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Zum zweiten Mal innerhalb einer Woche stand Kluftinger mit seiner Kollegin nun vor der Tür der protzigen Lederer-Villa. Zufall, würden manche vielleicht sagen, doch in Ermittlungen, das hatte der Kommissar schnell gelernt, gab es so etwas wie Zufälle nur selten. Wenn noch dazu ein Name in verschiedenen Zusammenhängen mehrmals auftauchte, machte ihn das immer stutzig.

Entsprechend gespannt wartete er, bis ihnen geöffnet wurde. Diesmal war es Frau Lederer, die im Türrahmen stand. Verunsichert blickte sie die beiden Polizisten an. »Grüß Gott. Der Hubert ist nicht da«, erklärte sie, noch bevor die Beamten überhaupt sagen konnten, was sie wollten.

»Grüß Gott, Frau Lederer«, begann Kluftinger, »darf ich fragen, welcher?«

Sie blickte irritiert zurück.

»Ich mein, welcher Hubert nicht da ist. Wir wollen zum Junior.«

Verwundert zog die grauhaarige Frau die Stirn kraus. »Zu meinem Sohn?«, vergewisserte sie sich, als sei es völlig abwegig, dass sie nicht ihren Mann aufsuchen wollten.

»Ja, genau.«

»Der ist draußen.«

»Aha, und wo?«

»Im Stall. Bei den Rindern.«

»Dann schauen wir da mal vorbei, danke.«

Frau Lederer zuckte mit den Achseln und verschwand im Haus.

Kluftinger fand es bemerkenswert, dass der junge Mann sich nicht zu schade war, selbst im Stall anzupacken, obwohl er sich ziemlich großspurig Geschäftsführer und Inhaber der Unternehmensgruppe Lederer nannte. Nach ihrem ersten Zusammentreffen hätte der Kommissar ihn deutlich weniger handfest eingeschätzt und schämte sich nun ein wenig für sein vorschnelles Urteil. Als sie jedoch die weitläufigen Stallungen betraten, realisierte er, dass er mit seiner ersten Einschätzung doch nicht ganz falschgelegen hatte: Lederer junior stand mit weißem Hemd, dunkelgrüner Wachsjacke und grauer Stoffhose, deren Beine in hohen Stiefeln steckten, vor einer Box neben einer Frau in einem verdreckten Staubmantel.

»Und, was meinst du? Einschläfern oder nicht?«, fragte die gerade und blickte dabei auf das Rind, das schwer schnaubend im Stroh vor ihnen lag.

»Ich weiß nicht so recht«, gab Lederer zögerlich zurück.

»Aber wir müssen das jetzt entscheiden. Er leidet, das siehst du doch. Aus rein tierärztlicher Sicht gibt es eigentlich keine Alternative.«

»Ja, schon, aber … der war sauteuer. Und dann können wir nicht mal das Fleisch verkaufen.«

»Aber wenn ich ihm noch mehr spritze, wird es noch teurer. Und meiner Meinung nach wird’s nix bringen. Du kennst mich, ich geb nicht zu früh auf.«

»Schon, aber der Vatter …«

»… ist nicht da, und wir brauchen jetzt eine Entscheidung.«

Hubert Lederer zog die Schultern hoch. »Ich würd doch lieber erst mal warten.«

Das Tier schnaubte erneut und stieß dann einen jämmerlichen Klagelaut aus.

»Hörst du das nicht?«, sagte die Frau eindringlich. »Hubert, jetzt lass es uns machen. Du bist doch der Chef.«

»Wenn der Vatter …«

Kluftinger tauschte einen Blick mit Luzia Beer, dann räusperte er sich vernehmlich, und die beiden anderen fuhren herum.

»Grüß Gott, Herr Lederer, Ihre Mutter hat uns gesagt, dass Sie hier sind.«

»Wie? Ach so, ja, mein Vater ist nicht da. Leider.«

»Wir wollen ja auch zu Ihnen.«

»Zu mir?« Er sagte das ebenso überrascht wie vorhin seine Mutter.

Kluftinger war verwundert. Müsste er es als Geschäftsführer nicht gewohnt sein, dass die Leute zu ihm wollten? »Ja, zu Ihnen. Wir hätten bloß ein paar Fragen.«

»Also, es ist grad wirklich schlecht, Sie sehen ja …«

»Dauert auch nicht lang. Und einen schönen Gruß vom Kreutzer Klaus soll ich ausrichten.«

Die Augen seines Gegenübers verengten sich. »Vom Spider?«

Kluftinger erinnerte sich daran, dass auch der Mitarbeiter in der Spedition ihn so genannt hatte. »Ja, bei dem waren wir vorher. Und jetzt würden wir gern mit Ihnen reden.«

Er seufzte. »Gehen wir doch kurz raus.«

»Aber, Hubert, was machen wir denn jetzt mit ihm?«, fragte die Frau neben ihm fast flehentlich.

»Wir warten. Und damit basta.« Mit diesen Worten ließ er sie stehen und bedeutete den Beamten, ihm zu folgen. »Ich ruf dich an, wenn der Vatter wieder da ist.«

»Immer ist was mit den Viechern«, sagte er draußen und zündete sich eine Zigarette an. Er hielt den Beamten die Schachtel hin, doch Kluftinger schüttelte den Kopf. Luzia Beer nahm das Angebot jedoch dankend an. Zum ersten Mal sah er sie rauchen, bisher hatte er nur immer ihren Zigarettenatem gerochen.

Lederer gab ihr Feuer. »Um was geht’s denn?«, wollte er wissen.

»Wir waren heut schon in Ihrer ehemaligen Schule«, begann Lucy. »Und haben gehört, dass Sie eine Clique hatten. Mit dem Kreutzer, dem Hagen und dem Jansen. Sie waren anscheinend so was wie der Anführer.«

»Anführer, wie sich das anhört. Ja, wir Jungs waren öfter zusammen. Und?«

»Der Tod Ihrer Lehrerin hat Sie damals alle ganz schön runtergezogen.«

»Von der Kruse? Die war nie meine Lehrerin.«

»Nicht?«, hakte Kluftinger ein.

»Nein. Ich hab das ganze Drama mit der Schule ein bissle früher beendet. Das muss Ihnen doch jemand gesagt haben. Als die Kruse kam, war ich schon auf dem Sprung.«

»Das wissen Sie noch so genau?«, fragte Lucy Beer. Kluftinger ließ sie gewähren, sie machte ihre Sache gut.

»Sie haben doch … was wollen Sie denn jetzt von mir?«

»Na ja, fragen, warum Sie das alle so mitgenommen hat.«

Lederer warf seine Zigarette weg und drückte sie mit dem Stiefel in den matschigen Boden. »Jetzt hören Sie mal, nur weil diese Hilfspsychologen und Zivilversager in der Schule meinen, nach fünfunddreißig Jahren noch irgendwas Wichtiges zu sagen zu haben, muss ich mir doch hier nicht diesen Scheiß anhören.«

Doch Luzia Beer ließ nicht locker. »Also?«

»Also was?«

»Waren Sie jetzt fertig deswegen oder nicht?«

Kluftinger gefiel seine neue Mitarbeiterin immer besser.

»Wir waren Kinder. Und die Klassenlehrerin meiner Freunde ist ermordet worden. Da kann man wohl davon ausgehen, dass alle ein wenig geschockt waren, oder?«

Luzia Beer nickte dem Kommissar zu, der nun wieder übernahm.

»Haben Sie auch für sie geschwärmt, Herr Lederer?«

»Für die …?«

»Für die Karin Kruse.«

Er schüttelte vehement den Kopf. »So toll war die nicht.«

»Ach so? Da sind Sie jetzt aber einer der wenigen, die das behaupten.«

»Stimmt trotzdem. Und die wär ja viel zu alt gewesen für mich, was hätt ich mit so einer gewollt? Außerdem hat die’s doch mit jedem getrieben, das war allgemein bekannt.« Er spuckte aus.

»Verstehe.« Kluftinger schwieg eine Weile, was Lederer sichtlich nervös machte.

»Ist noch was?«, fragte er und steckte sich eine neue Kippe an.

»Leben Sie allein, Herr Lederer?«

»Ja, wieso? Ist das verboten?«

»Nein, gar nicht. Ist doch auch schön für Ihre Eltern, dass der Bub noch im Haus ist.«

Lederer warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

Luzia Beer fuhr fort: »Wir würden gern noch über Ihre Freunde von damals reden. Mit dem Klaus Kreutzer treffen Sie sich immer noch?«

»Mit Spider? Ja, ab und zu. Wir haben früher zusammen in einer Band gespielt. Und manchmal haben wir noch ein paar Revival-Auftritte. Wie neulich, als Sie da gewesen sind. Ich hab das Equipment hier gelagert, wissen Sie?«

»Gernot Jansen?«, kam es von Luzia Beer.

»Keine Ahnung. Ist weggezogen. Wir haben nie wieder von ihm gehört.«

»Ohne Scheiß? Nie wieder?«, hakte sie ungläubig ein.

»Nein. Sind Sie noch mit all Ihren Schulkameraden befreundet?«

Sie ging nicht auf seine Frage ein, sondern nannte lediglich den letzten Namen: »Paul Hagen?«

Er stieß ein bitteres Lachen aus. »Wir waren ziemlich eng, damals. Aber dann hat er gemeint, er sei was Besseres. Hat sein Abi nachgemacht und studiert. Dachte wohl, wir Bauernbuben wären nicht intellektuell genug für ihn. Jurist ist er geworden. Jetzt ist er Anwalt in einer drittklassigen Gemeinschaftskanzlei in Kempten. Und ich …« Er deutete mit der Hand auf den Stall und den Hof. »Da sieht man mal, dass Schule und Abschlüsse nicht alles sind, oder?«

»Eine Frage noch, Herr Lederer«, sagte der Kommissar, ohne auf die letzte Bemerkung einzugehen, »es hieß, Karin Kruse hätte mal was mit einem Schüler gehabt. Wissen Sie da was drüber?«

Er dachte eine Weile nach, dann nickte er: »Ich war zwar, wie gesagt, nicht mehr in der Schule, aber das hab ich auch gehört, ja.«

»Irgendeine Idee, wer das gewesen sein könnte?«

»Hm, hab ich mich nie gefragt, aber jetzt, wo Sie’s ansprechen … nö, keine Ahnung, echt.«

»Ihr Freund Klaus vielleicht?«

»Der Kreutzer?«, fragte er überrascht.

»Ja, der war doch so ein Macho-Typ, oder? Guter Fußballer, Aussicht auf eine Karriere als Profi …«

Lederer lachte auf. »Ha, nie und nimmer. Eine wie die Kruse hätte der nie verschoben.«

»Bitte?«

Kluftinger wusste natürlich, was Lederer meinte – und fand diese Bemerkung mehr als unpassend.

»Ich mein, die hätt sich ja wohl kaum den ausgesucht. Den größten Aufschwätzer im ganzen Landkreis«, fuhr Lederer fort. »Wenn angeblich so viele hinter ihr her waren, dann hatte sie doch freie Auswahl. Warum also hätte sie sich mit dem Windbeutel abgeben sollen?«

»Ich dachte, Sie und der Herr Kreutzer sind befreundet.«

»Sind wir. Aber ich geh ja auch nicht mit ihm ins Bett.« Lederer grinste die Beamten an, die mit versteinerten Mienen vor ihm standen. »Ich mein, also, Sie wissen schon. Ich glaub einfach nicht, dass er das war. Passt nicht zu ihm. Hätte er mir bestimmt auch gesagt, irgendwann.«

»Und die anderen?«

»Hagen oder Jansen? Glaub ich nicht. Der Jansen ist meiner Meinung nach sowieso schwul, jedenfalls eher so ein Nerd, mit Weibern hatte der nie was am Hut. Und der Pauli? Der hatte anderer Probleme.«

»Welche denn?«

»Ach, mit seiner Gesundheit. Mein Vater hat immer gesagt, das ist so ein Verreckerle. Ein schmaler Wurf, wissen Sie …«

»Na ja, vielleicht überlegen Sie einfach noch mal, ob Ihnen jemand einfällt, der besser zu der Lehrerin gepasst haben könnte. Muss ja nicht aus Ihrer Gang sein«, schloss Lucy Beer. Lederer zuckte mit den Achseln und schnippte seine Kippe auf den Boden.


»Der Typ war auch nicht grad ne Plaudertasche«, seufzte die Beamtin auf dem Weg zum Auto.

»Mei, wir sind halt im Allgäu«, gab Kluftinger zurück.

Sie lachten.

»Jetzt müssen wir uns noch um die zwei anderen kümmern, den Jansen und den dings …«

»Hagen«, kam die Beer ihm zu Hilfe und genehmigte sich schon wieder einen ihrer Kaugummis.

»Genau. Suchen Sie doch mal die Kontaktdaten von denen raus, wenn wir zurück im Büro sind.« Bevor Kluftinger in den Passat stieg, schob er noch nach: »Das haben Sie übrigens gut gemacht heut, Frau … Lucy.«


»Oh, Kollege Maier hat was in die Abteilungsgruppe gepostet«, sagte Lucy Beer mit Blick auf ihr Handy, das sich eben mehrmals vernehmlich gemeldet hatte. Sie hatte nach einem strengen Blick des Kommissars, der am Steuer saß, schnell danach gelangt, worauf sein Handy exakt die gleichen Laute von sich gab.

»Oje, schon wieder! Was schreibt er denn?«

Lucy grinste. »Will wissen, wo wir bleiben. Er hätte extra angeordnet, dass alle die Mittagspause schieben, wegen einer dringenden Teambuilding-Sache.«

»Angeordnet? Schreibt er wirklich angeordnet?« Kluftinger wäre beinahe von der Fahrbahn abgekommen.

»So steht’s da«, bestätigte Luzia Beer.

Der Kommissar seufzte und sah auf die Uhr. Mittlerweile war es fast zwei, ihre ausgedehnte frühe Mittagspause war schon fast nicht mehr wahr. »Wissen Sie was, schreiben Sie doch, dass wir bald kommen, sie aber trotzdem nicht auf uns warten müssen. Ach ja, und wir sollten vielleicht besser nicht erwähnen, dass wir heute schon ausgiebig Mittag gemacht haben – und vor allem wo. Das geht die anderen ja nix an. Wir gönnen uns heute einfach eine zweite Pause.«

Luzia Beer kratzte sich am Kopf. »Klar, ich schreib das so, bloß kann ich jetzt sowieso nicht mit. Ich muss noch mal kurz in der Personalabteilung vorbei. Die brauchen noch ein paar Unterschriften von mir. Ich hoff, der ganze Bürokratie-Scheiß ist bald durch.«

»Seien Sie doch froh, Lucy.«

»Wie jetzt?«

»Die Bürokratie sorgt dafür, dass Sie nicht mitmüssen zum Teamzeug vom Kollegen Maier«, sagte der Kommissar resigniert und lenkte den Passat in die Einfahrt der Direktion.