen Augen erkennen. Er wird nicht bemerken, dass mir das Herz bis zum Hals schlägt und dass ich meine gesamte Kraft aufwenden muss, um nicht in Tränen auszubrechen. 

Erneut verpasst er mir eine schallende Ohrfeige. »Wenn ich will, dass du meinen Schwanz in den Mund nimmst, tust du es auch, verstanden?! Das nächste Mal, wenn du ungehorsam bist, bekommst du meine Faust zu spüren.«

»Es wird kein nächstes Mal geben, Bruder. Ich schicke sie heute Nachmittag zurück. Sie bringt es nicht.« Das ist Levs Stimme. Von rechts. Ich kann ihn nicht sehen, weil Nikolaj mich noch immer fest umklammert hält.

Sofort versuche ich, meine Aufmerksamkeit von Nikolajs Gesicht abzuwenden, und gucke scharf nach rechts, sodass mir die Augen bereits schmerzen, aber ich erkenne nur einen düsteren Schatten, der wohl Lev darstellt.

»So?« Nikolajs Pranke wirft mich regelrecht zurück in die Lehne. »Ganz ehrlich, das habe ich mir schon gedacht. Sie wirkt so ... langweilig.«

Ich brauche nur eine Sekunde, um mich zu fangen, und schaue danach direkt zu Lev: Sein Blick ruht auf mir. Er hat wieder seine emotionslose Miene aufgesetzt. »Das ist sie auch. Sie kam hierher, um etwas zu lernen. Asher hat mir zu viel versprochen. Vermutlich hat er es als Möglichkeit gesehen, ihr klarzumachen, dass sie besser ihr Studium beendet, um eine biedere Juristin zu werden. Wirtschaftsanwältin oder so.«

Wie vom Donner gerührt starre ich ihn an und tue mein Bestes, mir mit jeder Faser meines Körpers nichts anmerken zu lassen. Levs Worte treffen mich. Zwar weiß ich nicht, warum, aber ich möchte nicht, dass er so über mich redet. 

»Hm«, brummt Nikolaj. Ich wette, er betrachtet mich mit demselben emotionslosen Ausdruck wie Lev. »Vielleicht geht sie ja sogar in die Politik. Dann könnten wir sie erpressen.«

»Nein, das denke ich nicht. Diesen Weg hat sie sich bereits mit ihrem jetzigen Job verbaut. Nicht besonders clever. Sie überlegt ernsthaft, den Job als Escort nach ihrem Abschluss fortzuführen.«

»Wenn sie so gerne eine Hure ist, wieso wollte sie mir dann gerade nicht zu Diensten sein?«

»Vielleicht, weil du sie nicht dafür bezahlt hast.«

Nikolaj gibt ein amüsiertes Schnauben von sich. »Mag sein. Jedenfalls ödet sie mich an. Werde sie los.« Durch die Bewegung in meinem Sichtfeld erkenne ich, dass er sich umdreht und davonschlendert.

Jetzt gibt es nur noch Lev und mich. Und die Lügen, die er seinem Bruder aufgetischt hat. Er hat ihm verschwiegen, was er mir befohlen hat. Nikolaj wusste nicht, dass ich ihn ignorieren sollte. Er ging davon aus, dass er mit mir machen darf, was er will. Durch seine Befehle wollte Lev vermeiden, dass ich mich darauf einlasse. Er will mich für sich. Es sei denn, ich übersehe hier etwas. Aber es ist mein Bauchgefühl, das mir weismachen möchte, dass ich recht habe.

Lev mustert mein Gesicht. Seine Miene wirkt noch immer wie versteinert. »Geh dich umziehen. Du bringst ja nicht einmal die einfachste Aufgabe fertig.« Okay. Das dazu.

Ich rühre mich nicht.

Blitzschnell schießt seine Hand vor und umfasst meine Kehle. »Das war ein Befehl, July.«

Mein Herz macht einen panischen Satz und beginnt, wie verrückt zu hämmern, weil ich befürchte, dass Lev dort weitermacht, wo er vorhin aufgehört hat. Aber noch immer rühre ich mich nicht. Stattdessen erwidere ich seinen eisigen Blick und ein Kloß bildet sich in meinem Hals, weil mein gesunder Menschenverstand und mein Überlebensinstinkt mir erklären wollen, dass Levs Befehl die einzige Möglichkeit ist, ihm heil zu entkommen. Die rettende Tür in die Freiheit, in ein normales Leben. Ein Ausweg, den er mir bietet. 

Aber die andere Seite von mir weigert sich. Ich will eine Erklärung, weshalb er seinen Bruder angelogen hat. Und das auf Englisch. Ich sollte sein Gespräch mit Nikolaj hören und verinnerlichen. Warum nur?

Lev findet mich nicht langweilig. Das hat er mir vorhin schon einmal weismachen wollen und das entspricht einfach nicht den Tatsachen.

Die Wahrheit ist, ich treibe ihn zur Weißglut. Das hat er mir vorhin ebenfalls vorgeworfen – und das war ehrlich. Man kann niemanden zur Weißglut treiben, indem man ihn langweilt. Das widerspricht sich.

»Was ist nur los mit dir?«, zischt er nun und klingt dabei fast verzweifelt. »Ich zeige dir die Hintertür und du entscheidest dich dagegen!«

Ich antworte ihm nicht. Ich sehe ihm nur weiterhin in die Augen. 

Seine Hand löst sich von meiner Kehle und vergräbt sich stattdessen in meinem Schopf. Ganz so, wie Nikolaj es eben gemacht hat. Doch Lev zerrt so stark an meinen Haaren, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als diesem Schmerz zu folgen und mich von ihm auf die Füße ziehen zu lassen. Erneut schießen mir Tränen in die Augen, weil ich am liebsten laut aufjaulen möchte, aber ich beiße die Zähne fest zusammen. Ich stehe direkt vor Lev und trete ihm beinahe auf die Füße. Mein Kopf ist stark in den Nacken gerissen, schon fast überdehnt. 

Seine eisblauen Augen stieren mich hasserfüllt an. »Wenn ich dich jetzt anfasse, July, was werde ich herausfinden? Macht es dich feucht, wenn ich dich schlecht behandle? Bist du doch wie für mich gemacht? Sollte ich dich doch behalten?«, raunt er in mein Gesicht, so leise, dass nur ich seine Worte vernehmen kann. Unvermittelt gleitet seine freie Hand durch die Fäden an meiner Seite und platziert sich auf meiner nackten Haut.

Ich wette, dass die Blicke sämtlicher Gäste auf uns gerichtet sind. Aber das ist mir egal. Das hier ist eine Sache zwischen mir und Lev.

»Oder bist du knochentrocken?« Levs Hand wandert tatsächlich nach unten und drängt sich zwischen meine Beine. Er brummt leise, als zwei Finger meine Schamlippen teilen und zu meinem Eingang gelangen. 

Gerade will mir ein Keuchen entfliehen, da beugt Lev sich vor und verschließt meinen Mund mit einem groben Kuss. Im selben Moment dringen seine Finger tief in mich ein.

Augenblicklich löst er sich von mir, die Finger bleiben allerdings in mir. »Wenn du dich nicht sofort umziehen gehst, werde ich dich dazu bringen, mich hier auf dieser Chaiselongue zu ficken«, flüstert er in einem drohenden Unterton. »Willst du das?«

Ich rühre mich nicht. Gerade kann ich an nichts anderes denken als an seine Finger, die nach wie vor in mir stecken. Und ja, ich möchte wissen, wie es sich anfühlt, seinen Schwanz zu reiten. Ich möchte Lev noch einmal stöhnen hören. Ich will, dass er in mir kommt.

»Okay.« Er entzieht sich mir, lässt sich nieder und öffnet seine Hose. Er zieht seine Shorts hinunter und sein praller Schwanz richtet sich sofort auf. »Dann zeig mir, dass es dir nichts ausmacht, vor den Augen von hundert Fremden zu vögeln. Mir macht es nämlich nichts aus.«

Ich betrachte seine Erektion und danach seine eisige Miene. So gerne würde ich ihm beweisen, dass ich professionell in meinem Job sein kann. Dass es für mich tatsächlich kein Problem darstellt, ihn vor lauter Fremden zu vögeln. Und ja, verflucht, ich will es so sehr.

Aber ich bin nicht hier, um ihn wie einen Kunden abzufertigen. Ich bin hier, um wie seine Schülerin behandelt zu werden. Vielleicht gehört das hier dazu. Vielleicht ist das eine seiner kranken Lehreinheiten. Doch er hat einen entscheidenden Fehler gemacht: Er hat mir eben offenbart, dass er mich heute Nachmittag zurückschicken wird. Damit ist die Unterweisung beendet. Er hat gesagt, ich bringe es nicht.

Ihn jetzt zu ficken, wäre der Beweis dafür, dass ich eine Hure bin. Eine Hure wird für ihre Dienste bezahlt. Und er bezahlt mich nicht. Wenn ich mich darauf einlassen würde, könnte ich es mir niemals verzeihen. Ich könnte nie wieder in den Spiegel gucken, weil es eine reine Herabwürdigung wäre. Dann hätte Lev mich dort, wo er mich haben will: im Dreck. Er wüsste, dass ich keinen eigenen Willen besitze.

»Nein«, sage ich schließlich mit kräftiger Stimme und prompt höre ich empörtes Gemurmel um uns herum. »Ich hätte vieles für dich sein können, Lev, aber ich bin keine kostenlose Hure. Wenn du meine Dienste willst, musst du mich ab sofort dafür bezahlen. Du hast eben zu deinem Bruder gesagt, dass du mich noch heute Nachmittag zurückschickst und dass ich es nicht bringe. Also ist das Abkommen , das du mit Asher abgeschlossen hast, null und nichtig. Ich bin nicht mehr deine Schülerin.«

Einen Atemzug lang starrt Lev mich an. Sein Blick wird mit jeder Sekunde eisiger. »Du wagst es, mich vor meinen Gästen zu beleidigen? Mir den Gehorsam zu verweigern?« Eilig zieht er seine Hose hoch.

Ich nicke. »Ja, so wie du mir das Essen verweigert hast, mich gefangen gehalten, misshandelt und sexuell genötigt hast. Ich denke, wir sind quitt.«

Lev springt auf die Füße und baut sich vor mir auf. Seine Hand schnellt vor und umfasst meine Kehle. Zu meiner eigenen Überraschung drückt er mir allerdings nicht die Luft ab. Trotzdem umklammere ich seine Hand instinktiv mit meinen Fingern und versuche, sie von meinem Hals zu lösen.

In dieser Sekunde verstehe ich, was hier abläuft: Das alles war ein weiterer Test und ich habe ihn bestanden. Aktuell geht es Lev nur darum, vor seinen Gästen das Gesicht als Tyrann zu wahren.

Dennoch sind seine Augen eisig und seine Miene noch immer wie versteinert. »Geh!«, brüllt er und schubst mich mit Schwung von sich.

Damit habe ich nicht gerechnet und bevor ich es schaffe, mich auf den hohen Absätzen abzufangen, verknoten sich meine Beine und ich mache, noch während ich falle, eine halbe Drehung in der Luft. Mit einem quietschenden Geräusch lande ich auf den Knien. Ein scharfer Schmerz macht sich auf meiner Haut bemerkbar und nun ist es gewiss, dass ich nicht nur mit Hämatomen, sondern auch mit Hautabschürfungen hier rausgehen werde. Aber es sind keine bleibenden Male.

Einen Atemzug lang bleibe ich hocken und erkenne aus dem Augenwinkel, wie mehrere, in teures Leder gehüllte Füße vor mir zurückweichen. Ich höre leises Getuschel und Gemurmel, allesamt empört und peinlich berührt. Da sich alle auf Russisch unterhalten, kann ich sie nicht verstehen, doch ich schätze, dass Bemerkungen fallen, die nicht gerade ein gutes Licht auf mich werfen.

Ohne aufzuschauen, rappele ich mich hoch und stakse in Richtung Treppe. Zwar halte ich den Blick gesenkt, doch die Schultern habe ich durchgedrückt, und setze einen Schritt vor den anderen. Ich werde nicht die geschlagene Hündin mimen. Ich sehe mich als Gewinnerin.

* * *

Erst in meinem Zimmer atme ich tief durch: »Was, zur Hölle, war das?!« Alles ohne Sinn und Verstand.

Ich bin hierhergekommen, um mich von einem Lehrer unterweisen zu lassen; weil ich dunkle Gelüste hatte, von denen ich dachte, dass ich sie genau kenne. Jetzt glaube ich, dass ich ein dreiundzwanzigjähriges Mädchen bin, das vom rechten Weg abgekommen ist, das Dinge erfahren hat, die es niemals erfahren wollte, und auf eine kranke Art und Weise herabgewürdigt wurde. Ein Mädchen, dessen Stolz auf üble Manier verletzt wurde. Und das Einzige, was zurückgeblieben ist, ist Verwirrung.

Lev hat tatsächlich eine Seite an mir gefunden, die ihm zu Diensten sein und von ihm benutzt werden wollte. Aber ich möchte, dass er diese Seite benutzt und kein anderer. Ich möchte mich ihm hingeben und keinem Kunden, der mich dafür bezahlt; dem ich vor allem nicht vertraue.

Das Problem ist, dass Lev mich zerstören will und all das macht mir Angst. Weil Lev mir Angst macht. Ich denke, dass er mir das, was ich mir von ihm wünsche, nicht bieten kann. Wir müssten uns auf einer ganz anderen Ebene begegnen, und das kann ich nicht, solange ich es nicht freiwillig tue und solange Lev mich für eine Hure hält.

Ich kann das nicht – und das ist ausschlaggebend. Asher hat gesagt, ich komme gebrochen zurück. Er hat recht. Lev hat mir gesagt, dass ich mein Studium beenden soll. Auch er hat recht.

Asher hat mich gar nicht hierhergeschickt, damit Lev mich unterweist. Er hat mich hierhergeschickt, um mir von Lev den Kopf waschen zu lassen. Bevor ich mich in eine Welt wie diese begebe, sollte ich erst einmal erwachsen werden. Keine Ahnung, ob es nötig war, diese schweren Geschütze aufzufahren, aber es hat geholfen.

Ich werde Lev nie wieder aus meinem Kopf bekommen. Ich werde nachts von ihm träumen. Erotische Albträume. Er ist für mich der personifizierte Teufel. Der Verführer, der nichts als Dunkelheit für mich übrighat. Ich will ihn niemals wiedersehen.

Mein Blick fällt auf meinen Koffer, der auf dem fein säuberlich bezogenen Bett liegt. Galina wusste anscheinend, dass ich nicht lange bleiben würde. Mein Magen knurrt. Sobald ich amerikanischen Boden unter meinen Füßen spüre, werde ich als Erstes etwas essen. Und dann werde ich nach Hause fahren, die Erlebnisse dieser beiden Tage abwaschen und für mein Studium lernen.

Ja. Ich werde Levs Existenz verdrängen. Ich werde ihn nicht vergessen können, das bezweifle ich, doch ich werde nicht mehr an ihn denken. Er wird vielleicht meine Träume beherrschen, aber nicht meine Gedanken.