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Kluftinger war etwas mulmig zumute, als er auf das Haus seines ehemaligen Mentors und Vorgängers zuschritt. Er hatte Hermann Hefele nie besucht, seit er in den Ruhestand gegangen war. Vielleicht wollte der »Alte«, wie sie ihn immer genannt hatten, ja gar nichts mehr mit der Polizei zu tun haben. Würde seinen Besuch nur als Störung seines Pensionistendaseins empfinden. Immerhin hatte der Kommissar ihn nie auf Weihnachtsfeiern oder derartigen Anlässen gesehen, zu denen auch die ausgeschiedenen Kollegen eingeladen waren. Womöglich ging es ihm wie vielen anderen Senioren, die im Ruhestand mehr Termine zu haben schienen als in ihrer beruflich aktiven
Zeit.

Das wird mir nicht passieren , dachte Kluftinger, als er am Klingelbrett des Hauses ankam. Er brauchte eine Weile, um den Namen Hefele unter den Einträgen zu finden. Es wohnten recht viele Parteien in dem Hochhaus in einer der besten Wohngegenden der Stadt.

Nur ein paar Sekunden nachdem er den Klingelknopf gedrückt hatte, ertönte ein Summton, und Kluftinger stieß die Tür auf. Hefele war zu Hause, immerhin. Geradezu beschwingt erklomm der Kommissar die Stufen in den zweiten Stock. Früher hätte er dafür den Aufzug genommen, doch das tägliche Treppensteigen im Präsidium zeigte bereits Wirkung in Form einer leichten Verbesserung seiner Fitness.

Und was war schon so ein kleiner Aufstieg im Vergleich zu der Hürde, die man früher nehmen musste, um zu Hermann Hefele zu gelangen. Denn der Weg zu ihm hatte stets über seine ebenso unbeliebte wie gefürchtete Sekretärin geführt, mit der auch Kluftinger noch eine Weile zusammengearbeitet hatte, bevor sie von Sandy Henske abgelöst worden war. Karin Meise war ihr Name, aber alle nannten sie damals immer nur …

»Die Krähe!« Kluftinger biss sich auf die Lippen. Die Frau im Türrahmen war eben jene ehemalige Bürokraft, an die er sich gerade mit einem Schaudern erinnert hatte.

»Bitte?« Karin Meise schaute ihn entgeistert an. Sie schien nicht einen Tag gealtert – aber sie hatte auch damals schon steinalt ausgesehen.

»Was? Nein, ich mein … Frau Meise, so eine … Überraschung.«

»Hefele.«

Sie hatte wohl keine Lust auf Konversation. »Ja, zu dem will ich.«

»Mein Name ist nicht mehr Meise, sondern Hefele.«

Kluftinger stand der Mund offen. Erst nach einer Weile verstand er. »Ach, dann haben Sie und der Alte …«

»Ich muss doch sehr bitten.«

»Mei, Entschuldigung, so war das nicht gemeint, wir haben das früher immer gesagt, weil er, also … ist der Herr Hefele denn da?«

»Warum?«

»Weil ich ihn besuchen will.«

»Auf einmal?«

Kluftinger seufzte. Die Frau war im Alter kein bisschen milder geworden. »Also, vielleicht bräucht ich seinen Rat.« Er fühlte sich wieder ganz wie der junge Streifenpolizist, der beim großen Kriminaler um einen Termin nachsucht.

»Soso, einen Rat wollen Sie. Na, kann ja vielleicht nicht schaden bei Ihrer aktuellen Aufklärungsquote.«

»Bitte?«

»Ich muss zum Einkaufen, Sie können gern bleiben, wenn Sie wollen. Aber bitte, er …« Sie schien nachzudenken.

»Ja?«

»Machen Sie einfach zu, wenn Sie wieder gehen.«

Nickend trat der Kommissar ein. »Klar. Zu. Mach ich. Auf Wiedersehen, Frau …« Doch da hatte sie die Tür schon von außen geschlossen.

Reizend wie immer , dachte er. Warum hatte Roland Hefele, der Neffe des Alten, denn nichts davon erzählt, dass die beiden jetzt ein Paar waren. Sei’s drum , jetzt war sie ja erst einmal weg, und er hatte freie Bahn. Kluftinger schaute sich um. Als er aus einem der hinteren Zimmer Geräusche hörte, setzte er sich in Bewegung. Er klopfte, und da niemand antwortete, stieß er die Tür auf und trat ein. Hermann Hefele saß auf einer abgewetzten Couch, über den Beinen eine Decke, den Körper leicht nach vorn gebeugt. Auf dem kleinen Tischchen vor ihm stand ein schwarzer Apparat, daneben lag ein Block, auf dem der Alte gerade etwas notierte. Der Kommissar lauschte den Stimmen, die aus dem Gerät drangen. Erst jetzt erkannte er, dass es sich dabei nicht um ein Radio handelte: Es war der Polizeifunk, der da aus dem Lautsprecher knisterte. Kluftinger war schockiert. Andererseits: Musste man es einem ehemaligen Kripo-Leiter nicht nachsehen, dass er sich auch im Ruhestand für seine einstige Arbeit interessierte?

Da Hefele ihn noch immer nicht bemerkt hatte, hüstelte Kluftinger ein wenig, um auf sich aufmerksam zu machen. Jetzt hob der Alte den Kopf. In seinen Augen loderte immer noch das alte Feuer, sie wirkten wach und aufmerksam.

»Ah, der Kluftinger, grüß dich. Haben wir einen Termin heut?«

»Ich … nein, ich dachte, ich schau einfach mal vorbei. Hätt ich mich vorher anmelden sollen?« Der Kommissar bekam ein schlechtes Gewissen. Ältere Menschen waren es oft nicht gewohnt, dass man spontan bei ihnen reinschneite. Wenn es bei seinen Eltern klingelte, ohne dass sich irgendjemand angesagt hatte, schauten die beiden sich immer an, als stünde der Sensenmann vor der Tür, um dann ausgiebig zu mutmaßen, wer denn da geklingelt haben könnte. »Das tut mir leid.«

»Ach was, Schmarrn, das muss dir nicht leidtun. Ich frage mich nur, wie du es geschafft hast, an der Krähe vorbeizukommen.«

Kluftinger lachte. Dass der Alte so über seine Frau sprach, zeugte von einer gehörigen Portion Galgenhumor. »War gar nicht so schwer, aber ich …«

»Pscht!« Hefele legte einen Zeigefinger an die Lippen, schnappte sich den Stift, beugte sich noch etwas weiter zu dem Funkscanner und notierte offenbar mit, was gesprochen wurde. Es ging um ein verdächtiges Fahrzeug ohne Nummernschild, das Kollegen von der Verkehrspolizei entdeckt hatten. Nachdem der Funkspruch beendet war, legte Hefele den Stift wieder weg und blickte Kluftinger gespannt an. »Was kann ich für meinen besten Mann tun?«

Kluftinger winkte ab. »Bester Mann, also ich weiß ja nicht …«

»Doch, doch. Ehre, wem Ehre gebührt. Aus dir wird noch mal was.«

Wieder lachte Kluftinger. Er war froh, den Alten nach so langer Zeit so gut gelaunt anzutreffen. »Es ist so, Hermann, du erinnerst dich doch an die Sache mit … also an den Funkenmord in Altusried.«

»Freilich. Gibt’s da schon was Neues?«

»Schon? Mei, es ist ja jetzt doch eine ganze Weile her, aber tatsächlich, ja.«

»Gut, freut mich. Eine schlimme Geschichte.«

»Schon. Jedenfalls lässt mir die Sache keine Ruh.«

»Versteh ich. Aber das wird schon, mit der Zeit.«

»Bis jetzt merk ich davon nix.«

»Doch bestimmt. Habt ihr den Schuppen schon durchsucht?«

»Welchen Schuppen?«

»Den dort oben halt.«

»Ach so. Nein, seitdem nicht mehr. Das T-Shirt des Mordopfers, das wir gefunden haben, liegt in der Asservatenkammer. Aber sonst war da nix.«

»Ich hab mir immer gedacht, dass man da noch mal hinsollte. Vielleicht rentiert sich’s.«

Kluftinger überlegte. War es möglich, dass nach all der Zeit dort noch etwas zu finden war, was ihnen weiterhalf? Etwas, das sie damals übersehen hatten? Er zweifelte daran.

»Was hast du denn Konkretes?«, unterbrach Hefele seine Gedanken.

Der Kommissar schnaufte vernehmlich. Ja, was hatte er denn Konkretes? Bis auf die letzten Worte eines Sterbenden nicht viel. »Also, wenn ich ehrlich sein soll …«

»Das würd ich begrüßen.«

»Es gibt viele Fragen, die nie beantwortet worden sind. Die einfachste: Warum hätte Mendler seine Freundin überhaupt umbringen sollen?«

»Dafür gibt es doch immer viele Gründe.«

»Ja, schon, aber …«

»Wenn es jemand anders gewesen wäre, hätte der ja wissen müssen, dass sie an genau diesem Tag zu dieser Zeit diesen Weg nimmt. Eine spontane Kreuzverbrennung kann man wohl ausschließen.«

Kluftinger nickte. Das klang alles plausibel. Dennoch gab es weitere Fragen. »Warum sollte Mendler seine Freundin auf so grausame und noch dazu, ich nenn’s mal, öffentliche Art und Weise umbringen? Die Frau, mit der er ein heimliches Verhältnis hatte. Ich mein: Er hätt es doch still und leise im Schuppen machen können und dann die Leiche auf, sagen wir, normale Art verschwinden lassen.«

»Jetzt fängst du an, die richtigen Fragen zu stellen«, kommentierte Hefele.

Das ermutigte den Kommissar fortzufahren: »Und wenn Mendler es doch war, warum hat er, bei all der Vorbereitung, das T-Shirt im Schuppen liegen lassen?«

»Der Schuppen, merkst du’s? Immer wieder der Schuppen.«

Der Alte hatte recht. Immer wieder kehrten sie zu dem Schuppen zurück.

»Wir müssen uns fragen: Was fehlt am Tatort, was eigentlich dort sein müsste?«, fuhr Hefele fort.

Jetzt runzelte Kluftinger die Stirn. Diese Frage hatte er sich noch nie gestellt. Er wollte sie sich notieren. »Darf ich mal?«, fragte er und nahm sich den Block und den Stift. Er warf einen kurzen Blick auf Hefeles Aufzeichnungen, ein wirr erscheinendes Dickicht aus Wörtern, Unterstreichungen, Einkreisungen und Pfeilen. Als er merkte, dass er etwas zu lang auf diese privaten Notizen gestarrt hatte, blätterte er um und schrieb die Frage auf. »Meinst du denn, es könnte sein, dass jemand anders das alles geplant und der Karin Kruse aufgelauert hat?«

Hefele wiegte den Kopf hin und her. »Also, um ehrlich zu sein: Ein Wagen ohne Nummernschild, der ist immer verdächtig …«

Kluftinger hatte keine Ahnung, was der Alte meinte. Sie hatten damals kein Auto gefunden. »Was für ein …?«

»Was wir wissen müssten: Ist jemand weggezogen danach? Außerdem ist es doch so: Wenn ein Tatort derart inszeniert ist, ist es fast immer eine Person gewesen, die ein enges Verhältnis zum Opfer hatte. Und die Frage ist: Sind bei dieser Inszenierung Fehler unterlaufen?«

Kluftinger notierte eifrig mit. Er war mit einem unbestimmten Gefühl hergekommen, zweifelnd, ob er irgendetwas Brauchbares von dem Alten zu hören bekommen würde. Und nun fühlte er sich wie in einer Vorlesung zum Thema Cold Case , in der jeder Satz Gold wert war. Gerne hätte er noch eine Weile so weitergemacht, doch plötzlich öffnete sich die Tür, und Hefeles Frau stand im Zimmer.

»So, Herr Kluftinger, ich denke, das dürfte für heute genug sein.«

»Ah, Frau Meise, also ich mein … dings, ich würd gern noch …«

»Einer gestrengen Sekretärin muss man immer gehorchen«, mahnte Hefele mit erhobenem Zeigefinger. »Ich würd noch einen Kaffee nehmen. Hab ich denn noch weitere Termine heut, Frau Meise?«

Ohne darauf einzugehen, verließ die Frau den Raum. Kluftinger lachte. Die beiden schienen es ja lustig zu haben, mit ihren Rollenspielen.

»Dann müssen wir uns eben vertagen, gell? Ich hab leider noch zu tun.« Hefele wies auf seine Notizen und erhob sich. Als er stand, wirkte er älter als im Sitzen. Gebrechlicher. Der Alte begleitete ihn noch zur Tür.

»Danke noch mal, Hermann, das hat mir wirklich weitergeholfen. Wenn’s dich nicht stört, würd ich vielleicht noch mal wiederkommen, falls mir noch was einfällt.«

»Jederzeit, jederzeit. Lässt dir aber vorher von der Krähe einen Termin geben, gell?«

»Ja, freilich, Termin. Von der … Krähe.« Er zwinkerte dem Alten verschwörerisch zu.

Bevor Hermann Hefele die Tür schloss, gab er Kluftinger noch mit auf den Weg: »Streng dich weiter so an, dann wird noch mal ein richtiger Kriminaler aus dir.«


Zurück im Büro, konnte Kluftinger es gar nicht erwarten, seinem Kollegen Roland Hefele von seiner Begegnung zu erzählen. Ohne anzuklopfen, stürmte er in dessen Büro, worauf dieser erschrocken zusammenfuhr.

»Hast du geschlafen?«, fragte der Kommissar misstrauisch.

»Ob ich … also was glaubst denn du? Ich hab … nachgedacht.«

»Nachgedacht, soso. Wurscht, was glaubst du, wo ich grad war?« Kluftinger wedelte mit den Notizzetteln, die er bei dem Alten vollgeschrieben hatte, vor seinem Gesicht herum.

Hefele sagte nichts und wartete ab. Nachdem der Kommissar nicht weitersprach, fragte er: »Soll ich raten, oder was?«

»Nein, ich sag’s dir: bei deinem Onkel.«

»Bei welchem?«

»Na, beim Alten.«

»Beim Onkel Hermann?«

»Genau.«

»Scheiße!«

»Was?«

»Dass du bei ihm warst und ich so lang nicht. Na ja, egal. Der hat dich eh immer lieber gehabt.«

»So ein Schmarrn.«

»Doch. Aber ich hab die Krähe noch nie ausstehen können. Daran hat sich auch nichts geändert, seitdem sie quasi hochoffiziell meine Tante ist.«

»Hättest du auch mal erwähnen können.«

»Ach, irgendwie kam nie das Thema drauf, und mein Kontakt zu den beiden war nie wahnsinnig eng. Sie haben mich nicht mal zur Hochzeit eingeladen. Jetzt ist es eh wurscht.«

»Warum?«

»Weißt schon, wegen …« Roland Hefele tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

Kluftinger hatte keine Ahnung, was er meinte.

»Weil er halt spinnt, der Alte.«

»Wie – spinnt?«

»Deswegen warst du doch dort, oder?«

»Weswegen?«

»Für einen Krankenbesuch. Weil er nicht mehr alle Akten im Schrank hat.«

»Welche Akten denn?«

»Weil … sag mal, willst du mich verarschen? Mein Onkel hat sich daheim eine private Einsatzzentrale gebastelt, er schreibt Berichte über Fälle, die er im Tatort gesehen hat, geht mit seiner Aktentasche ins Wohnzimmer und meint, seine Frau sei immer noch seine Sekretärin. Das findest du nicht zumindest ein bissle außerhalb der Norm?«

Kluftinger war sprachlos. Sicher, manches war ihm ein wenig sonderbar vorgekommen, doch was ihren gemeinsamen Fall anging, schien Hermann Hefele völlig klar gewesen zu sein. Aber war das nicht oft so bei älteren Menschen, deren Verstand langsam verdämmerte? Dass sie sich an Details aus der Vergangenheit erinnerten, während ihnen die Gegenwart langsam entglitt? »Doch, genau, ich wollt ja nur mal sehen … wie’s ihm geht«, antwortete der Kommissar und ließ die Notizen schnell in seiner Jackentasche verschwinden.