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Kluftinger war kein Bahnfahrer. Obwohl er diesem Prinzip des Reisens – umweltfreundlich, entspannt, sicher – durchaus einiges abgewinnen konnte, setzte er sich lieber selbst hinters Steuer seines Passats. Aufgrund des geringen Spritverbrauchs des Oldtimers war das nicht nur günstiger und flexibler, was Reiseroute und Abfahrtszeiten betraf. Er handelte auch aus Überzeugung getreu dem Motto, das ihm sein Vater immer eingebläut hatte: »Nur, wer selber lenkt, hat die Kontrolle.«

Heute freute er sich jedoch auf die erholsame Zeit im Zug und betrat beschwingt das Bahnhofsgebäude. Leider war vor einigen Jahren der Verkaufsschalter abgeschafft worden, und so führte ihn sein erster Weg zum Ticketautomaten, der ihn mit einem Herzlich willkommen auf dem Display begrüßte. Was nun folgte, war eine komplizierte Abfolge von aufploppenden Fenstern, die bestätigt werden wollten, Eingaben, die per Touchscreen ausgeführt werden sollten, und grundlegende Entscheidungen, die getroffen werden mussten, etwa bezüglich der Abfahrtszeit und der Umsteigehäufigkeit. Er seufzte. Das ging ja schon gut los.

Ein Räuspern in seinem Rücken riss ihn aus seinen Gedanken. Kluftinger drehte sich um und erschrak. Hinter ihm stand ein halbes Dutzend weiterer Reisender. Schweißtröpfchen sammelten sich auf seiner Stirn. Schnell wählte er eine Verbindung, doch der Vorgang war wider Erwarten noch nicht beendet, stattdessen ging ein weiteres Fenster auf, wo er den gewünschten Preis wählen sollte. Er hatte die Auswahl zwischen 49, 57 und 97 Euro. Welcher Depp würde denn 97 zahlen, wenn er das Ticket auch für 49 haben könnte, dachte er. Kurz bevor er den günstigsten Betrag antippte, hielt er jedoch inne. Ob die Sache vielleicht einen Haken hatte? Er beugte sich vor, um die kleine Schrift unter den Preisangaben lesen zu können. Zugbindung, Storno ausgeschlossen und Kein City Ticket stand dort. Was zum Teufel war denn ein City Ticket? Würde er aussteigen müssen, bevor sie die Innenstadt von Kassel erreicht hatten?

Jetzt geriet er wirklich ins Schwitzen. Noch einmal wandte er sich um. Zehn Wartende mindestens, schätzte er, also tippte er in Glücksspielermanier nun einfach zufällig auf die Schaltflächen und hatte eine Minute später seine Fahrkarte in der Hand, worauf die Menschen in der Schlange zu applaudieren begannen. Kluftinger nickte fahrig und eilte zu seinem Gleis.


Er wusste nicht, wie oft er bereits kontrolliert hatte, ob er wirklich im richtigen Zug saß. Immer wieder hatte er die Angaben auf seinem Ticket mit denen auf der Anzeigetafel verglichen. Es verwirrte ihn, dass dort als Ziel nur »München« stand, während sein Fahrtziel Kassel war, und er lediglich in Buchloe und Augsburg umsteigen musste. Er würde nicht einmal in die Nähe von München kommen. Irgendwann fuhr der Zug dann jedoch los und machte damit weitere Grübeleien überflüssig.

Nach fünf Minuten kam der Schaffner an seinem Sitz vorbei. Kluftinger sprang regelrecht auf und streckte ihm das Ticket entgegen. »Eine Frage: Ich muss heut dringend nach Kassel. Dienstlich. Heut? Am Samstag?, werden Sie jetzt bestimmt sagen, aber in meinem Beruf, da …«

»Sehr interessant. Bis später dann, gute Reise.« Der Mann ließ Kluftinger stehen und ging weiter.

»Moment, ich wollt doch nur fragen, ob wir den Anschlusszug noch kriegen, weil ich eben einen wichtigen Termin …«

»Wir sind pünktlich«, erklärte der Schaffner und verschwand.

Tatsächlich klappte das erste Umsteigen reibungslos. Doch die richtige Hürde stand ihm noch bevor: der Wechsel in den ICE. Bereits zwanzig Minuten vor der Endstation des Regionalzugs packte er seine Sachen und stellte sich als Erster an die Ausgangstür. Schließlich wusste man nie, wie viel beim letzten Halt los sein würde, und es könnte ziemlich knapp werden, hatte er doch nur achtzehn Minuten Umsteigezeit.

Kluftinger konnte den Bahnhof schon sehen, da hielt der Zug auf einmal an und bewegte sich nicht mehr weiter. Das beklemmende Gefühl völliger Hilf- und Machtlosigkeit breitete sich im Kommissar aus. »Zefix, was ist denn los, ich muss zum Zug!«, schimpfte er, da ertönte eine Durchsage: »Leider ist unser Einfahrgleis noch belegt, wir bitten um einen Augenblick Geduld.«

Geduld? Belegt? Wussten die in Augsburg denn nicht, dass sie kamen? Die anderen Reisenden starrten auf ihre Handys und schienen nicht weiter beunruhigt, dass hier Minute um Minute verstrich, ohne dass es auch nur einen Zentimeter voranging. Die müssen ja auch nicht nach Kassel, dachte er.

Nach geschlagenen zwölf Minuten, also sechs vor der geplanten Umsteigezeit, setzte sich der Zug dann endlich wieder ruckelnd in Bewegung. Nur gut, dass ich der Erste in der Reihe bin, freute sich Kluftinger. Kaum hatten sie endlich angehalten, drehte er an dem roten Öffnungshebel des betagten Waggons, drückte gegen die Tür – doch nichts geschah. Er probierte es wieder und wieder, rüttelte und schimpfte, aber die Tür bewegte sich nicht.

»Darf ich?« Ein zierliches Mädchen langte an ihm vorbei, packte den Griff und öffnete in einer eleganten, schwungvollen Bewegung den Ausstieg. »Bitteschön.«

»Ganz leicht, wenn man weiß, wie, gell?«, rief Kluftinger über die Schulter, sprang hinaus und rannte über den Bahnsteig, dass ihm das spärliche Resthaar nur so um den Kopf wehte. Schon von Weitem schrie er den Reisenden Sätze zu wie »Mir pressiert’s, zefix!« und »Weg da, ich muss zum Zug!«. Als er auf Gleis eins ankam, stand sein ICE mit geöffneten Türen da, als habe er nur noch auf ihn gewartet. Keuchend und schwitzend wuchtete er sich in den Waggon und ließ sich auf den erstbesten Sitzplatz fallen.

Fast fünf Minuten brauchte er, um wieder zu Atem zu kommen. Als er sich langsam wieder beruhigt hatte, wischte er sich mit dem Stofftaschentuch den kalten Schweiß von der Stirn und blickte sich um. Sehr schön war es hier, viel schöner als in allen Zügen, mit denen er je gefahren war: vier breite Sitze mit Lederpolster um einen großen, hellen Holztisch herum – ganz für sich allein. Er musste Erika unbedingt vorschlagen, öfter mit dem Zug zu verreisen. Wenn sie überhaupt verreisen mussten.

Fröhlich packte er nun seinen Rucksack aus. Drei Semmeln, einen halben Ring Lyoner, ein kleines Stück Butter in Alufolie, eine Gurke samt Schäler, den praktischen kombinierten Salz- und Pfefferstreuer, sowie ein Taschenmesser drapierte er auf dem kleinen Deckchen, das er sonst beim Wandern dabeihatte, und stellte die Thermoskanne mit dem Kaffee daneben. Studentenfutter, Trockenobst, Schokolade, Erdnüsse und die Müsliriegel, die ihm Erika aufgenötigt hatte, ließ er noch in der Tasche. Er würde sie erst beim zweiten Hunger im Lauf des Vormittags brauchen. Dann schnitt er die Wurst auf und schälte die Gurke. Es ging einfach nichts über eine frisch zubereitete Brotzeit.

Als er fertig war, biss er herzhaft in die erste Semmel und begann die Utensilien auszupacken, mit denen er sich die Zeit vertreiben würde, schließlich wollte er während der langen Fahrt nicht nur apathisch aus dem Fenster starren. Zum Vorschein kam die Zeitung mit dem großen Wochenend-Kreuzworträtsel, dazu ein Buch, das seit Weihnachten 2011 auf seinem Nachtkästchen lag. Sein Vater hatte es ihm damals mit den Worten geschenkt: »Hab ich letztes Jahr von deiner Mutter gekriegt. Wenn’s gut ist, les ich’s auch noch.« Zum Schluss zog er das seltsam gebogene Kissen hervor, das Erika sich auf längeren Autofahrten immer in den Nacken schob. Zufrieden blickte er auf das Sammelsurium vor sich auf dem Tisch, und ein warmes Gefühl der Behaglichkeit machte sich in seinem Bauch breit. Er würde es schön haben hier drin, während draußen die Landschaft an ihm vorbeizog.

Als ihm auch noch die Schaffnerin ein Tablett voll golden verpackter Schokolade anbot, lehnte er zunächst dankend ab, nahm auf ihren Hinweis, das sei eine kostenlose Aufmerksamkeit, dann aber gleich eine ganze Handvoll. Versonnen las er die Aufschriften »Lieblingsgast« und »Goldstück« auf den Täfelchen. Er war von nun an Bahnfan, das war sonnenklar.

Mit einem wohligen Seufzen nahm er das Buch zur Hand. Viel zu lange war er nicht zum Lesen gekommen, fast feierlich schlug er die erste Seite auf und las: Wir stiegen fünf Etagen dem Licht entgegen, verteilten uns in dreizehn Reihen und wandten uns dem Gott zu, der das Tor des Morgens aufschließt.

Komischer erster Satz, dachte Kluftinger. Und so lang. Wie war er gleich noch mal losgegangen? Er wollte den Anfang gänzlich durchdrungen haben, bevor er weiterlas, denn das war doch die Tür zu jener Welt, die diese Geschichte ihm auftun sollte. Wir stiegen fünf Etagen dem Licht entgegen, verteilten uns in dreizehn Reihen und wandten uns dem Gott zu, der das Tor des Morgens aufschließt. Was war damit bloß gemeint? Der Gott, der ein Tor aufschließt? Hatte er etwas überlesen?

Ein Räuspern ließ ihn herumfahren. Neben ihm stand ein grauhaariger, hagerer Mann mit teuer aussehendem Mantel, darunter Anzug und Krawatte. »Ich störe nur ungern, aber ich fürchte, Sie sitzen auf meinem Platz«, sagte er.

»Bitte?«

»Fünfundachtzig. Meiner.«

Kluftinger blickte auf die drei anderen Sitze der Vierergruppe. Keiner davon war besetzt. Auch der Rest des Waggons war nahezu leer. »Sie können sich ja auch gern …«

»Hören Sie, ich will hier nicht mit Ihnen diskutieren. Ich habe meinen Platz lange im Voraus reserviert und habe ein Recht darauf. Wir können das aber auch mit dem Zugchef klären, wenn Ihnen das lieber ist.«

Der Kommissar überlegte, ob es Sinn hätte, ihn zu fragen, wo genau auf dem Sitz denn nun sein Name stand, doch er wollte die Situation nicht unnötig zuspitzen, also sagte er nichts. Stattdessen erhob er sich achselzuckend und packte seine Sachen zusammen, was eine ganze Weile dauerte. Der Fremde begleitete das mit Unmutsäußerungen wie Seufzen und demonstrativem Auf-die-Uhr-Blicken. Schließlich hatte Kluftinger den Platz geräumt, und der neue Fahrgast setzte sich.

Suchend blickte sich der Kommissar um und entschied sich dann, einfach auf die andere Seite der Sitzgruppe zu wechseln, was der Mann, der ihn eben verscheucht hatte, mit entsetztem Gesichtsausdruck zur Kenntnis nahm. »Oder haben Sie den auch reserviert?«, fragte Kluftinger scheinheilig, bekam aber keine Antwort.

Eine Weile fuhren sie schweigend durch die spätherbstliche Landschaft. Wieder schlug Kluftinger sein Buch auf. Wir stiegen fünf Etagen dem Licht ent…

»Hallo? Frau Trömmel-Petz?«, brüllte sein Gegenüber da so laut, dass Kluftinger zusammenschrak. Der Mann presste sein Handy ans Ohr. »Ja, hier von Schutter. Hören Sie mich? Hallo?« Er sprach so laut, dass die Frau ihn auch ohne Telefon hätte hören müssen, dachte der Kommissar. »Frau Trömmel-Petz, Folgendes, ich bin jetzt schon im Zug zum Shareholder-Meeting, und der Herr Beckmann steigt doch gleich zu. Könnten Sie mir da noch mal das Angebot durchmailen? Ja, ich weiß, es ist Samstag. Also, as soon as possible, ja. Ach, Sie sind ein Schatz.«

Reinster Langhammer-Sprech, dachte Kluftinger und verdrehte die Augen.

»Wir liegen mit unserm Angebot ja ohnehin weit unter dem Wert der Leistung von diesem Beckmann, aber der hat zum Glück keine Ahnung, was für ein Asset er da in Händen hält. Wär wahrscheinlich sogar das Doppelte drin für ihn, bei der momentanen Marktsituation. Wiesbaden würde sicher goutieren, wenn wir da rasch abschließen.«

Angestrengt versuchte Kluftinger, sich wieder in sein Buch zu vertiefen. Wo war er stehen geblieben? … fünf Etagen dem Licht entgegen, verteilten uns in dreizehn Reihen und …

»Die Fahrkarten bitte.«

Seufzend zog er sein Ticket heraus. Im Zug etwas zu lesen war noch schwieriger als zu Hause. Die Schaffnerin nahm seine Fahrkarte, runzelte die Stirn, schaute erst ihn an, dann wieder das Ticket. Kluftinger bekam es mit der Angst zu tun. War er doch in den falschen Zug eingestiegen?

»Tut mir leid«, sagte die Frau schließlich mit ernster Miene, »aber dies hier ist die erste Klasse. Ihr Ticket gilt nur für die zweite. Wenn Sie gleich gehen, drücken wir ein Auge zu, ansonsten müssten Sie nachzahlen.«

Mit hochrotem Kopf entschuldigte sich der Kommissar.

»Nicht so schlimm, kann ja mal passieren. Einfach zwei Wagen weitergehen, dann sind Sie richtig.«

Erneut packte er seine Sachen zusammen, wobei sein Gegenüber ihn diesmal genüsslich beobachtete. Als er schließlich fertig war und grußlos ging, hörte er, wie der Mann murmelte: »Warum überrascht mich das jetzt nicht?«

Gedemütigt schlich Kluftinger von dannen. Er hatte gerade die Tür zum nächsten Waggon erreicht, als er seinen verhassten Reisegefährten rufen hörte: »Herr Beckmann, wie ich mich freue, Sie zu sehen.« Er drehte sich um und sah, wie der Grauhaarige einem kleinen Mann mit dicken Brillengläsern die Hand schüttelte. Der Kommissar rang mit sich, dann machte er kehrt, ging zu seinem ehemaligen Platz, beugte sich zu dem Mann mit der Brille und sagte so laut, dass es auch der Grauhaarige hören konnte: »Überlegen Sie sich noch mal, ob Sie das Angebot wirklich annehmen wollen, Herr Beckmann. Ich weiß aus vertraulicher Quelle, dass da mindestens das Doppelte drin ist.«


Auch wenn sein Selbstwertgefühl nun wiederhergestellt war, sank Kluftingers Laune, als er die zweite Klasse betrat: Im Gegensatz zu der Wohlfühlatmosphäre im anderen Waggon war es hier stickig und voll, Kinder rannten umher, und der Boden war bedeckt von einem Gemisch aus Chipsbröseln, Papier und leeren Dosen. Die Sitze waren auch nicht mit feinem Leder, sondern mit speckigem Stoff bezogen und in bedeutend geringerem Abstand montiert. Doch vor allem war kein Platz mehr frei. Erst im letzten Wagen vor der Lok fand er in einem Abteil noch etwas. Als er die Glastür aufschob, wurde er mit großem Hallo begrüßt. Die Gruppe – fünf junge Männer – stammte wohl aus Italien, falls Kluftinger ihre Sprache richtig einordnete. Sie riefen »Ciao« und »Benvenuto«, als sei er ein alter Freund, drückten ihn in seinen Sitz und boten ihm eine ihrer Getränkedosen an. Er lehnte dankend ab und zog sein Buch heraus.

»Personalwechsel, die Fahrkarten bitte.« Ein Schaffner stand in der Tür zum Abteil.

»Ich hab meine schon Ihrer Kollegin gezeigt«, sagte Kluftinger.

»Das mag sein, aber die ist gerade ausgestiegen. Nun führe ich weisungsgemäß eine erneute Kontrolle durch.«

»Ach so.« In der Annahme, die Ticketsache sei erledigt, hatte der Kommissar das Papier bei seinem hastigen Aufbruch aus der ersten Klasse einfach irgendwo hingesteckt. »Hab’s gleich«, sagte er,und begann zu suchen. Er kramte in seinen Taschen, legte alles, was er fand, auf seinen Schoß, wobei jeder Gegenstand von den Italienern lautstark bejubelt wurde: sein Taschenmesser, sein Geldbeutel, sein Dienstausweis …

»Ach, Sie sind von der Polizei?«, fragte der Schaffner überrascht.

»Ja, Kriminalpolizei, warum?«

»Na, da glaub ich Ihnen natürlich, dass Sie ein Ticket haben. Ist schon gut.«

Der Mann verabschiedete sich und verschwand. Kluftinger blickte ihm nach, dann schlug er wieder sein Buch auf. Doch er konnte nicht weiterlesen, denn irgendetwas war anders als vorher. Nur was? Dann hatte er es: Es war plötzlich mucksmäuschenstill. Er hob den Kopf – und erschrak. Die fünf Männer starrten ihn mit großen Augen an, packten dann hastig ihre Handys und Tablets ein, wobei sie peinlich darauf achteten, dass er nicht auf die Displays blicken konnte, und trollten sich aus dem Abteil.

Der Kommissar zuckte mit den Schultern. Seltsames Völkchen, diese Italiener. Dann blickte er sich in dem nun leeren Abteil um. So war es auch in der zweiten Klasse gut auszuhalten. Er rutschte noch tiefer in seinen Sitz und nahm seine Lektüre wieder auf. Als er nach fünf Minuten noch immer nicht über den ersten Absatz hinausgekommen war, schlug er das Buch wieder zu. Um Himmels willen, wer schrieb denn so ein sperriges Zeug? Es wunderte ihn nicht, dass sein Vater dieses Geschenk so großzügig an ihn weitergereicht hatte. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er sowieso nicht mehr lange hatte, da würde es sich kaum rentieren weiterzulesen.

Da knackte der Lautsprecher über ihm, und eine Durchsage ertönte, von der er allerdings nur Bruchstücke verstand: »…assel …schlusszug …auptbahnhof … umsteigen Wilhelmshöhe …« Dann nichts mehr. Das betraf ihn, hundertprozentig! Gab es eine wichtige Änderung? Panisch stand er auf und eilte nach draußen. Zum Glück kam gerade der Schaffner aus einem Abteil. Kluftinger stürzte auf ihn zu. »Muss ich jetzt doch umsteigen?«, fragte er atemlos.

»Bitte?«

»Wegen der Durchsage.«

»Wo wollen Sie denn hin?«

»Nach Kassel.«

»Wilhelmshöhe?«

»Nein, Kassel.«

»Schon klar. Kassel-Wilhelmshöhe?«

»Ja, mei, was weiß ich, ins Zentrum halt. Also, zum Hauptbahnhof. Wo die großen Züge ankommen.«

»Also doch Wilhelmshöhe. Der Hauptbahnhof Kassel ist lediglich ein Kopfbahnhof, an dem kleinere Regionalzüge verkehren.«

»Also gibt’s da gar keinen richtigen Hauptbahnhof? In so einer großen Stadt?«

»Doch, aber der ist eben in Wilhelmshöhe, wo Sie aussteigen, außer Sie wollen nach Göttingen.«

»Was soll ich denn da?«

»Wo?«

»In Göttingen.«

»Das weiß ich ja nicht. Aber es ist unser nächster Halt nach Kassel-Wilhelmshöhe.«

Kluftinger war nun gänzlich verwirrt. »Nicht der Hauptbahnhof?«

»Doch, aber der von Göttingen.«

»Und wenn ich nach Kassel will?«

»Steigen Sie in Wilhelmshöhe aus«, beharrte der Schaffner.

»Und wenn ich sitzen bleib …«

»Kommen Sie nach Göttingen. Müssten Sie allerdings das Ticket ab Wilhelmshöhe nachlösen.«

»Nein, das hab ich doch gerade gesagt, dass ich da nicht hinwill.«

»Deswegen müssen Sie ja aussteigen.«

»Ja, aber es hieß doch grad in der Durchsage …«

»Oh, mein Handy!«, sagte der Schaffner unvermittelt und langte in seine Tasche. Kluftinger wunderte sich, er hatte gar kein Klingeln gehört. »Ja? Was? Ich … dings … also komme sofort.« Der Schaffner steckte das Handy wieder weg. »Das war … jemand. Ich muss dringend hin.«

»Was Schlimmes?«, rief Kluftinger ihm hinterher, doch da war der Mann schon in den nächsten Waggon verschwunden.

Schwer atmend zog der Kommissar die Tür zu seinem Abteil auf und ließ sich noch einmal für ein paar Momente in den Sitz fallen. Sein Buch ließ er einfach liegen, als er in Kassel-Wilhelmshöhe ausstieg. Erleichtert, dass die Fahrt nun zu Ende war, ging er in Richtung Bahnhofsausgang. Plötzlich tippte ihm jemand auf die Schulter. Er wandte sich um und blickte in die Augen des Schaffners. »Das haben Sie vergessen«, sagte der und hielt sein Buch in die Höhe.

»Oh ja, mei, danke, das wär was gewesen«, antwortete er und rang sich ein Lächeln ab. Dann ging er weiter. Als er außer Sichtweite war, warf er das Buch in den Altpapier-Container.