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Im Gegensatz zu vorher, als es dem Kommissar nicht schnell genug hatte gehen können, tat er nun alles, um hinauszuschieben, was ihm bevorstand. Von Sandy Henske wusste er, dass Kreutzer bereits im Verhörzimmer saß; die Kollegen warteten nur noch auf sein Zeichen, dann konnte es losgehen. Doch Kluftinger zögerte. Und er wusste genau, warum. Er hatte diese Situation schon einmal erlebt. Auch damals hatte ein Mann im Vernehmungsraum gesessen, und auch damals war er davon überzeugt gewesen, den Mörder von Karin Kruse verhaftet zu haben. Was dann passierte, war der schwarze Fleck auf seiner ansonsten relativ weißen Polizeiweste, der Fehler, für den er Jahrzehnte später einen hohen Preis hatte zahlen müssen.

Und jetzt? Kluftinger gestand es sich selbst nur ungern ein, aber er hatte Angst. Nicht davor, den Mann zu vernehmen. Nein, er hatte Angst, erneut einen Fehler zu begehen. Wieder ein Leben zu zerstören – mit unabsehbaren Folgen. Unvermittelt griff er zum Telefonhörer und wählte Renns Nummer. »Ich bin’s«, meldete er sich. »Habt ihr schon was wegen der Spur aus dem Wald? Irgendwelche Schuhe beim Kreutzer gefunden, die dazu passen?«

»Noch nicht, aber wir überprüfen die grad alle. Sobald wir einen Treffer haben, klingel ich durch. DNA dauert natürlich noch eine Weile.«

»Danke!« Kluftinger beendete das Gespräch. Nun fiel ihm wirklich nichts mehr ein, womit er die Befragung noch hinausschieben konnte. Doch er hatte noch eine Entscheidung zu treffen. Er grübelte eine ganze Weile, dann stand er plötzlich auf und lief entschlossen zum Verhörzimmer.


»Du willst was?« Hefele starrte Kluftinger ungläubig an.

»Ich will das Verhör nicht selber führen, sondern abgeben.« Der Kommissar war völlig ruhig, er wusste, dass er sich richtig entschieden hatte.

»Nach allem, was du wegen dem durchgemacht hast?« Hefele zeigte auf den Monitor, auf dem Klaus Kreutzer zu sehen war, der in dem nur mit einem Tisch und mehreren Stühlen ausgestatteten Raum saß und darauf wartete, dass die Prozedur begann.

Die Tür öffnete sich, und Maier kam herein, gefolgt von Luzia Beer. »Gott sei Dank, wir dachten schon, wir hätten was versäumt«, sagte Maier erleichtert.

»Allerdings habt ihr das«, entgegnete Hefele. »Stellt euch vor, der Chef …«

Kluftinger hob die Hand: »Ich möchte euch bitten, das zu übernehmen.«

Maier blickte verwirrt zu seiner Kollegin. »Was denn?«

»Das Verhör.«

»Dein …«

»Es ist nicht meins. Sondern seins.«

»Ich weiß auch nicht, was er hat«, kommentierte Hefele.

»Herr Kluftinger, sind Sie sich sicher, dass …«, begann Luzia Beer, doch ihr Vorgesetzter ließ sie nicht ausreden.

»Ja. So sicher wie schon lange nicht mehr. Ich habe vor vielen Jahren einen Fehler gemacht, weil ich zu eifrig war, zu versessen darauf, einen Erfolg zu erzielen. Das passiert mir nicht noch mal. Ich weiß, dass ihr das könnt. Lassen Sie sich nur nicht von Ihrem Ehrgeiz leiten, Lucy, so wie ich damals. Und du, Richie: Nutz deine psychologische Ausbildung. Roland, du …«

Diesmal war es Hefele, der ihn unterbrach: »Ich bleib hier mit dir und schau mir das an. Verhöre sind nicht so meins, wie ihr wisst. Ihr macht das schon.«

Sie nickten den beiden zu, und Luzia Beer verließ mit Maier den Raum.


Kluftinger hatte sich vorgenommen, das Verhör im Sitzen zu verfolgen, doch er schaffte es nicht. Dabei war es noch nicht einmal losgegangen. Zu nervös, zu angespannt war er, und so stand er nun hinter Hefele und starrte auf den Monitor. Richard Maier und Lucy Beer hatten das Zimmer betreten und ließen von Anfang an keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit aufkommen. Kreutzer bekam das auch mit, wie der Kommissar an seinem Verhalten bemerkte: Seine Blicke waren fahrig, immer wieder fasste er sich mit den Händen ins Gesicht oder fuhr sich durchs Haar. Als Erstes wollte er von den beiden Beamten wissen, wo denn Kluftinger sei, er wolle mit ihm sprechen, schließlich kenne man sich.

»Wer hier mit wem spricht, entscheiden wir, nicht Sie, das wäre ja noch schöner«, fuhr ihm Maier sofort in die Parade, dann setzten sich die beiden ihm gegenüber an den Tisch und starteten die Aufnahme.

»Vernehmung Klaus Kreutzer, wohnhaft in Altusried, durch KHK Richard Maier und …«

»Klufti, willst dich nicht lieber setzen?«, fragte Hefele, wahrscheinlich, weil es ihn selbst nervös machte, dass der nun hinter ihm auf und ab ging.

Doch der Kommissar winkte ab und verfolgte gespannt, wie Lucy Kreutzer nun direkt mit dem Verdacht konfrontierte, einer von zwei Tätern des Überfalls im Wald gewesen zu sein. »Geben Sie zu, dass Sie zur besagten Zeit im Wald bei Opprechts gewesen sind?«

»Ich … muss ich dazu Angaben machen?«

Die Tür öffnete sich, und ein uniformierter Beamter reichte den beiden einen Zettel herein. Maier las ihn und gab ihn an Luzia Beer weiter. Dann fuhr er fort: »Herr Kreutzer, Sie müssen hier gar nichts aussagen, was Sie möglicherweise belastet. Aber nur so als Tipp: Ich würd’s machen, wir haben schließlich eindeutige Beweise.«

»Von wegen Beweise!«, blaffte Kreutzer.

Kluftinger sah, dass Lucy ihn mit einem überlegenen Lächeln bedachte. Doch Maier übernahm: »Schweigen bringt Ihnen gar nichts, wir haben den Hundebiss, des Weiteren passt Ihr Schuhabdruck zu jenem, den wir am Tatort im Wald genommen haben.«

Kluftinger nickte, auch er hätte diese Information sofort gebracht.

»Und es gibt Zeugenaussagen, dass Sie dort oben im Wald waren und Hauptkommissar Kluftinger angegriffen haben.«

Kreutzer schloss kurz die Augen, massierte mit seinen Fingern die Nasenwurzel und sagte dann mit einem tiefen Seufzen: »Herrgott, ja, ich war dort. Und jetzt?«

Für einen Moment hielt Kluftinger den Atem an. Maier und Lucy warfen sich einen kurzen Blick zu.

»Schön. Und jetzt wüssten wir gern, warum Sie dort waren«, fragte sie.

»Weil ich einfach viel zu gutmütig bin. Darum«, blaffte Kreutzer.

»Ach ja?«, gab Maier scharf zurück, erhob sich und baute sich neben dem Befragten auf. »Nach Gutmütigkeit sah das im Wald allerdings nicht aus. Eher nach Kaltblütigkeit.«

»Vieles ist aber nicht so, wie es … vielleicht ausschaut.«

»So? Wie denn dann?«

»Wenn man mich mal aussprechen lassen würd, könnt ich’s erklären.«

Maier setzte sich wieder, und Kreutzer fing an zu erzählen: »Also, folgendermaßen: Ich war dem Paul Hagen einen Gefallen schuldig. Er hat mich gebeten, ach was, angebettelt, dass ich mit ihm komm, an diesem verdammten Tag vor ein paar Wochen. Er wollte nicht, dass rauskommt, was damals passiert ist mit der Kruse. Und als er die Anzeige gesehen hat, wo drinstand, dass der wahre Schuldige gefunden wird und so …« Kreutzer vollendete seinen Satz nicht.

»Nur fürs Verständnis: Ein alter Schulfreund kommt zu Ihnen und sagt, er braucht Hilfe dabei, einen Zeugen oder Mitwisser oder was weiß ich, was Sie gedacht haben, auszuschalten, also umzubringen. Und Sie sagen so mir nichts, dir nichts: Klar, wann soll’s losgehen, oder wie?«, hakte Lucy ein.

Kluftinger schaute gebannt auf Kreutzer.

»Ich hab ja versucht, ihm das alles auszureden, von Anfang an. Aber er war wie vernagelt.«

»Hat er Ihnen gegenüber den Mord an Karin Kruse zugegeben?«, fragte Maier.

»Zugegeben, was heißt zugegeben? Kann man sich doch an einer Hand abzählen, dass er das war.«

»Ach ja? Sie haben also nie explizit darüber gesprochen?«

»Ich wollt’s nicht wissen. Ich weiß nur, dass ich mit ihm mitgegangen bin, damit er nicht noch mehr Scheiß baut, verstehen Sie? Ich hab immer gesagt: Lass es, es hat keinen Sinn. Und ich hab ja auch verhindert, dass noch mehr passiert ist im Wald. Der Paul, der wollt kurzen Prozess machen mit eurem Chef. Und ich hab ihn gerettet!«

Kluftinger schnaubte. Für wie blöd hielt Kreutzer sie eigentlich? »Der lügt doch, dass sich die Balken biegen! Sowohl was den Hagen angeht, als auch, was ihn betrifft. Er war im Wald, wahrscheinlich mit dem Lederer. Und jetzt schiebt er’s auf den, den sie umgebracht haben.«

Hefele sah weiter gebannt auf den Monitor.

»Bleiben wir doch kurz bei Paul Hagen«, setzte Maier die Vernehmung in sachlichem Ton fort. Der Kommissar war beeindruckt, wie ruhig sein Kollege blieb. »Auch wenn Sie nie darüber gesprochen haben wollen: Seit wann war Ihnen denn klar, dass er Karin Kruse 1985 ans Kreuz gebunden und angezündet hat?«

Kreutzer wurde immer nervöser. »Gut so«, flüsterte Kluftinger.

Mehrmals hintereinander leckte der Befragte sich hektisch über die Lippen, sein Gesicht glänzte wegen der zahlreichen kleinen Schweißtröpfchen. »Das … na ja, das hab ich mir dann halt irgendwann so zusammengereimt.«

»Wann, hat Sie der Kollege gefragt?«, beharrte Lucy.

»Wann, wann … schwer zu sagen, wann. Ich bin doch kein Kalender.«

»Kann’s denn sein, dass es schon ziemlich lange her ist? Dass Sie vielleicht sogar dabei waren, als es passiert ist?«, insistierte die junge Polizistin.

»Klar war ich dabei, also, bei der … Sache im Wald, vor ein paar Wochen. Hab ich doch schon gesagt. Und nachdem es dann nicht hingehaun hat und die Ermittlungen weitergegangen sind, was er ja vom Hubse Lederer und mir erfahren hat, hat er sich umgebracht, der Paul.«

»Sie wissen genau, was meine Kollegin gemeint hat: Waren Sie beim Mord an Karin Kruse dabei? Vielleicht nur als Zeuge?«

»Dabei? Was soll denn der Schwachsinn? Ich mein, seht ihr das denn nicht: Der Hagen hat sich umgebracht! Weil er nicht in den Knast wollte für den Mord. Reicht euch das nicht als Geständnis? Wieso sollte er sich sonst eine Kugel in den Kopf schießen? Was wollt ihr bloß immer von mir? Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort, das war’s!«

Kreutzer wich aus, doch die Beamten ließen nicht locker. Kluftinger brauchte all seine Willenskraft, um nicht einfach ins Verhörzimmer zu stürmen und ihn so lange zu schütteln, bis irgendwann die Wahrheit aus ihm herauskommen würde. Er wollte nie mit Hagen über die Tat gesprochen haben? Dachte Kreutzer allen Ernstes, dass man ihm diese Geschichte abkaufen würde?

Maier stellte genau diese Frage: »Herr Kreutzer, Sie wollen uns tatsächlich erzählen, dass Sie und Ihr Schulfreund dieses Thema fünfunddreißig Jahre lang totgeschwiegen haben, um dann mit Hagen in den Wald zu gehen und die Strafverfolgung für ein Verbrechen zu vereiteln, von dem Sie nicht wussten, wie und ob er daran beteiligt ist? Das ist ja völlig absurd.«

»Das ist …« Er schien zu begreifen, wie unsinnig sich das alles anhörte. »Scheiße, dann erzähl ich’s halt, hat ja keinen Sinn so. Ich hab ja letztlich nix Schlimmes gemacht.«

»Das werden schon noch andere entscheiden«, zischte Kluftinger.

»Also? Wir sind ganz Ohr«, erklärte Maier mit einem einfühlsamen Lächeln und rückte das Mikrofon, das auf dem Tisch stand, ein paar Millimeter mehr zur Mitte.

»Okay, um genau zu sein: Ich weiß es seit dem Tag, an dem es passiert ist.«

Kluftinger nickte und setzte sich. Mal sehen, was Kreutzer ihnen nun für eine Version auftischen würde.

»Als ich dazukam, war die Lehrerin aber schon tot.« Er blickte Maier und Lucy aus großen Augen an. Erst als die Beamten nickten, fuhr er fort. »Der Paul, der hat sich mit ihr gestritten, und dann hat er sie geschlagen. Uns hat er immer erzählt, sie wär so blöd gefallen, hätte auf einmal nicht mehr reagiert. Was weiß denn ich, wie das genau war. Wie gesagt, es war ja alles schon vorbei, sie lag tot neben Hagen. Und da war alles voller Blut. So viel Blut …«

Lucy runzelte die Stirn. »Von viel Blut steht aber nix in den Akten.«

»Ist ja auch verbrannt. Das war an den Paletten, mit denen wir sie zum Kreuz getragen haben. Scheiße …« Eine Weile war Kreutzer wie weggetreten, sein Blick glasig, als sehe er nun alles wieder vor sich. Dann schluckte er und redete weiter. »Der Paul war natürlich total im Arsch. Der hat nur noch hysterisch gekreischt.«

»Waren Sie allein mit Hagen?« Lucy klang sachlich, was Kluftinger gefiel. Nicht einmal er konnte sagen, ob sie ihm die Geschichte nun glaubte oder nicht.

»Nein, wir sind doch alle dazugekommen, nicht bloß ich.«

»Aha. Wieder was Neues. Wer, bitte, sind alle?«

»Also, der Scorpion, der Soldier und ich eben.« Kreutzer machte eine Pause, offenbar rechnete er mit ihrer nächsten Frage.

»Das sind Lederer und Jansen?«

Er nickte. »Wir hatten natürlich coole Spitznamen für uns. Jansen hieß Soldier, wegen seines Vaters, Hubert war Scorpion und ich Spider, wie in der Band. So sagen immer noch viele zu mir. Ansonsten nennen wir uns nur untereinander so.«

Der Kommissar nickte. Das mit den Namen hatte ihn schließlich auf ihre Fährte gebracht.

»Und der Paul Hagen?«, wollte Maier wissen.

»War der Pauli.«

Lucy und Maier tauschten einen Blick, dann fuhr sie fort: »Warum waren Sie denn oben in Opprechts? Hatten Sie sich verabredet?«

»Ja, wir wollten einen kleinen Gegenfunken machen, oben am Kreuz, mit den ganzen Paletten und dem Holz, das beim Schuppen vom Mendler immer rumgelegen ist. Mit den Alten unten im Ort rumzuhängen war uns zu langweilig. Und wir haben ja auch gewusst, dass der Mendler Benzin im Schuppen hat und anderes Zeug, das gut brennt. Und immer ein, zwei Kästen Bier. Das Zeug haben wir vorher schon gesucht und hergerichtet, in den Stadel reinzukommen war ja gar kein Problem. In der Dämmerung hätt unser Feuerchen losgehen sollen.«

»Und Karin Kruse? Warum kam sie dort vorbei?«, hakte Maier ein. »Sie wollte doch sicher nicht bei diesem Blödsinn mitmachen? Oder kam sie, um Sie daran zu hindern.«

»Nein, Quatsch. Die ist zufällig vorbeigekommen. Der Hagen hat immer gesagt, wahrscheinlich, weil sie sich mit dem Mendler treffen wollt, oben im Schuppen.«

Kluftinger runzelte die Stirn. Er hätte an dieser Stelle eingehakt – was Lucy Beer im Nebenzimmer prompt tat.

»Wie meinen Sie das: Sie wollte sich mit ihm treffen?«

»Ja, verstehen Sie das denn immer noch nicht? Zum Bumsen, Herrgottzack! Der Paul, der war von Anfang an scharf auf die Kruse. Schon wie wir noch gar nicht wussten, dass sie unsere Lehrerin wird. Irgendwann, da hat er sie auch rumgekriegt. Sie hat ihm … Sie wissen schon. Von da an war der ihr verfallen. Hätt alles für sie gemacht. Bloß war ihr das irgendwann zu blöd. Weil sie, wahrscheinlich aus Mitleid oder so, mal mit ihm rumgemacht hat, wollt sie doch nicht ihren Job los sein. Immerhin war er ihr Schüler. Also hat sie alles ganz schnell wieder beendet und stattdessen mit dem Mendler rumgevögelt. Was das halbe Dorf gewusst hat, nur die gute Frau Mendler anscheinend nicht.«

Kluftinger sog scharf die Luft ein.

»Das hat dem Paul natürlich den Rest gegeben: Seine erste große Liebe, auf und davon mit einem anderen, älteren, verheirateten Mann. Was meinen Sie, wie eifersüchtig der war! Der ist denen hinterher und hat ihnen zugeschaut und so. Erst wollt er der Alten vom Mendler alles stecken, aber dann hat er sich mehr auf die Kruse konzentriert. Er hat ihr richtig nachgestellt und sich selber immer mehr reingesteigert. Na ja, bis zu diesem … Scheißtag, wo dann alles eskaliert ist.«

»Verstehe«, erklärte Maier ruhig. »Und dann haben Sie und die anderen drei fünfzehn- oder sechzehnjährigen Jungen eiskalt beschlossen, man müsste jetzt die Leiche der Lehrerin beseitigen, was natürlich am besten geht, wenn man sie mit Benzin übergießt und auf einem Scheiterhaufen verbrennt? Tut mir leid, aber das alles hört sich nicht plausibel an. Wenn ich mir Jungs in dem Alter vorstelle, denen so was passiert – dann seh ich bloß Panik und keine solche Abgebrühtheit.«

»Was Sie sehen, ist mir scheißegal. Weil es so war.«

»Ach ja? Was hat Sie denn damals zu so kaltblütigen Typen gemacht? Hatten Sie so viel kriminelle Energie?«

Kreutzer atmete tief ein. »Okay, ja, also … ganz allein waren wir nicht. Scheißegal, jetzt kann ich’s ja sagen: Wir haben Hilfe gekriegt. Auch durch Zufall.«

»Was soll das heißen?« Lucy Beer war verwirrt.

»Der alte Lederer, dem Hubse sein Vater, der ist vorbeigekommen. Er hat uns gesehen – und hat dann praktisch … so ein bisschen das Heft in die Hand genommen bei der ganzen Sache. Er hat sich hingekniet, ihren Puls kontrolliert, nachgeprüft, ob die Kruse tot ist. Und hat dann die Idee gehabt, dass wir im Schuppen das T-Shirt von ihr deponieren und alles so ausschauen lassen, als hätt der Mendler sie ans Kreuz gebunden und angezündet. Der Paul hat das Shirt dann da rein, der war eh für nix anderes mehr zu gebrauchen, so wie der gezittert hat.«

Hefele und Kluftinger tauschten einen erstaunten Blick. Das mit Lederers Vater war eine Wendung, die sie so bislang nicht auf dem Schirm gehabt hatten. Auch wenn man ihn nach über drei Jahrzehnten für die Verschleierung eines Kapitalverbrechens nicht mehr juristisch belangen konnte – sie mussten dringend mit dem Senior reden.

»Und Huberts Vater hatte auch die Idee mit dem Verbrennen?«

»Schon, glaub ich. Was weiß ich denn? Ich war bloß zur falschen Zeit am falschen Ort, hab ich doch schon gesagt!«

Sofort bemerkte Maier: »Na ja, Sie haben schon so viele verschiedene und widersprüchliche Geschichten erzählt, da kann man schnell mal den Überblick verlieren.«

Kreutzer schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Himmelarsch! Wär ich daheimgeblieben an dem Abend und hätt ein bissle ferngesehen, wär mir einiges erspart geblieben!«

Lucy packte nun gemächlich einen ihrer Kaugummis aus, schob ihn sich in den Mund, stand auf und ging um den Tisch herum. »So, das war ja eine rührende Geschichte von den armen Jungs, die ihrem Freund einfach nur aus der Scheiße geholfen haben und dadurch selbst zu Straftätern geworden sind. Welche kommt als Nächstes?«

»Nix kommt als Nächstes, wieso?«

Jetzt stand sie direkt hinter ihm. »Na, wer genau sagt uns, dass es wirklich so war, hm? Wer sagt uns, dass Sie nicht nach einem Sündenbock gesucht haben – und das war dann der Hagen? Wer sagt uns, dass nicht Sie Karin Kruse umgebracht haben und die anderen Ihnen geholfen haben, hm?«

Kluftinger sprang auf. Was die Polizistin eben gesagt hatte, stimmte natürlich, aber sie hätte es aus seiner Sicht so nicht formulieren dürfen. Denn die einzige Antwort, die es darauf gab, lautete: niemand. Schließlich war das die Schwachstelle, der Knackpunkt an der ganzen Sache: Wenn tatsächlich alle Genannten beteiligt waren und alle weiterhin dichthielten oder sich gegenseitig beschuldigten, wie sollten sie dann den wirklichen Täter je überführen?

»Niemand«, gab Kreutzer wie erwartet zurück und erhob sich.

»Hinsetzen, sofort!«, zischte Lucy Beer und drückte den Mann ohne große Anstrengung zurück auf seinen Stuhl. »Sonst lassen wir Ihnen ruckzuck Hand- und Fußfesseln anlegen, klar?«

Kreutzer schluckte. Er wirkte eingeschüchtert. »Okay, okay. Ganz ruhig. Also, wie oft soll ich es euch denn noch sagen: Meint ihr wirklich, der Hagen hat sich zum Spaß erschossen, hm? Wieso reicht euch das nicht? Und vor allem: Wieso wollt ihr ausgerechnet mir was anhängen? Nur weil ich einem Freund aus der Patsche geholfen hab, gottverdammter Scheißdreck? Ich mein, das können ja auch andere bestätigen, dass es so war, wie ich es grad gesagt hab. Der Hubert, sein Vater, der Gernot. Fragt halt die einfach auch mal, und macht nicht immer mir die Hölle heiß!«

»Klar, weil Sie sich mit denen auf Ihre kleine Story hier geeinigt haben«, zischte Lucy.

Maier fuhr deutlich ruhiger fort: »Um das klarzustellen: Wir wollen Ihnen nichts anhängen, Herr Kreutzer. Und Sie haben völlig recht: Ein Selbstmord von Hagen, das wäre für uns schon ein ziemlich deutlicher Hinweis auf seine Schuld.«

»Sehen Sie? Was wollen Sie denn dann von mir?«

Maier lächelte. »Nein, Herr Kreutzer, Sie müssen schon genau hinhören, bitte: Ich sagte, es wäre ein Hinweis. Wenn es ein Selbstmord gewesen wäre. War es aber nicht.«

»Was?«

»Paul Hagen wurde erschossen. Es sollte nur aussehen wie ein Selbstmord. Wir sollten an die tragische Geschichte vom Suizid als spätem Schuldeingeständnis glauben. Nicht ganz schlecht gedacht, aber mies ausgeführt von Ihnen, Herr Kreutzer. Zumindest nicht gut genug für uns.«

»Wie jetzt: von mir?«

Kluftinger entging nicht, dass der Vernommene immer wortkarger wurde. Ein weiteres Zeichen für seine wachsende Anspannung.

Luzia Beer sagte in einem Tonfall, als spräche sie mit einem begriffsstutzigen Kind: »Herr Kreutzer, wer soll’s denn sonst gewesen sein, der den Hagen ausgeschaltet hat, hm?« Dann wurde sie auf einmal laut: »Sie tischen uns hier eine Lüge nach der anderen auf, und wir sollen Ihnen die ganzen Storys abkaufen?«

»Was heißt da Lügen?«

»Zum Beispiel wissen wir, dass nicht etwa Sie und Paul Hagen im Wald waren und unseren Chef angegriffen haben«, antwortete Maier, »sondern dass Sie Hubert Lederer dabeihatten.«

Kreutzer zuckte zusammen. Kluftinger hätte ihm diese Erkenntnis gern selbst entgegengeschmettert, schließlich hatte er es gerade erst mithilfe der Kinder herausgefunden – aber er war andererseits auch beruhigt, weil er sah, wie gut Maier und Lucy Beer sich im Gespräch mittlerweile ergänzten. Sie ließen ihrem Gegenüber keine Atempause, umkreisten ihn, versetzten ihm kleine Nadelstiche und nahmen ihn verbal in die Mangel.

»So, und falls gleich Fragen kommen«, legte Lucy nach, »verlassen Sie sich drauf, wir werden Ihnen nachweisen, dass Sie Hagen auf dem Gewissen haben. Und Lederer hat Ihnen geholfen.«

»Was wollen Sie mir denn noch alles in die Schuhe schieben? Ich hab Ihnen doch jetzt alles gesagt! Zum Beispiel, dass ich mitgeholfen hab, die tote Lehrerin zu beseitigen.«

Offensichtlich wollte Kreutzer vom eigentlichen Thema ablenken. Die beiden Beamten sahen den Mann an und warteten, bis er von sich aus weitersprach.

»Das war auch von uns nicht okay, damals, seh ich ja ein. Wir hätten alles der Polizei sagen sollen. Aber wir waren doch noch Buben. Egal, es war eben, wie es war. Das ist alles längst verjährt. Und ich hab gesagt, dass ich im Wald war, aber auch da hab ich nichts Schlimmes gemacht, sondern im Gegenteil Schlimmeres verhindert. Aber bitte, dann hängen Sie mir halt ne Körperverletzung an. Dass ich aber den Paul ermordet hätte … also, was ich nicht war, können Sie mir auch nicht nachweisen. Und dafür kann mich auch niemand verurteilen. Basta.«

Maier schüttelte den Kopf. »An Ihrer Stelle würde ich jetzt mal mit der ganzen Wahrheit rauskommen, was die Rolle von Lederer angeht. Sie reiten sich selber doch immer mehr rein. Sie haben zwar ein beeindruckendes Zutrauen in unseren Rechtsstaat, aber Sie wissen schon, dass es in dem Fall bereits zuvor einen Justizirrtum gab?«

»Justizirrtum?«, blaffte Kreutzer. »Ich denke, das war eher ein krasser Ermittlungsfehler von euch Polizisten, vor allem von eurem Chef!«

»Stimmt leider«, murmelte Kluftinger.

Kreutzer hatte sich im Nebenzimmer mittlerweile so in Rage geredet, dass er die Worte regelrecht ausspie. Er wischte sich über den Mund und hieb mit der Faust auf den Tisch. »Schließlich seid ihr auf die Finte von uns Bauernbuben reingefallen und habt die Geschichte vom Mendler geglaubt, der sich heimlich mit der Kruse getroffen hat, oben in der Scheune. Bloß weil wir ein T-Shirt da reingelegt haben. Schön blöd, ganz ehrlich!«

»Ganz ruhig, Kreutzer, ganz ruhig, ja?«, mahnte ihn Lucy Beer. »Regen Sie sich nicht so auf. Und hören Sie auf, uns zu verarschen. Wir werden aus Hagens Wohnung und seiner Terrasse jede Menge Spuren von Ihnen haben, wenn unser Labor mit der Auswertung fertig ist. Haare, Hautschuppen, Ihre abgelatschten Schuhe. Verlassen Sie sich drauf: Wenn Sie bei Hagen in Hegge waren, dann finden wir was – und dann sind Sie auch noch wegen Mordes an Ihrem ehemaligen Kumpel dran.«

»Moment, Moment! So läuft das hier nicht! Bloß weil ich da vielleicht mal war, heißt das ja nix.«

Maier witterte sofort seine Chance: »Ach ja? Irgendwann? Hagen wurde aber zufälligerweise mit der Dienstwaffe unseres Kommissariatsleiters erschossen, derer Sie sich im Wald zuvor bemächtigt haben.«

»Derer ich mich … Herrgott, redet ihr alle so geschwollen daher? Bemächtigt. Ich …«

Auf einmal hielt er inne. Er schien mit sich zu ringen. Die Beamten warteten ab. Sie hatten ihn genau da, wo sie ihn haben wollten. Schließlich hatte es den Anschein, als hätte er eine Entscheidung getroffen. »Fuck, fuck, fuck! Okay, Ja, ich war mit dem Hubse Lederer im Wald und nicht mit dem Hagen. Der Hubse hat die beschissene Pistole gehabt, nicht ich.«

»Okay, dann also jetzt die ganz, ganz arg wahre Geschichte zum Überfall im Wald, oder wie?«, fragte Lucy.

Kleinlaut fuhr Kreutzer fort: »Die Wahrheit hab ich euch eigentlich fast schon erzählt. Ersetzt einfach Paul Hagen durch Hubert Lederer. Alles andere stimmt.«

»Moment«, wandte Maier ein, »Sie sagen also, Lederer hatte Sie darum gebeten, ihn in den Wald zu begleiten?«

Kreutzer schwieg, was Maier als Bestätigung auffasste. »Und er wollte das, weil er damals die Kruse umgebracht hat? Weil Sie nicht Hagen, sondern ihn mit der toten Frau vorgefunden haben, als Sie mit den anderen beim Kreuz in Opprechts ankamen? Wollen Sie das sagen? Alles, was Sie uns über Hagen sagten, soll jetzt auf Lederer zutreffen?«

»Scheiße, fragen Sie ihn doch selber. Ich sag jedenfalls nix mehr.«

»Das werden wir, verlassen Sie sich drauf.«

Lucy Beer gab sich noch nicht geschlagen: »Eins noch: Wann kam euch beiden, Lederer und Ihnen, die Idee, Hagen umzubringen und es wie Selbstmord aussehen zu lassen, um von euch als Frauenmörder und Polizistenentführer abzulenken?«

»Was heißt da Idee? Lederer soll’s euch selber sagen, verdammt! Los, fragt ihn doch! Soll ich ihn anrufen, dass er herkommt?«

»Klar. Vielleicht möchten Sie ihm dann gleich noch eine SMS schreiben, welche von den zahllosen Varianten des immer selben Märchens, die Sie uns aufgetischt haben, gerade gilt?«, flötete Maier süßlich, dann zischte er Kreutzer ein »Verhör beendet« entgegen und ließ ihn von den beiden uniformierten Beamten der Schutzpolizei, die auf dem Korridor gewartet hatten, abführen.

Kluftinger lief auf den Gang und rief den Polizisten und ihrem Gefangenen hinterher: »Ach ja, Kollegen, untersucht ihn bitte ordentlich, nicht dass er doch noch irgendwo ein Handy stecken hat, mit dem er seinen Kumpel erreichen kann, gell?« Auch wenn er wusste, dass sie das sicher schon längst getan hatten, sollte Kreutzer mitbekommen, dass er alles mit angehört hatte.

Der warf dem Kommissar über die Schulter einen bitterbösen Blick zu, dann spuckte er aus.

Erleichtert folgte der Kommissar Hefele in den Vernehmungsraum, in dem Maier eben die Fenster öffnete.

»Respekt, Kollegen«, sagte Kluftinger, als er eintrat. »Tolle Gesprächsführung, gute Teamleistung, super Ergebnis.«

»Das Kompliment kann ich nur weitergeben. Die Lucy und ich, wir haben richtig gut harmoniert.«

Die Polizistin grinste. »Na ja, Sie waren auch nicht ganz schlecht, Kollege Maier.«

»Das mit dem Sie sparen wir uns in Zukunft. Ich bin der Richard.« Damit ging er auf sie zu und reichte ihr die Hand.

»Richard? Darf ich nicht vielleicht auch Richie sagen wie alle anderen? Dann müssen Sie … dann musst du dir auch nicht einen an der Luzia abbrechen, sondern kannst mich Lucy nennen.« Sie zwinkerte dem Kollegen zu.

»Na ja, das ist vielleicht noch zu …« Maier hielt inne und blickte die Kollegen an, die ihm zunickten. »Sicher, ich hab nix dagegen«, sagte er schließlich. An Kluftinger gewandt ergänzte er: »War absolut die richtige Entscheidung, uns beide das machen zu lassen, Chef. Mit dir wär das vielleicht nicht ganz so glatt verlaufen wie mit der Lucy.«

Kluftinger atmete tief durch und klopfte seinem Kollegen auf die Schulter. »Du findest einfach immer die richtigen Worte, Richie.«