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»Bin daheim!«

Kluftinger legte die Zeichnung auf die Kommode im Hausgang. Noch einmal betrachtete er sie, doch sie blieb rätselhaft. Die Kinder hatten sie als Antwort auf seine vielen Fragen gemalt, doch er verstand diese Antwort nicht. Das Zentrum der Zeichnung bildete etwas Großes, Unförmiges, das aussah wie ein Berg mit dicken, kurzen Armen und Beinen, vielleicht ein Riese oder eine andere bedrohliche Kreatur. Darauf saß eine weitere Gestalt, feingliedrig, mit sechs kleinen Beinen und einem Stachel, wie ein Insekt. Ein Skorpion vielleicht? Sicher hatten die Kinder in ihrer Heimat viele dieser Tiere gesehen. Aber was wollten sie ihm damit sagen? Und was hatte es mit der dritten Gestalt auf sich, einer Art Spinne, die etwas abseits stand?

Er seufzte resigniert. Für einen Moment hatte er gedacht, die Kinder hätten tatsächlich etwas beobachtet, damals, beim Überfall im Wald. Dann hätte er sie befragen können, vielleicht zusammen mit den Eltern, mithilfe eines Dolmetschers. Hätte etwas über die Angreifer in Erfahrung bringen können. Doch wenn er ihr Bild anschaute, zweifelte er daran. Immerhin aber war jetzt die Herkunft der bizarren Püppchen geklärt, auch wenn es Kluftinger beim Gedanken an den traurigen Hintergrund des Ganzen vor Beklemmung erneut die Kehle zuschnürte.

»Erika?«

Die Küchentür öffnete sich, und seine Frau lächelte ihn matt an. »Na, wie geht’s dir, Butzele?«

»Mir? Sag du lieber mal. Besser?«

Erika nickte. Sie wirkte zwar noch müde, ihr Lächeln war nicht so strahlend, nicht so unbeschwert, wie Kluftinger es von ihr gewohnt war – aber er sah sofort, dass es ihr besser ging als in den letzten Tagen.

»Ich häng noch ein bissle in den Seilen, aber die Migräne ist weg. Gott sei Dank. Der Martin hat genau gewusst, was er mir geben muss – auch wenn mich die Spritze gestern so müd gemacht hat.«

»Ja mei, wenn der Langhammer noch nicht mal bei Kopfweh das richtige Medikament parat hätt, dann sollt er umschulen auf Tierarzt.«

»Sei nicht so, ich bin froh, dass er sich kümmert. Und bei dir?«

»Hm, ich hab heut eine komische Begegnung gehabt«, begann Kluftinger zu erzählen. »Ich war im Wald, oben bei …«

»Mei, das ist ja nett, wer hat dich denn da gemalt, Butzele?«, fiel ihm seine Frau ins Wort. Sie hatte das Bild auf der Kommode entdeckt. »Bloß, was für ein Tier sitzt denn da auf dir drauf?«

Offensichtlich war Erika doch noch nicht wieder ganz auf dem Damm, angesichts ihrer Interpretation der Zeichnung. »Wie kommst du denn jetzt drauf, dass das Bild was mit mir zu tun haben könnt?« Er fand es geradezu beleidigend, dass sie in dem Koloss mit den zu kurzen Armen ausgerechnet ihn zu erkennen glaubte.

»Also komm, wenn das nicht du bist … Woher ist denn das Bild?«

Kluftinger berichtete Erika von seiner Begegnung im Wald, von den hilfsbereiten Kindern und ihrem Schicksal. Und von der Zeichnung, die Amira und die Buben ihm gegeben hatten.

»Ich hab die dann noch ein Stück im Auto mitgenommen, die haben sich richtig gefreut. Sogar das Blaulicht wollten sie sehen.« Dass er den Jungs versprochen hatte, ihnen bei Gelegenheit auch mal die Dienstwaffe zu zeigen, verschwieg er lieber.

»Die müsstest du mal ins Kommissariat einladen, da würden die gucken«, schlug Erika vor.

»Ja, mal schauen. Vielleicht können wir da wirklich mal was arrangieren. Die haben’s schwer, müssen sich in einem völlig fremden Land, in einer ganz anderen Sprache und Kultur zurechtfinden.«

»Ja, das macht einen ganz traurig«, pflichtete seine Frau ihm bei.

»Wobei, die haben eigentlich ganz fröhlich gewirkt«, beeilte sich Kluftinger zu sagen, der befürchtete, seine Frau könnte gleich wieder in die nächste depressive Verstimmung schlittern.

»Trotzdem haben sie es nicht leicht. Und den Eltern geht’s ja nicht besser. Die Wimmer Evi, die gibt jetzt Deutschkurse im Flüchtlingsheim. Sie erzählt ab und zu davon. Man kümmert sich viel zu wenig um Menschen, die unverschuldet …«

Es klingelte. Kluftinger sah Erika verwundert an. »Wer könnt jetzt das sein?«, fragte er, ein bisschen besorgt, dass möglicherweise Langhammer wieder unangemeldet vor der Tür stand.

»Der Markus«, erklärte Erika.

»Schon wieder?« Ihm war ein wenig bange, dass sein Sohn das Thema auf den kleinen Vorfall in der Waschküche lenken könnte.

»Was soll denn das jetzt heißen? Er und Yumiko haben einen Termin und lassen das Kind kurz bei uns.«

»Ach so, mei, das ist ja schön.«

»Siehst du, alter Brummbär.« Damit öffnete Erika die Tür, und schon hörte man das Baby kläglich weinen.

Kluftinger eilte seiner Frau nach und nahm Yumiko sofort sein Enkelkind vom Arm. »Ja was hat denn mein kleines Engele? Warum muss es denn weinen? Hat’s seinen Opa so arg vermisst?«

Markus grinste. »Dir auch einen wunderschönen guten Abend, liebster Vater. Ich glaub, die Trennung seit gestern war hart für dein Enkelkind, aber noch mehr als dein liebliches Antlitz fehlt seitdem der Schnuffel-Esel. Ich glaub, den hab ich liegen lassen. Kann das sein?«

Der Kommissar zog die Brauen zusammen. »Grüß euch. Also, bei uns nicht, ich hätt den ja sicher gefunden, wenn er …«

»Ach, der Vatter weiß doch nix«, schnitt Erika ihm das Wort ab. »Ich hab ihn schon hergelegt.« Sie griff zur Kommode und legte die Zeichnung beiseite. Darunter kam das flauschige Stofftier zum Vorschein, das das Kind seit seiner Geburt ständig dabeihatte.

Markus klopfte seinem Vater auf die Schulter und sagte grinsend: »Schon gut für uns alle, dass die Mutter wieder fitter ist, gell, Vatter? Die Verantwortung für den gesamten Haushalt hat doch schwer auf dir gelastet.«

Yumiko versetzte ihm einen Stoß in die Nierengegend. »Hallo zusammen. Ich glaub, ich müsst mal einen neuen Reifen aufziehen.«

Kluftinger sah sie verwundert an. »Beim Auto? Jetzt?«

»Nein, Papa. Beim Kind.« Yumiko grinste. »Wir sagen das manchmal, wenn’s eine neue Windel braucht.«

»Au weh, jetzt riech ich’s auch«, bestätigte Erika. Kluftinger reichte den Nachwuchs mit weit von sich gestreckten Armen an seine Schwiegertochter weiter, die in Richtung Bad verschwand.

»Heu, Vatter, habt ihr euch heut in der Selbsthilfegruppe selber malen müssen?« Markus zeigte amüsiert auf die Kinderzeichnung. Er nahm das Blatt und drehte es in verschiedene Richtungen. »Interessant, wie du dich selber so siehst.«

Kluftinger schüttelte mürrisch den Kopf. »Ich geb dir gleich eine Selbsthilfegruppe.«

»Bloß nicht so dünnhäutig. Schickes Hemd übrigens.«

Kluftinger sah das Grinsen im Gesicht seines Sohnes und zwinkerte ihm zu – in der Hoffnung, dass der das Thema Wäsche im Beisein seiner Mutter nicht anschneiden würde.

Erika jedoch hakte ein: »Ach so, wegen dem Hemd, da wollt ich dich eh fragen …«

»Du, Mama, wie geht’s dir denn überhaupt?«, unterbrach sie ihr Sohn.

Kluftinger warf ihm einen dankbaren Blick zu.

»Viel besser. Schön, dass du fragst, Markus. Ich war heut beim Martin in der Praxis, der hat auch gemeint, das Schlimmste sei vorbei, von der Migräne her. Was ich da an den Augen hatte, diese Aura, da hab ich wirklich Angst bekommen. Aber der Martin hat mir bestätigt, dass viele Leute das haben und es an sich nicht bedrohlich ist. Er hat mir das lange erklärt und sich Zeit genommen. Dabei geht’s ihm selber gerade nicht besonders.«

»Wem?«

»Na dem Martin.«

»So? Gestern hat er noch recht fidel gewirkt. Hat mich blöd angeredet wie immer«, brummte Kluftinger.

»Ich glaub, er überspielt seinen wirklichen Gemütszustand bei dir.« Erika strich ihrem Mann über den Arm. »Der Martin und die Annegret leiden sehr unter dem Verlust ihres Hundes. Das hat sie tief getroffen, glaub mir. Sie zieht sich richtig zurück, hat jetzt sogar wieder angefangen zu malen.«

»Ui, Vatter, da könntest du dich ja mal einklinken, bei deiner Begabung.« Er zeigte mit breitem Grinsen auf die Zeichnung aus dem Wald.

»Ehrlich, ich glaub, die Langhammers bräuchten wieder ein Tier, um das sie sich kümmern können.«

»Das arme Viech.«

»Du und dein immerwährender Streit mit dem Langhammer«, sagte Markus kopfschüttelnd.

»Streit? Schmarrn. Aber vielleicht wäre als Haustier eine Schildkröte ganz gut, die kann sich zurückziehen in ihren Panzer, wenn der Doktor nervt.«

»Stopp, hör auf damit.« Erika hob eine Hand. Ihr Ton war scharf – es war ihr ernst, daran gab es keinen Zweifel. »Ich hab keine Lust mehr auf diese negative Art. Es ist genug Schlimmes passiert, was uns zeigt, dass wir zusammenhalten müssen. Wäre der Hund nicht gewesen, wer weiß, was mit dir heut wär, Butzele.«

Kluftinger schluckte. Er wusste, dass sie recht hatte – und außerdem wollte er nicht, dass sie wieder ihre Migräne bekam. Also gab er sich wohl oder übel konziliant. »Ist ja schon gut. Ich weiß, was du meinst. Aber ich glaub nicht, dass man sich als echter Hundefreund so mir nichts, dir nichts einen neuen Kläffer zulegen will, wenn der eine erst so kurz unter der Erde ist.«

»Ich fände es eine schöne Geste, wenn du das übernehmen würdest.«

Kluftinger sah seine Frau verblüfft an. »Wie jetzt?«

»Ja. Ich hab gedacht, ob du ihnen nicht einen Hund aussuchen magst. Vielleicht einen ganz ähnlichen.«

»Ich? Sag mal, ich kenn mich doch gar nicht aus bei so was. Und hast du überhaupt eine Ahnung, was so ein rumänischer Wischmob kostet, wie der Wittgenstein einer war?«

»Ungarischer Wischler«, korrigierte Markus.

»Was auch immer. Schließlich hat der Langhammer doch monatelang gewartet, bis er vom Züchter so einen bekommen hat.«

»Bis dahin werden die zwei depressiv«, murmelte Erika.

»Ich finde sowieso, dass man nicht zu einem Züchter gehen sollte«, konstatierte Markus. »Im Tierheim gibt’s Dutzende Hunde, die ausgesetzt oder in Südeuropa aus Tötungsstationen gerettet wurden.«

»So oder so, ich bleib dabei: Man kann einen solchen Verlust nicht einfach durch ein neues Tier ersetzen. Ich kann mir doch auch keinen neuen Strobl in irgendeinem Heim holen.« Kluftinger fand seinen Vergleich im Nachhinein selbst etwas geschmacklos und wechselte das Thema. »Apropos, seine Nachfolgerin, ich mein, unsere neue Kollegin, hat heute ihren Dienst angetreten. Scheint eine patente junge Frau zu sein, was man bis jetzt sagen kann. Bloß wie sie redet …«

Erika ließ ihm das nicht durchgehen: »Lenk bitte nicht ab.«

»Ich versteh einfach nicht, dass die Leute Tausende Euro hinlegen für Rassehunde«, schaltete sich Markus wieder ein, »wo sie im Tierheim für quasi umsonst einen Hund bekommen, der wahrscheinlich viel dankbarer ist als irgendein überzüchteter Nobelwelpe.«

»Da hast du allerdings recht«, stimmte Kluftinger ihm zu.

»Du machst es also?« Erika strahlte ihn an.

»Was jetzt?«

»Du schaust dich nach einem Hund für den Martin um?«

»Das hab ich doch gar nicht …«

»Butzele, du bist einfach der Beste.« Erika drückte ihn an sich und küsste ihn auf die Wange.

»Na dann, ab ins Heim mit dir«, grinste Markus.

»Wer muss ins Heim?« Yumiko kam eben mit dem Kind auf dem Arm aus dem Bad zurück und stellte die Wickeltasche ab. Jetzt sah sie besorgt in die Runde.

»Bloß der Vatter. Aber direkt ins Tierheim.«

Kluftinger boxte ihn in die Rippen. »Red nicht so blöd daher, Bub. Sei froh, dass du noch so junge und rüstige Eltern hast.«

»Er sieht sich im Tierheim nach einem Hund für den Martin Langhammer um, Yumiko. Ist das nicht lieb von ihm?«, sagte Erika mit dankbarem Blick auf ihren Mann.

»Vatter, wenn du eh gehst, nimm doch gleich dein Enkelkind mit. Ist frisch gewickelt, in der Beziehung also schon mal absolut safe«, schlug Markus vor.

»Au ja, das machst du«, stimmte Erika ein. »Für so ein kleines Menschlein sind Tiere sowieso das Allergrößte. Das hat dir doch auch immer so gut gefallen, gell, Markus?«

»Ja, war das so?«

Priml. Aus der Sache würde er nicht mehr sauber rauskommen, fürchtete der Kommissar. »Wenn ihr meint … Von mir aus, mach ich halt einen Ausflug mit meinem Enkelkind. Habt ihr den Kinderwagen im Auto?«

»Klar«, antwortete Markus und hielt Kluftinger seinen Schlüssel hin. »Nimmst am besten gleich mein Auto. Und ich deins.«

»Nein, der Passat tut’s mir gern«, rief der Kommissar erschrocken.

»Auf dem Bild bist du aber gar nicht gut getroffen, Papa«, tönte Yumiko.

Kluftinger sah, dass nun sie die Kinderzeichnung in der Hand hielt. »Das bin nicht ich«, schimpfte er, auch wenn seine Schwiegertochter die Ähnlichkeit immerhin infrage gestellt
hatte.

Die Japanerin schüttelte den Kopf. »Stimmt, auf dem Bild hast du ja nur vier Finger – und die Schuhe sind völlig falsch gemalt.«

Kluftinger seufzte.

Yumiko übergab ihrem Schwiegervater das Kind, das gleich die Hände nach seinem Opa ausstreckte.

»Dann schauen wir mal, welche Tiere wir da im Heim zu sehen bekommen, gell, mein kleiner Butzel?«

Das Kind gluckste.

»Ihr bleibt ja hoffentlich schön weg von den Käfigen, oder? Manchmal gibt es da regelrechte Untiere«, mahnte Yumiko.

»Brauchst keine Angst haben, der Vatter kennt sich aus im Tierheim.«

»Ja, da waren wir früher oft mir dir, gell, Markus?«

»Allerdings«, erwiderte der bitter. »Weil du zu geizig für einen Zoobesuch warst. Geschweige denn, dass du mir ein Haustier gegönnt hast. Nicht mal einen Hamster.«

»So ein Hamster hält doch höchstens ein, zwei Jahre, schon ist er kaputt. Und dafür frisst er einem die Haare vom Kopf. Nicht mal essen kann man die. Wären ja Hasen noch besser«, polterte Kluftinger.

»Jetzt fahrt ihr mal«, sagte Erika und schob ihren Mann zur Tür. »Sonst machen die das Tierheim noch zu. Guck dich halt einfach mal unverbindlich um. Wichtig wäre auf jeden Fall, dass du fragst, wie die einzelnen Hunde so sind. Ein neuer müsste schon gut zu den Langhammers passen. Sonst kann das nach hinten losgehen.«

»Schon klar, wir zwei werden die Lage sorgfältig sondieren, gell, mein Engele?«


»Ja verreck, der Kluftinger! Sieht man dich auch mal wieder? Kommst jetzt mit dem Enkelkind statt mit deinem Sohn, oder wie? Kriegst im Zoo noch keinen Seniorenrabatt?«

Kluftinger hob die Hand zur Begrüßung. Pirmin Bunk, einer der Klarinettisten aus der Musikkapelle, war zeit seines Arbeitslebens – und das waren mittlerweile bestimmt fast vierzig Jahre – der Leiter des Tierheims in Altusried. Mehrere der umliegenden Gemeinden hatten sich hierfür zusammengeschlossen und unterhielten diese Einrichtung am Ortsrand des Dorfes samt hauptamtlichem Pfleger. Kein Wunder, dass man Bunk nachsagte, er sei ein regelrechter Tierflüsterer. Kluftinger hatte erst vor Kurzem im »Blättle«, der wöchentlichen Gemeindezeitung, einen Bericht über seine Hundekurse gelesen.

»Servus, Pirmin. Sei doch froh, wenn sich jemand für die armen Kreaturen hier interessiert. Und für die Tiere.« Er ging mit dem Kind auf dem Arm ein Stück weiter auf die Gittertür zu, die den Haupteingang zum Gelände der Einrichtung bildete. Den Kinderwagen hatte er im Auto gelassen – nicht zuletzt, weil es ihm nicht gelungen war, ihn ordnungsgemäß auseinanderzufalten.

»Du, wir können uns nicht beklagen«, versetzte Bunk. »Uns geht’s ganz gut. Kriegen viele Spenden. Also, von großzügigen Leuten. Und es kostet jetzt sogar Eintritt. Zehn Euro Schutzgebühr.«

Kluftinger blieb der Mund offen. Schutzgebühr ? Zehn Euro ? Dafür, dass man sich Zeit für ausgesetzte, ungeliebte Tiere nahm? Hier wurde aus dem Leiden hilfloser Geschöpfe Profit geschlagen. Das ging zu weit. Solchen Fehlentwicklungen musste man entgegenwirken – und zwar indem man sie boykottierte. Er wollte sich eben wieder verabschieden, da hörte er Bunks kehliges Lachen.

»War bloß Spaß, Klufti.«

»Ich … ja, von mir auch«, antwortete der Kommissar mit gequältem Lächeln.

»Ja, dann: Immer rein mit dir, du geiziger Hund. So ein nettes kleines Ding, das du dabeihast. Hat zum Glück nix vom Opa, gell?«, sagte der gut einen Meter neunzig große und wuchtige Bunk und haute ihm mit seiner Pranke auf die Schulter. Prompt begann das Kind auf Kluftingers Arm zu weinen.

»Priml.«

»Mei, hab ich’s erschreckt? Das wollt ich nicht. Das tut mir aber leid, du kleiner …« Er hielt kurz inne. »Was isches denn?«

»Ein Kind, das siehst du doch«, brummte der Kommissar missmutig.

»Was du nicht sagst. Und wie heißt’s?«

»Kluftinger.«

»Ich mein, mit Vornamen.«

»Ist noch nicht getauft. So, wir zwei schauen uns mal ein bissle bei euch um, gell?«

»Au, da solltet ihr unbedingt mal zu den Vogelkäfigen gehen, vorne, im Haupthaus. Wir haben so einen lustigen roten Ara. Den müsst ihr sehen.« Bunk schob seine Schubkarre mit zwei Futtersäcken weiter in Richtung des einstöckigen Nebengebäudes.

Kluftinger folgte dem Ratschlag des Tierpflegers. Schon als Kind hatten ihn die großen, bunten Vögel fasziniert. Und schließlich war er vor allem hier, um seinem Enkelkind ein paar drollige Tiere zu zeigen – dass er dem Doktor hier und heute tatsächlich einen neuen Hund aussuchen würde, bezweifelte er.

»Schau, das ist ein Papagei, mein Schätzle.« Der Kommissar stand mit dem Kind auf dem Arm vor der Voliere. Bunk hatte recht: Der Ara war ein prächtiges Tier mit strahlend buntem Gefieder. Und er nahm bereits Kontakt mit seinen Besuchern auf: Langsam wagte sich der Vogel seitlich auf seiner Stange in Richtung Gitter vor, wobei er Kluftinger und das Kind mit einem Auge beobachtete.

»Komm, sag mal was«, forderte der Kommissar das Tier auf.

Und tatsächlich plusterte der Papagei sein Gefieder auf und schnarrte: »Maaaagst du eine Nudel?«

Kluftinger lachte laut los. Er hatte maximal ein »Hallo« erwartet. »Du sagst ja lustige Sachen. Was kannst du denn noch?«

»Maaaagst du eine Nudel?«

»Ja, das haben wir gehört, und sonst?«

»Fettsack.«

Kluftinger erschrak. Hatte das Tier ihn wirklich gerade …

»Fettsack. Fettsack. Fettsack.« Der Papagei hüpfte aufgeregt auf seiner Stange herum und stellte die Kopffedern auf.

»Komm, wir gehen«, erklärte der Kommissar mit hochrotem Kopf und eilte in den nächsten Raum, in dem ein paar ausrangierte Terrarien standen, in denen nun herrenlose Reptilien wohnten. Neben einem Leguan befanden sich zurzeit noch zwei
Schlangen in der Einrichtung. Als er sie sah, beschlich den Kommissar dieselbe Beklemmung wie in seiner Kindheit, eine Mischung aus Faszination und Abscheu. Mit seinen Eltern war er manchmal in einem Reptilienzoo im Westallgäu gewesen, in der Nähe von Scheidegg, dem sogenannten »Paradies der Ungeliebten«, was er gleichermaßen interessant wie furchteinflößend fand.

»Schau mal, da ist eine Schlange.«

Das Kind hatte die Augen weit aufgerissen und starrte das Tier fasziniert an.

»Toll, gell? Wie groß die ist … aaaaahhhh.«

Kluftinger erstarrte. An seinem Hals, direkt unter seinem rechten Ohr, hatte er eben etwas Kaltes gespürt – und nahm jetzt im Augenwinkel den Kopf einer kleinen getigerten Schlange wahr. Er wagte nicht, sich zu rühren, nicht zu atmen …

»Ssssssss, die böse Schlange kommt und frisst dich auf.«

Der Kommissar fuhr herum: Mit breitem Grinsen stand Pirmin Bunk hinter ihm, in der Hand eine Gummischlange.

»Ja sag mal, bist du völlig umnachtet, Pirmin? Beinah hätt ich das Kind fallen lassen. Und ich hätt sterben können vor Schreck.« Der Kommissar bemühte sich, nur halb so laut zu schreien, wie er es eigentlich für nötig erachtet hätte, um das Kind nicht weiter zu beunruhigen.

Bunk machte eine wegwischende Handbewegung. »Ach was, so instabil wirkst du jetzt auch wieder nicht, Klufti. Hier, ein bissle Nervennahrung für euch.« Mit diesen Worten langte Bunk in die Tasche seines Blaumanns und holte zwei Bonbons jener Sorte hervor, die er schon Markus als Kind immer hatte andrehen wollen, die jedoch sämtliche Kluftinger-Generationen verabscheuten: die mit Orangen- oder Zitronengeschmack und flüssigem Kern. Der Tierpfleger hielt sie ihm mit seinen rissigen, schmutzigen Fingern unter die Nase.

»Von Kindern hast du keine Ahnung, oder? Ein Baby darf doch keine Bonbons essen, Herrgott.«

Bunk zuckte mit den Schultern und ließ die Süßigkeiten zusammen mit der Gummischlange wieder in seine Tasche gleiten.

»Sagt mal, wollt ihr die Katzen sehen? Oder die Kaninchen? Süße Dinger dabei. Oder doch lieber die Hunde?«

Kluftinger seufzte. Eigentlich hatte er sich einfach mal allein mit dem Nachwuchs umschauen wollen, aber wenn Bunk nun schon einmal da war – und bevor der noch mal auf dumme Gedanken kam …

»Dann lass halt mal die Hunde sehen, in Gottes Namen.«

Sie folgten dem Tierpfleger zum Innenhof, auf dem an zwei Seiten die Zwinger angebracht waren. Als die Tiere den Besuch bemerkten, kamen sie schwanzwedelnd angerannt und sprangen an den Gitterstäben hoch. Kluftinger spürte, dass sein Enkelkind ein wenig zurückwich, und drückte es noch fester an sich, worauf es interessiert in die Käfige blickte.

»Der ist zum Beispiel ein ganz Netter. Heißt Rocco«, erklärte Bunk und zeigte auf einen freundlich dreinblickenden, ziemlich ergrauten Rauhaardackel. »Der wär was für dich, Klufti, wenn du bald in Rente gehst. Der will’s auch ruhig angehen lassen, ist schon zehn, hätte also in Hundejahren ungefähr dein Alter. Mit dem überanstrengst du dich nicht.«

Kluftinger war genervt von Bunks dauerndem Gefrotzel. »Jetzt hör mal gut zu: Erstens bin ich bedeutend jünger als du. Zweitens geh ich noch lange nicht in Rente – und wenn, dann sowieso in Pension. Und drittens will ich gar keinen Hund. Ich will bloß …«

»Ein bissle schauen, ich hab’s schon verstanden. Tut mir leid, ich hab nicht gewusst, dass du neuerdings so dünnhäutig bist.«

Der Kommissar sog die Luft ein. Hatte sein Musikkollege recht? Hatten auch ihn die Ereignisse der letzten Wochen verändert? War er sensibler geworden? Überempfindlich? »Vergiss es, nicht so wild. Aber jetzt zeig uns doch mal deine anderen Viecher.«

Sie gingen vorbei an verschiedenen Hunden, großen, kleinen, langhaarigen, kahl rasierten, sogar ein Pudel mit klassischem Bommel-Haarschnitt war dabei. Die meisten wedelten freudig mit dem Schwanz, ein paar bellten vergnügt – am meisten Freude aber hatte das Kind auf Kluftingers Arm, das bei jedem Hund munter vor sich hin gluckste. Bunk erzählte jeweils, warum die Tiere hier gelandet waren – und Kluftinger musste zugeben, dass ihn manche Geschichten anrührten. Etwa die, bei denen der Halter gestorben oder zum Pflegefall geworden war, bei denen Familien ein Tier abgeben mussten, weil es eine Allergie ausgelöst hatte, oder auch bei den Straßenhunden aus Griechenland, die das Tierheim zu vermitteln suchte.

Inzwischen waren sie fast am Ende der Reihe angekommen, nur ein Käfig ganz hinten in der Ecke war noch übrig.

»Und, wer kommt da noch?«, wollte Kluftinger wissen.

Bunk winkte ab. »Das ist unser Sorgenkind. Ein echter Problemfall, sag ich dir. Allein schon der Name: Mao.« Der Tierpfleger rollte mit den Augen. »Der wird uns wohl erhalten bleiben.«

Jetzt schlich das Tier aus dem Dunkeln des Zwingers zu ihnen ins Licht. Kluftinger erschrak: Es war ein grauer, struppiger Hund, etwa kniehoch, dessen zottiges Fell fahl und stumpf wirkte. Knurrend kam er auf die Besucher zu und blickte sie feindselig an, was besonders irritierend wirkte, weil eines seiner Augen von einem milchigen Schleier überzogen war. Das Kind begann sofort leise zu wimmern und drückte das Gesicht an die Brust seines Großvaters.

»Hab keine Angst, der tut uns nix«, sagte Kluftinger beruhigend und streichelte dem Kleinen über den Kopf.

»Du wirst lachen, der tut wirklich nix. Also, er ist nicht gefährlich oder so. Aber er zerfetzt alles, was er an Möbeln und Einrichtungsgegenständen in die Pfoten kriegt. Na ja, und eine Schönheit ist er halt auch nicht. Gell, Mao?«

Der Hund bellte wie zur Bestätigung in einer seltsam schrillen Tonlage. Bunk hatte recht. Der Mischlingshund war wirklich keine Augenweide. Und als Kluftinger noch ein Stück auf den Zwinger zuging, begann er erneut zu knurren – und sein Enkelkind erneut zu weinen.

»Man muss sich ja wundern, dass die Leute sich für so einen überhaupt interessieren. Aber stell dir vor: Zwei- oder dreimal haben wir ihn schon auf Probe vermittelt. Immer wieder kam er zurück, das letzte Mal hat er eine komplette Designerwohnung geschreddert. Es wär sogar ein Haufen Zubehör dabei: eine Transportbox, ein Hundebett, sogar mehrere Maulkörbe. Sicher nix für eine Familie, das sieht man ja an deinem Nachwuchs. Aber für ein Ehepaar mit guten Nerven und ganz viel Geduld … wer weiß.«

»Ja, wer weiß«, antwortete Kluftinger in Gedanken.

»Er hört eigentlich sonst ganz gut. Aber nur, wenn man ihn ganz deutlich mit seinem Namen anspricht, gell, Mao? Der dunkle Klang scheint ihn zu beruhigen. Wenn man ihn aber schlampig ausspricht oder ihm Kosennamen gibt, dann wird er fuchsteufelswild, sag ich dir. Vor allem Wörter mit hellen Vokalen kann er nicht ab. Ach ja: Und für ein Rädle Bierschinken tut er fast alles.«

»Hochinteressant, Pirmin.«

Nach dem Namen Pirmin begann Mao tatsächlich wieder bedrohlich zu knurren.

Kluftinger grinste. »Ich würd trotzdem sagen, dass auch dieser Hund ein schönes Plätzle verdient hat, gell, Mao?«

Eine halbe Stunde später bog Kluftinger mit dem Passat in eine von ihm ungeliebte Wohnstraße ein. Vor einem Flachdachbungalow fuhr er in die Garageneinfahrt, stellte den Passat ab und öffnete lächelnd den Kofferraum.

»So, lieber Mao: willkommen daheim. Stellen wir dich mal deinen neuen Eltern vor«, flüsterte er, um das schlafende Kind nicht zu wecken. Dann packte er die Transportbox, hob sie aus dem Kombi und ging auf die Haustür zu.

Als hätte er ihn erwartet, öffnete Martin Langhammer sofort nach dem Klingeln die Tür. Kluftinger hatte ein latent schlechtes Gewissen, doch als er den Arzt in seiner Batikhose, seinem hautengen Shirt und ohne Schuhe erblickte, war es wie weggeblasen.

»Oho, die Staatsmacht. Was verschafft mir die Ehre Ihres unangekündigten Besuchs?«, empfing ihn der Arzt strahlend, fügte dann aber in besorgtem Ton an: »Es ist hoffentlich nichts mit Erika?«

»Nein, keine Sorge, der geht’s besser, trotz Ihrer Behandlung. Ich bin wegen was anderem da.« Er zeigte auf die Hundebox neben sich, aus der ein heiseres Keuchen und Pfeifen drang.

»Ja was haben Sie denn da? Ist Ihnen ein Wildschwein ins Auto gelaufen? Für veterinärmedizinische Probleme müsste ich allerdings an die Kollegin Christlbauer verweisen. Eine Frau mit großer Erfahrung in allen Tiergattungen – auch im Wildtierbereich. Möchten Sie ihre Privatnummer?«

»Nicht nötig, Herr Langhammer. Das ist kein verletztes Wildschwein. Ganz im Gegenteil: Das ist Ihr neuer.«

»Wessen neuer?«

»Ihrer.«

»Meiner?«

»Ja, ich bringe Ihnen Ihren neuen Hund. Ein ganz … süßer.«

Langhammer blieb der Mund offen stehen. Sekundenlang starrte er den Kommissar wortlos an. Dann kiekste er: »Wie?«

»Ja, Sie haben schon richtig gehört. Ich hab doch gemerkt, wie sehr Sie unter dem Verlust Ihres treuen Gefährten gelitten haben in den letzten Wochen. Ich hab ständig überlegt, was ich machen könnte, damit Sie wieder mehr Freude haben. Am Leben und … überhaupt. Ich hab auch so ein schlechtes Gewissen, letztlich ist ja der Wittgenstein wegen mir jetzt beim lieben … beim Großen Hund – also nicht mehr da. Nicht mehr unter uns. Rein irdisch. Und da haben die Erika und ich, also, ich vor allem, aber auch ein bissle die Erika, gedacht, dass es Sie sicher schnell auf andere Gedanken bringt, wenn Sie sich wieder um so ein süßes Fellknäuel kümmern können.«

»Sie haben mir einen Welpen besorgt?« Der Doktor wirkte gerührt.

»Nicht direkt, ist schon eher ausgewaschen. ’tschuldigung, ausgewachsen.«

»Handelt es sich etwa wieder um dieselbe Rasse? Einen Magyar Viszla?«

Kluftinger zögerte. »Einen … dings, also, wie soll ich sagen …«

»Das ist so unglaublich nett, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll«, presste Langhammer mit bebender Stimme hervor.

Der Kommissar fürchtete schon, der Doktor werde ihn nun umarmen, da erschien Annegret Langhammer im Türrahmen – ebenfalls barfuß, in Yogahose und Trägertop. »So rührend, was ihr euch da habt einfallen lassen«, sagte sie.

»Ach Gott, ich mein …« Auf so viel Dankbarkeit war Kluftinger nicht gefasst.

Langhammer schaute immer wieder zwischen ihm, seiner Frau und der Hundebox hin und her, als wüsste er nicht, wie er reagieren solle. »Ja, mein Lieber, dann … freuen wir uns natürlich. Ich sehe die Erziehung eines Tiers zum treuen Gefährten des Menschen als ungeheure Herausforderung an. Die nächsten Wochen und Monate werden fordernd, aber sicher sehr gewinnbringend sein.«

»Das könnt sein«, murmelte Kluftinger.

»Wie meinen Sie?«

»Nix. Ich sag, das denk ich auch. Viel Glück.«

»Danke, wie gesagt, das ist ganz herzig von euch. Ist die Erika gar nicht mit dabei?«, wollte Annegret Langhammer wissen.

»Nein, die ist daheim.«

Langhammer hatte zu gewohnter Sicherheit zurückgefunden: »Sicher wird die Ausbildung bald abgeschlossen sein. Ich hab wirklich ein Händchen für Vierbeiner. Es gibt da so eine besondere Verbindung. Aber jetzt kommen Sie doch rein, und wir sehen uns den Racker mal näher an. Junge oder Mädchen?«

»Ein Hund. Also … männlich.«

»Soso. Na, mit Rüden habe ich ja bereits Erfahrung. Bitte, kommen Sie.«

Kluftinger schüttelte den Kopf. »Leider, ich muss weiter, Herr Doktor. Das Enkele schläft im Auto. Und der Markus wartet, dass ich’s wieder heimbring. Ein andermal gern, gell?«

Die Langhammers wirkten enttäuscht. »Na gut«, versetzte der Arzt, »dann kommen Sie beide morgen Abend auf ein Gläschen Vino vorbei, und wir stoßen auf das neue Familienmitglied an, d’accord?«

»Ja, das … können wir schon machen.« Ihm würde im Laufe des nächsten Tages sicher noch eine Ausrede einfallen. »Also, bis dahin dann, viel Freude mit dem Hund einstweilen, gell? Bettchen, Leine und Impfpass sind in der Box drin. Und drei Dosen Futter auch. Fürs Erste.«

Die Maulkörbe unterschlug er vorsorglich. Dann machte er kehrt und ging in Richtung Passat.

Der Doktor rief ihm nach: »Aber so warten Sie doch! Woher kommt er denn? Welcher Zuchtlinie entstammt er? Wie alt ist er? Und wie heißt er überhaupt?«

Der Name! Stimmt, den hatte Kluftinger ganz vergessen zu erwähnen. Er überlegte kurz, dann rief er: »Hindemith heißt er, der kleine Racker. Schönen Abend noch, und bis morgen,
gell?«