»Frau Beer, ich glaub, es wird Zeit, dass wir uns ein bissle stärken, oder? Lust auf eine vernünftige Brotzeit?«
»Vom guten Metzger? Immer«, sagte die Kollegin lächelnd. »Sie brauchen übrigens nicht immer Frau Beer sagen. Da komm ich mir ja fast so alt vor wie …« Sie blickte ihn herausfordernd an. »Ältere Leute eben. Lucy passt schon. Ich könnt ja locker Ihre Tochter sein.«
»Aha, dann setzen Sie sich mal ins Auto, und ab geht die Lucy.« Schon während er den Satz aussprach, wurde ihm bewusst, dass das vielleicht als grobe Unhöflichkeit ausgelegt werden könnte. Doch seine Kollegin lachte so laut, dass eine Entschuldigung unnötig schien.
Wie beim letzten Mal stellten sie den Wagen direkt vor der Metzgerei ab. Kluftinger freute sich darauf, heute hemmungslos zuschlagen zu können. Vielleicht würde er sich zwei schöne, saftige Schweinebauchsemmeln genehmigen. Schon beim Betreten des Ladens stieg ihm der Duft aus der heißen Theke in die Nase. Vielleicht sogar noch eine Leberkässemmel extra …?
»Bub, was machst du denn mitten am Tag hier in der Metzgerei? Kriegst nix zum Essen daheim?« Kluftinger brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass es um ihn ging, da kam seine Mutter schon auf ihn zu und zupfte ihm ein paar Fusseln von der Jacke.
»Mutter? Griaßdi. Nein, wir sind … die Erika weiß gar nicht, dass ich da bin.«
»Hallo, Frau Kluftinger«, grüßte Lucy Beer.
»Ah, die junge Kollegin ist auch wieder dabei«, versetzte Hedwig Maria Kluftinger süßlich. »Schön, Sie sieht man in letzter Zeit ja häufig. Und die Erika weiß gar nicht, dass ihr zusammen hier seid? Soso.« Wieder zupfte sie an der Jacke ihres Sohnes herum.
Die Polizistin grinste breit. Der Kommissar wusste nicht recht, was er erwidern sollte.
»Also, mich geht’s ja nichts an, aber ich find, mittags braucht es was Gescheites, nicht bloß so einen Imbiss«, zischte Hedwig Maria und warf einen verächtlichen Blick auf die heiße Theke, aus der verführerisch duftender Dampf aufstieg. »Wenn du mit der Frau Kollegin lieber nicht nach Hause willst, dann kommt doch zu mir. Ich mach schnell Kässpatzen, das hat’s doch gleich.«
»Mutter, erstens geht’s nicht drum, dass ich nicht heimwill. Wir waren spontan noch hier, und die Erika wär gar nicht eingerichtet auf Besuch. Und zweitens haben wir es eilig, gell, Frau Beer, ich mein … Frau Lucy.«
»Eilig hin oder her, keine Widerrede. Ist ja noch nicht mal halb zwölf, so viel Zeit wird schon noch sein. Kannst mich gleich im Auto mitnehmen, dann muss ich nicht die ganzen Einkäufe schleppen.«
Wenn sich seine Mutter einmal was in den Kopf gesetzt hatte, ließ sie nicht locker. Doch ein Verweis auf unaufschiebbare dienstliche Belange würde sie überzeugen, da war er sich sicher. »Mama, bitte, ich kann jetzt nicht ewig … wir haben neue Erkenntnisse. Ziemlich … brisant grad. Wir sind wirklich in Eile.« Hilfe suchend blickte er zu Luzia Beer.
»Wegen mir müssen Sie nicht absagen, Chef. Sie können ruhig gehen, und ich wart irgendwo und rauch in Ruhe.«
»Sie kommen natürlich mit«, bestimmte Hedwig Maria Kluftinger in einem Ton, der nicht mal für eine Lucy Beer die Möglichkeit zum Widerspruch ließ.
»Okay, ich geh gern mit, ich mag deftige Sachen. Und wir haben eh ne Mittagspause. Ziehen wir die halt vor und legen sie mit der ausgefallenen Vormittagspause zusammen.«
Priml. Jeder seiner langjährigen Kollegen hätte auf Anhieb verstanden, worauf es in einer solchen Situation angekommen wäre – die Neue hatte genau das Gegenteil gemacht.
»Das ist nicht nötig, ich mach das schon. Sie sind doch zu Gast«, protestierte die Mutter, als die Polizistin alle drei Teller nahm, um sie in die Küche zu bringen.
»Schwachsinn, ich mach das daheim auch, schon seit ich fünf bin.«
Ihrem Sohn flüsterte Hedwig Maria Kluftinger zu: »Toll, die hilft im Haushalt.«
Kluftinger saß zufrieden am Esstisch seiner Eltern und zuckte nur mit den Schultern. Er hatte vorzüglich gegessen. Zu der reichlichen Portion Spatzen hatte seine Mama noch Kartoffelsalat aus der Metzgerei mitgenommen, eine Kombination, die seine Eltern vor einigen Jahren eingeführt hatten. Kluftinger wusste, dass man die vor allem im württembergischen Teil des Allgäus schätzte, während man im »richtigen Allgäu« grünen Salat bevorzugte. Er fand jedoch, dass beide Varianten etwas für sich hatten. Und da er heute Abend wegen Erikas labilen Zustands seine Leibspeise wieder nicht bekommen würde, hatte er auch kein schlechtes Gewissen, dass er sich ein wenig mehr genommen hatte als eigentlich nötig. Nur das Bier hätte er besser lassen sollen, das machte ihn jetzt schon furchtbar müde. »Und bei welchem Arzt ist der Vatter? Beim Langhammer?«, fragte er, als auch er aufstehen wollte, um die Gläser abzuräumen.
»Wo denn sonst?«, erklärte seine Mutter und nahm ihm die Gläser ab. »Warum?«
»Bloß so. Weil ich’s halt komisch find, dass er nicht heimkommt. Sonst ist ihm doch sein Mittagsschläfle heilig.«
Seine Mutter zuckte nur mit den Schultern.
Als sie sich wenig später verabschieden wollten, blieb Kluftingers Blick an einem großen Wandkalender hängen. Er wunderte sich – seine Eltern schrieben seit Jahrzehnten alle Termine in den immer gleichen Taschenkalender der Sparkasse, der auf dem Büfett stets am selben Platz lag. Als er genauer hinschaute, las er Einträge wie E-Bike-Führung Rappenscheuchen oder Tatort Milchwerk. Er schnaubte. Anscheinend zog sein Vater hinter seinem Rücken eine regelrechte Freizeitindustrie auf – und das mit dem Wissen und der Unterstützung seiner Frau. Er musste dem endlich einen Riegel vorschieben. Da fiel ihm wieder ein, was er neulich mit Richard Maier nach dem Besuch bei Regine Rimmele besprochen hatte. Natürlich! Der Weg zum Ziel führte über seine Mutter. Und die kannte kaum jemand so gut wie ihr eigener Sohn. »Sag mal, Mama, und der Vatter wollte wirklich nur zum Arzt?«
Stirnrunzelnd sah sie ihren Sohn an. »Was interessierst dich denn so arg für den Vatter heut?«
»Ich frag ja bloß«, tat der Kommissar beiläufig. »Weil ich ziemlich genau weiß, dass der Langhammer jeden Tag pünktlich um zwölf die Praxis für zwei Stunden zusperrt.«
Seine Mutter schaute ihn verdutzt an. »Hm, ja? Na ja, ich glaub, er hat danach noch Fußpflege. Oder war das Gymnastik?«
»Soso«, flötete Kluftinger. »Gymnastik …«
»Ja, ich glaub … was ist denn los?«
»Nix, Mama, nix. Ist die Frau Rimmele da eigentlich auch, bei dieser … Gymnastik?«
»Die Rimmele, wieso denn jetzt die Rimmele?« Seine Mutter wirkte bereits ein wenig beunruhigt. Seine Saat begann zu sprießen.
»Du, Mama, wir müssen. Sind Sie so weit, Frau Beer?«
»Klar«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.
»Bub, jetzt sag halt, wie du auf die Rimmele kommst«, bohrte seine Mutter nach.
»Nix. Ich hab bloß gedacht, sie geht vielleicht auch zur Gymnastik. Weil sie den Vatter doch so toll findet.«
»Tut sie das?«
»Schon. Wir waren neulich mal bei ihr, da hat sie in höchsten Tönen von ihm geschwärmt. Kannst stolz sein auf den Vatter. Wie hat sie gleich gesagt …« Kluftinger tat, als überlege er. »Ach ja, ein Kavalier alter Schule, ein echter Charmeur. Ja, ich glaub, das waren ihre Worte. Es war lustig, weil er grad angerufen hat bei ihr, als ich da war.«
Hedwig Kluftinger schnappte nach Luft.
»Der Kollege Maier hat auch erzählt, dass die Rimmele ganz weg ist von Ihrem Mann«, stimmte nun auch Luzia Beer ein. »Ist ja auch ein Netter.« Ob sie durchschaute, welches Spiel der Kommissar mit seiner Mutter spielte, oder ob es stimmte, was sie sagte, konnte er nicht erkennen.
»Ich … er … wie genau meinen Sie das denn …«, stammelte Hedwig Maria. Dann ging sie zur Wohnzimmerschrankwand und nahm sich fahrig ihr Handy. »Mal schauen, ob er wenigstens ans Telefon geht«, sagte sie in Gedanken.
»So, wie gesagt, wir müssen. Danke fürs Essen, Mama. Und sag dem Vatter einen schönen Gruß, falls er rangehen sollte, gell? Bis bald dann.«