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Vom Fenster aus beobachtete Kluftinger die beiden, wie sie etwa eine Stunde später gemeinsam auf den Eingang der Dienststelle zuliefen. Ihre Gesichter wirkten ernst, angespannt – was aber nichts heißen musste, schließlich galt das für die meisten Menschen, die zu einer Unterredung bei der Kripo »eingeladen« wurden. Einem Gefühl folgend, ließ er Lederer und Kreutzer trotzdem fast eine Viertelstunde in getrennten Verhörräumen warten. Im besten Fall würde es sie nervös machen, im schlimmsten wütend, was beides Ergebnisse waren, die er für seine Befragung nutzen konnte. Dann hielt er es aber selbst nicht mehr aus, ging ins Nachbarbüro und bat Luzia Beer, ihm zu folgen.

Im selben Moment schoss Maiers Finger in die Höhe wie bei einem Schulkind, das dem Lehrer die richtige Lösung mitteilen möchte.

Der Kommissar war irritiert. »Ja, äh, Richie, du … willst was sagen?«

»Chef, dürfte ich dich ganz kurz unter vier Augen sprechen?«

»Kann das nicht warten, die zwei …«

»Nein, das kann nicht warten«, unterbrach ihn sein Kollege.

»Gut, dann … komm mal schnell in mein Büro.«

Als sie drin waren, schloss Maier die Tür. »Ich verstehe ja, dass du diese junge, attraktive Kollegin gern um dich hast«, begann er.

Kluftinger holte tief Luft. »Also, ob die jetzt attraktiv ist oder nicht …«

»Darauf will ich ja gar nicht hinaus. Die junge Frau muss angeleitet werden, da eignet sich so ein alter, erfahrener Kriminaler wie du natürlich besonders.«

»Ich geb dir gleich alt!«

»Dennoch gibt es Aufgaben, die sensibel sind, bei denen es nicht angezeigt ist, Ausdrücke zu benutzen und rumzuproleten. Aktionen, die Fingerspitzengefühl erfordern, Empathie und psychologisches Geschick.«

Drei Fähigkeiten, die Maier nicht besaß, notierte Kluftinger im Geiste.

»Und Erfahrung. Aufgaben wie die Befragung von zwei Personen, die den Fall ein entscheidendes Stück weiterbringen könnten.«

»Sprichst du von dem Fall, bei dem mir in den letzten Tagen nur die besagte Kollegin und sonst niemand helfen wollte?«

»Wie? Ja, mag sein, aber ich möchte dich trotzdem bitten, die Befragung mit mir durchzuführen, nicht mit dieser … Göre.«

Kluftinger holte tief Luft. Es hätte viel gegeben, was er darauf hätte erwidern können. Angefangen bei einer dienstlichen Anordnung bis hin zu der Feststellung, dass er Luzia Beer trotz ihrer geringeren Berufspraxis und ihres manchmal unpassenden Slangs mehr Vernehmungsgeschick zubilligte als seinem langjährigen Mitarbeiter. Der hatte andere Qualitäten, keine Frage. Aber im direkten Kontakt mit Menschen war er manchmal ungelenk, um es vorsichtig zu formulieren. Dennoch hätte das alles nur eine Diskussion in Gang gesetzt, für die dem Kommissar momentan die Geduld fehlte. Deswegen antwortete er: »Du hast völlig recht, Richie.«

Der Kollege verstummte und schaute ihn irritiert an. »Hab ich?«

»Ja, deswegen wollt ich dich ja noch um etwas bitten, aber da bist du mir zuvorgekommen.«

»Was denn?«

»Ich dachte, dass es sinnvoll wäre, wenn du mit deiner psychologischen … dings, also Vorbildung, das Ganze beobachten könntest. Am Monitor. Und dir, praktisch mit einem Blick von außen, alles notierst, was dir auffällt. Was die Kollegin vielleicht übersieht, weil sie, weil sie …«, die folgenden Worte kamen dem Kommissar nur schwer über die Lippen, »weil sie nicht deine Erfahrung und Kompetenz hat.«

Das hatte gewirkt. Überrascht und stolz willigte Maier sofort ein.


»Herr Lederer, danke, dass Sie sich so kurzfristig Zeit genommen haben«, eröffnete Kluftinger das Gespräch. Im Nebenzimmer widmete sich Luzia Beer Klaus Kreutzer, während Maier beide Vernehmungen am Bildschirm mitverfolgen konnte.

»Na ja, Ihre Kollegen haben nicht gerade so gewirkt, als hätte ich eine Wahl.«

Der Kommissar überhörte die Bemerkung. »Wir wüssten gern, ob Sie mit Paul Hagen über unser Gespräch neulich geredet haben.«

Hubert Lederer junior wirkte nicht überrascht. »Klar«, antwortete er sofort. »Was glauben Sie denn?«

»Aber Sie haben beim letzten Mal erzählt, dass Sie mit Paul Hagen nix mehr am Hut haben.«

»Das stimmt schon. Aber Sie wollten ja lauter Sachen von früher wissen. Und das geht ihn ja auch an.«

Kluftinger nickte. »Was haben Sie ihm denn gesagt?«

»Dass Sie da waren, dass es um die Sache mit der Lehrerin geht und Sie wieder ermitteln, dass Sie bei mir und beim Spider waren.«

»Wie hat Hagen reagiert?«

»Er war überrascht. Und … wie soll ich sagen …« Er zögerte.

»Ja?«

»Ein bisschen beunruhigt vielleicht.«

»Beunruhigt?«

»Ja, kam mir so vor. Nervös. Ich weiß auch nicht, wie ich das besser ausdrücken soll.«

Der Kommissar musterte sein Gegenüber. Der Mann wirkte jünger als die knapp fünfzig, die er war. Das schien in der Familie zu liegen, denn auch sein Vater sah nicht aus wie Mitte siebzig. Allerdings war Lederer junior nicht so groß gewachsen und breitschultrig wie der Senior. Auch im übertragenen Sinne nicht. Er wirkte eher schüchtern, in sich gekehrt.

»Haben Sie Herrn Jansen auch kontaktiert?«

»Den Gernot? Nein, ich weiß gar nicht, wo der sich jetzt rumtreibt.«

»Noch einmal zu Paul Hagen. Was genau hat er denn zu den erneuten Ermittlungen gesagt?«

»Mei, dass er das nicht versteht, dass man die alten Sachen wieder ausgräbt und so. Wissen Sie, der Pauli hat ja früher auch am meisten unter der Sache gelitten.«

»Ja?«

»Ja, sicher. Und jetzt war er wieder so komisch. Also, wenn ich so drüber nachdenke …«

»Dann?«

»Ach, nix.«

Kluftinger wollte unbedingt, dass der Mann seinen Gedanken zu Ende führte. »Doch, bitte, reden Sie, ganz frei von der Leber weg. Hier dürfen Sie alles sagen. Vielleicht helfen Sie uns damit.«

»Na ja, ich hab noch mal überlegt, könnt schon sein, dass er es war, der damals was mit der Kruse hatte.«

Der Gedanke war Kluftinger auch schon gekommen.

»Ich weiß es nicht, aber … das würd halt so manches erklären.«

»Und wie kommen Sie jetzt auf einmal drauf?«

»Was heißt jetzt? Wir anderen haben früher auch schon drüber geredet. Irgendwie war der Pauli einer, den die Frauen gern bemuttert haben. Der hat so was ausgelöst in denen. So einen Beschützerinstinkt.«

»Sie meinen, er hat Mitleid erregt?«

»Wenn Sie so wollen. Die Kruse war ja auch älter. Und immer sehr begeistert von ihm.«

Kluftinger beugte sich vor. »Ach ja?«

»Ja, also nicht, wie Sie jetzt vielleicht denken. Aber so: Paul, das hast du ganz großartig gemacht, Paul, du bringst es mal weit, Paul, aus dir wird mal was Besonderes und so. Haben jedenfalls die anderen erzählt. Ich war da ja schon nicht mehr in der Schule. Aber fragen Sie ihn doch mal selber deswegen.«

»Das geht leider nicht mehr.«

»Warum?«

»Paul Hagen ist tot.« Kluftinger beobachtete genau die Reaktion seines Gegenübers. Lederer wirkte erschüttert. »Pauli ist … ich mein, wie?«

»Er wurde erschossen. Mit meiner Dienstwaffe.«

»Sie haben ihn …«

»Nein, nicht ich. Er hat sich … wir wissen es nicht genau.«

»Er hat sich … selber …? Wie ist er denn an Ihre Waffe gekommen?«

»Wer?«

»Na, der Pauli. Wenn es Selbstmord war …«

Kluftingers Augen verengten sich. »Ich hab nicht gesagt, dass es Selbstmord war.«

Lederer schien verunsichert. »Aber Sie haben es doch angedeutet. Ich denk mir nur … weil er halt so komisch drauf war. Drum hab ich gedacht … Wie kam er denn nun an Ihre Waffe?«

»Das geht Sie nichts an«, antwortete Kluftinger scharf.

»Ich frag ja bloß. Schlimm, dass es so enden musste mit dem Pauli. Aber irgendwie überrascht es mich jetzt auch nicht. Er war schon immer sehr sensibel, ihn hat schnell was aus der Bahn geworfen. Und wenn er sich zusammengereimt hat, dass gegen ihn ermittelt wird …« Wieder ließ er seinen Satz im Unbestimmten verhallen.

Kluftinger hatte genug. »Alles klar, Herr Lederer, wir melden uns.«


Im Raum mit den Monitoren warteten bereits Luzia Beer und Richard Maier auf den Kommissar. Er sah sich nun das Video der Kreutzer-Vernehmung an. Luzia Beer machte ihre Sache gut, nahm den Befragten hart ran, ließ aber auch Pausen, wo es nötig schien, um ihr Gegenüber zum Weiterreden zu animieren. Mehr Informationen als die Unterredung mit Lederer hatte aber auch dieses Gespräch nicht gebracht. Kreutzer gab ebenso wie Lederer unumwunden zu, Hagen von den Ermittlungen erzählt zu haben. Über Jansen wusste auch er angeblich nichts, und je länger es dauerte, desto mehr erging sich Kreutzer in Vermutungen darüber, ob Hagen damals etwas mit Kruse gehabt hatte und, das war der einzige Unterschied zu Lederer, vielleicht etwas mit ihrer Ermordung zu tun hatte.

»Klingt alles sehr ähnlich«, fasste Kluftinger zusammen.

»Sie meinen, die haben sich abgesprochen?«, fragte Lucy Beer.

»Würden Sie das denn nicht tun, wenn Sie in so einer Sache zur Polizei gerufen werden? Und sollten die beiden die Wahrheit sagen, wäre es nur logisch, dass sich ihre Aussagen gleichen. Sagt also alles in allem nicht viel aus.«

»Da wäre ich mal nicht so pessimistisch«, schaltete sich Maier ein. »Ich habe hier meine Betrachtungen minutiös festgehalten.« Er hielt einen Stapel von mehreren eng beschriebenen Seiten hoch. »Gerade aus tiefenpsychologischer Sicht war das alles hochinteressant. Da lief viel auf der nonverbalen Ebene ab.«

Der Kommissar schnaufte. Die Geister, die ich rief, dachte er. »Ach, das ist ja interessant, Richie. Kannst mir später …«

»Äußerst interessant sogar, Chef. Schau mal: Ab Minute vier hat der Lederer immer wieder nach links oben geschaut, bevor er geantwortet hat.«

»Nach links? Jetzt hör auf.«

»Ja, das bedeutet, dass er versucht, in seinem Gehirn ein Bild zu konstruieren. Hätte er nach rechts geschaut, dann hätte er seine visuelle Erinnerung angezapft, aber links …«

»Soso.« Kluftinger hielt nichts von solchen Psychospielchen. Klar hatte er schon davon gehört, aber nach seiner Erfahrung war jeder Mensch anders, man konnte nicht einfach eine Schablone über alle legen.

»Und bei Kreutzer, bei Minute sieben, warte, ich spul’s mal her …«

Der Kollege strapazierte Kluftingers Geduld aufs Äußerste. »Weißt du was, Richie, kannst du mir das mal abtippen, damit ich das schriftlich hab? Dann kann ich … immer wieder draufschauen, wenn ich was brauch.«

»Klar«, erwiderte Maier stolz. »Wenn es nützt, freut es mich natürlich.«

»Natürlich. Also dann: An die Arbeit!«