Kluftinger blickte auf die Uhr. Es war kurz nach halb acht, Hefele und Maier saßen ihm im kleinen Besprechungsraum gegenüber, Sandy Henske hatte ihren Block und ihren Kugelschreiber mit dem Glücksklee-Anhänger bereits gezückt. Nur von Luzia Beer war noch nichts zu sehen. Es konnte ja vorkommen, dass man es morgens nicht rechtzeitig schaffte, auch wenn das vielleicht nicht gleich in den ersten Diensttagen in einer neuen Abteilung passieren sollte. Aber in dem Fall rief man eben an.
»Gerade mal ein paar Tage hier und schon unpünktlich«, fasste Maier die Gedanken des Kommissars in Worte.
»Mei, vielleicht ist ihr was passiert.« Kluftinger hatte das Gefühl, die neue Kollegin verteidigen zu müssen, damit sich nicht noch mehr Gräben in seiner Abteilung auftaten. Auch wenn er fand, dass Maier völlig recht hatte.
»Das hätten wir wohl erfahren«, beharrte der. »Aber dieses Pendeln jeden Tag von Augsburg bringt einfach nichts.«
»Ich glaub, das hat familiäre Gründe bei ihr«, wandte Kluftinger ein.
»Du musst grad reden, Richie«, sagte Hefele und warf einen Seitenblick auf Sandy, um sich zu vergewissern, dass sie auch zuhörte. »Du wohnst sogar in einem anderen Bundesland. Und die Lucy tut unserer Abteilung doch gut.«
»Stimmt doch gar nicht.«
»Ich find schon«, fuhr Hefele mehr an Sandy als an Maier gerichtet fort. »Diese neue weibliche Note …«
»Ich mein das mit dem Bundesland.«
»Ach, gehört Leutkirch jetzt auf einmal nicht mehr zu Württemberg? Hat man das eingemeindet?«
»Unsinn! Aber ich bin doch schon längst umgezogen.«
Hefele und Kluftinger warfen sich einen irritierten Blick zu. Sandy zuckte mit den Achseln.
»Du bist umgezogen?«, brachte Kluftinger schließlich hervor.
»Ja, schon vor Monaten.«
Wieder tauschten sie überraschte Blicke.
»Warum das denn?«, fragte Sandy. Ihr entging normalerweise nicht mal, wenn einer der Kollegen sein Rasierwasser wechselte. Entsprechend konsterniert war sie angesichts dieser unerwarteten Neuigkeit.
»Private Gründe«, antwortete Maier knapp.
Kluftinger respektierte zwar, dass er nicht darüber reden wollte, dennoch trieb ihn die Neugier. Und ein bisschen auch das schlechte Gewissen, dass er eine solche Lebensveränderung bei seinem Kollegen nicht mitbekommen hatte. Sicher, er wusste, dass Maier auf der Suche nach etwas Neuem gewesen war. Einmal hatte der sogar die Wohnung eines Mordopfers vermessen. Aber das war schon länger her, und nach einem Rüffel seinerseits war das nie wieder zur Sprache gekommen. »Warum hast denn nix gesagt?«, wollte der Kommissar wissen. »Wir hätten doch … helfen können.«
»Ganz bestimmt, so kennt man euch. Danke, es ging auch so. Und wie gesagt: Es hatte private Gründe. Ich wollte einfach lieber in der Anonymität der Großstadt wohnen.«
»Wo wohnst du dann jetzt? In München?«
»Nein, hier in Kempten.«
Hefele lachte laut auf. »Großstadt? Du bist ja lustig! Großstadt geht anders.«
»Sicher, schon klar. Aber gegenüber Leutkirch ist es hier deutlich urbaner. Und anonymer.«
»Hast du was ausgefressen?«, fragte Hefele grinsend.
»Können wir jetzt endlich wieder über das Zuspätkommen der Kollegin reden anstatt über meine veränderte Lebenssituation?«
»Was sollen wir denn da groß drüber reden?«, mischte sich Sandy Henske ein. »Sie ist zu spät, mehr isses ja nicht.«
Maier schüttelte den Kopf. »Nein, das sehe ich anders. Es ist ihre ganze Dienstauffassung: ihre Ausdrucksweise, die ständige Raucherei, von der ich mich übrigens wirklich gestört fühle und die ja auch ganz viel Arbeitszeit verschlingt – das passt doch alles nicht zu einem Amt, wie wir es bekleiden. Aber wird sich ja vielleicht bald erledigt haben, ich vermute, dass die nicht lange bleiben will.«
»Na ja, zumindest so lang, bis in Augsburg was frei wird«, wandte Kluftinger ein.
»Ach, das ist ja interessant. Mit dir bespricht sie ihre Pläne? Klar, wir sind ja nur die Handlanger, da muss man nicht …«
»Ich ruf sie jetzt einfach mal an, vielleicht ist sie ja schon an ihrem Platz und wundert sich, wo wir alle sind«, unterbrach der Kommissar die Tirade seines Mitarbeiters. Er schnappte sich das Telefon auf der Mitte des Tisches, wählte Beers Büronummer und stellte auf Lautsprecher. Es tutete zweimal, dann knackte es in der Leitung, und Strobls Stimme erklang. »Lieber Anrufer, Sie haben die Nummer von Eugen Strobl bei der Kriminalpolizei Kempten gewählt. Ich bin unterwegs, Nachrichten nach dem Ton oder besser gleich einen der Kollegen anwählen.«
Entsetzt starrten sie das Telefon an. Keiner rührte sich, alle waren in Schockstarre. Eugen Strobl hatte wie aus einer anderen Welt zu ihnen gesprochen. Darauf waren sie nicht vorbereitet gewesen.
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und Luzia Beer stürmte herein: »Fuck! Sorry, Kollegen, mal wieder Vollsperre. Irgend so ein Idiot hat seinen Tankwagen quer gelegt und die B12 in ne Milchstraße verwandelt.« Ihr glockenhelles Lachen hallte von den kahlen Wänden wider. Die anderen blickten betreten vor sich hin. Als die junge Frau verstand, dass irgendetwas nicht stimmte, verstummte ihr Lachen, und sie fragte: »Wart ihr auf ner Beerdigung, oder was ist passiert?«
Diese Frage löste die Erstarrung ihrer Kollegen. Kluftinger räusperte sich und antwortete mit belegter Stimme: »Nein, nix passiert. Ich … muss nur mal bei der Haustechnik anrufen, dass die bei dem Anrufbeantworter im System was ändern.«
Maier erhob sich ruckartig und knallte seine Handflächen so laut auf die Tischfläche, dass alle zusammenzuckten. »Du willst den Eugen löschen lassen?«, zischte er wütend.
Hefele griff ihn an der Schulter und zog ihn wieder auf seinen Stuhl. »Jetzt komm, Richie, das ist ja nicht so, als würd der in den Telefonleitungen weiterleben. Der Eugen kommt nicht wieder. Aber die Lucy ist jetzt da. Wir müssen nach vorn schauen.«
Luzia Beer sah verwirrt von einem zum anderen. Sandy suchte ihren Blick und schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen: Besser jetzt nicht nachfragen.
In die Stille hinein ergriff der Kommissar wieder das Wort: »Apropos nach vorn schauen: Wie steht es denn mit unserer Arbeitshypothese Mord? Gibt’s da irgendwas Neues?«
Luzia Beer legte ihre Autoschlüssel, ihr Handy und eine Zigarettenschachtel auf den Tisch und setzte sich ebenfalls. Dann berichtete sie: »Das Alibi von Jansen wurde überprüft. Er kann nicht hier gewesen sein. Auch das für den Tag des Überfalls im Wald ist gecheckt. Er war da bei so ner überflüssigen Nato Tagung in Brüssel.«
Kluftinger nickte.
Sandy schob dem Kommissar ein paar Blätter hin. »Das hat der Böhm vorher noch geschickt.«
»Ah ja, danke.« Er überflog die Ausdrucke. »Also, hier steht noch mal, dass die Variante Mord eindeutig die wahrscheinlichste ist. Der Georg hat uns ja schon seine Ansichten bezüglich Schusskanal und so mitgeteilt. Jetzt hat er das noch mal mit den Datenbanken abgeglichen und … Moment … ja, bleibt bei seiner Einschätzung, weil die Häufigkeitsverteilung bei Selbstmorden mit Schusswaffen diesen Kugelverlauf eindeutig als singulär kennzeichnet.«
»Wir müssen jetzt endlich den Zweiten aus dem Wald finden«, konstatierte Hefele.
»Ich bin ja dran«, gab Maier gereizt zurück.
»War nicht gegen dich gerichtet, Richie. Ich mein nur, dass der die Schlüsselfigur in der ganzen Geschichte ist.«
Alle nickten.
»Gut, dann lasst uns mal an die Arbeit gehen«, forderte Kluftinger sie auf.
Sie erhoben sich und trotteten wortlos in ihre Büros. Kluftinger ließ sich in seinen Schreibtischstuhl fallen und starrte auf den ausgeschalteten Monitor. Er war noch immer wie paralysiert. Strobls Stimme zu hören, so klar und deutlich, so lebendig, als spaziere er jetzt gleich durch die Tür, hatte ihm mehr zugesetzt, als er sich hatte anmerken lassen.
Weil er keinen klaren Gedanken fassen konnte, begann er seinen Schreibtisch aufzuräumen. Hier hatte sich in den letzten Wochen einiges angesammelt. Zusätzlich zu dem Durcheinander, das hier sowieso immer herrschte. Er heftete die losen Blätter aus den Kruse-Akten wieder in die dazugehörigen Ordner ein, warf ein paar Notizzettel weg und hatte auf einmal die Kinderzeichnung in der Hand. Das Bild von dem Fettkloß, in dem so viele ihn erkannt haben wollten, und mit diesen tierähnlichen Gestalten. Plötzlich durchfuhr es den Kommissar. Ihm wurde heiß und kalt zugleich, und er musste sich setzen. Konnte das sein? War es so einfach?
Zitternd legte er die Zeichnung beiseite, stand auf, nahm sich die Fotoalben aus Hagens Wohnung und begann zu blättern. Irgendwo hier musste es sein: Hagen als Jugendlicher im Urlaub, beim Abschlussball und … da: bei einer Feier. Ein Schulfest vielleicht. Er stand neben der Band, das Bein von einer großen Bassbox versteckt, ein Bier in der Hand, und prostete ihnen zu. Die Band bestand aus vier Teenagern mit langen Haaren, sie trugen Schweißbänder und Nietengürtel. Auf dem Schlagzeug im Hintergrund stand ein Name: The Beasts. Zwei der Bandmitglieder erkannte der Kommissar sofort: Lederer junior, mit zwei Trommelschlegeln in der Hand, und Kreutzer, der eine E-Gitarre umhängen hatte. Aber es waren ihre T-Shirts, die Kluftingers Aufmerksamkeit erregten: Einer hatte eine Schlange aufgedruckt, darunter stand Snake. Das Shirt des Zweiten zeigte einen toten Käfer ohne Beine mit dem Schriftzug Torso, während auf Lederers Shirt die Aufschrift Scorpion mit dem dazu passenden Symbol prangte. Kreutzer trug eine Spinne. Spider, stand darunter.
Kluftinger atmete tief durch. Es gab keinen Zweifel. Oder doch? Das würde bedeuten, dass Lederer …
Er musste sichergehen. Fahrig hob er den Hörer ab und wählte Richard Maiers Nummer, wobei er peinlich genau darauf achtete, die letzte Ziffer nicht aus Versehen falsch zu drücken und wieder Strobls Ansage zu hören.
»Was gibt’s, Chef?«, meldete sich sein Kollege.
»Richie, kannst du mir aus diesen Sozialdingern Fotos von dem Kreutzer und dem Lederer ausdrucken?«
»Was für Sozialdinger denn?«
»Ja, dieses Facebuch und das ganze Zeug halt.«
»Ach so, klar, mach ich.«
Kluftinger schnappte sich seinen Janker und eilte aus dem Büro.