B eschwörend starrte ich auf mein Smartphone, in der Hoffnung allein mit der Kraft meiner Gedanken eine Nachricht von Callisto oder Lucifer zu erhalten. Heute Mittag hatte es das letzte Lebenszeichen in Form eines mysteriösen Fotos gegeben, das Callisto dabei zeigte, wie sie Babykleidung durchwühlte. Danach war es verdächtig still geworden. An und für sich kein Problem – hätten wir nicht bereits mitten in der Nacht. Hinzu kam auch noch, dass Luca seit dem Abend ebenfalls als verschollen galt. Weder antwortete er auf Nachrichten, noch auf Anrufe.
All diese Fakten malten ein Bild, das mir nicht gefiel. Ganz und gar nicht gefiel, wenn ich mir die aktuelle Lage ins Gedächtnis rief.
Eigentlich war es ein unausgesprochenes Versprechen, die Trackingfunktion von Callistos Armband nur zu nutzen, wenn es auch absolut notwendig war, doch wann war der Punkt erreicht, an dem es sich rechtfertigen ließ? Musste ich bis in die Morgenstunden warten? Riss mir Lucifer den Kopf ab, wenn ich ihre Position jetzt ermittelte, um mein eigenes Gewissen zu beruhigen?
Er hatte uns allen erklärt, was wir tun mussten, um Zugriff auf den Ortungsdienst zu erlangen. Nur wenige Klicks, und das Programm pingte Callistos Standort bis auf wenige Meter genau.
Wenn es sich um ein Hotel handelte, würde ich die Anwendung wieder schließen und ins Bett gehen. Aber in der Sekunde, in der es etwas anderes war, das mein mulmiges Bauchgefühl bestätigte …
Ich verdrehte die Augen. Für gewöhnlich hatte ich kein Problem damit, gegen Regeln zu verstoßen. Doch die Tatsache, dass Callisto mir spielend leicht den Arsch aufreißen konnte, wenn ihr der Sinn danach stand, ließ mich ein wenig vorsichtiger werden.
Trotzdem öffnete ich das Programm nun, sah dabei zu, wie es sich mit den Servern verband und gab anschließend Benutzername sowie Passwort ein.
Die Karte von Sizilien tauchte auf, bevor sich ein kleiner, roter Punkt darüber bewegte. Der Verlauf der letzten zwölf Stunden tauchte auf, angefangen mit der Villa, in der ich mich gerade befand. Dann der Weg zu einem Einkaufszentrum, wo Callisto sich mehrere Stunden aufgehalten hatte. Aber von dort war sie bereits am frühen Abend wieder verschwunden. Und zwar geradewegs zu einer Lagerhalle … noch dazu eine, deren Adresse mir ziemlich bekannt vorkam.
Das war’s. Das reichte als Grund, um Alarm zu schlagen. Ich sandte mir die Daten aufs Smartphone, knallte den Laptop zu und öffnete den Gruppenchat, bevor ich mich daran erinnerte, dass Callisto sowie Lucifer sich vermutlich in den Fängen des Feindes befanden und erstellte einen neuen. Gianni, Luca und ich.
Keine fünf Sekunden nachdem ich meine Vermutung geteilt hatte, antwortete Gianni bereits, dass er mich unten treffen würde.
Also machte ich mich auf den Weg, gedanklich vermerkend, dass wir Romero ebenfalls in Kenntnis setzen mussten, wenn auch nur, damit er Nerezza in Sicherheit bringen konnte, solange dieses Spiel noch andauerte.
Ich stellte mir nicht erst die Frage, wer Callisto aus ihrem Alltag gerissen hatte, wo es doch so eindeutig auf der Hand lag. Den Grund musste ich mir ebenfalls nicht ausdenken. Morgen stünde eigentlich die Hochzeit an, heute verschwand sie plötzlich spurlos? Zumindest wiegte der Alte sich in dem Wissen, hatte er ja offensichtlich keinen blassen Schimmer, dass wir bestens über Callistos Standort informiert waren.
Gianni traf mich in der Küche, bereits einen grimmigen Ausdruck auf dem Gesicht. »Eigentlich stellt sich auch nur eine Frage: Wie gehen wir vor?«
»Wir brauchen eine Bestätigung unserer Vermutung. Das ist Schritt Nummer eins«, erwiderte er, als hätte Gianni sich auf dem Weg nach unten bereits alle nötigen Gedanken gemacht.
»Warum stürmen wir die Halle nicht einfach und stellen die Fragen im Anschluss?«
»Weil wir einen Plan hatten, der gerade den Bach runter geht. Wenn wir uns einen Fehler erlauben, haben wir nicht nur ein Problem. Deshalb.«
»Und warum steht er noch nicht vor der Tür? Wenn er es weiß …«
Gianni hob die Schultern. »Wir wissen nicht, was er weiß. Er könnte sie auch lediglich mit Lucifer gesehen und angenommen haben, dass sie morgen nicht die Entscheidung trifft, die er ihr abverlangt.«
»Und bringt sie dann in die Lagerhalle, vor der sein Sohn gestorben wäre, hätte Nerezza nicht die Kugel für ihn kassiert?«
Francescos Methodik war bestenfalls interessant, aber sicherlich trug sie keine Früchte. Weder bei Callisto noch bei Romero, der sich infolgedessen gänzlich von seinem Vater abgewandt hatte.
Meine Aussage ließ Gianni die Arme verschränken. »Die ganze Angelegenheit gibt mir ein sehr ungutes Gefühl. Lass uns rausfinden, was da vor sich geht, bevor wir tatsächlich dazu gezwungen sind, etwas zu tun.«
Daran führte in meinen Augen kein Weg vorbei. Es war lediglich offen, welche Art von Handlung notwendig war. Brauchte Callisto nur jemanden, der sie dort abholte? Oder war es klüger, bis an die Zähne bewaffnet aufzutauchen und alles niederzumetzeln, was sich uns in den Weg stellte?
»Hast du in Betracht gezogen, dass Francesco von unserem Vorhaben Wind bekommen haben könnte?«, wollte Gianni wissen. Offensichtlich traute er sich gerade nicht, die Mutmaßungen beim Namen zu nennen, die ich vor wenigen Sekunden auch erst in den Raum gestellt hatte.
»Wenn er wüsste, dass wir gemeinsam mit Romero an seinem Untergang arbeiten, wäre es doch sehr wahrscheinlich, uns alle sofort zu überfallen … außer er benutzt Callisto als Lockvogel. Allerdings macht es dann wiederum keinen Sinn, uns nicht darüber zu informieren, dass er sie entführt hat.«
»Und was, wenn wir falschliegen und es sich nur um ein Spiel zwischen Lucifer und Callisto handelt? Es wäre nicht das erste Mal …« All diese Möglichkeiten schienen Giannis kluges Gehirn ein wenig zu überfordern. Vielleicht war es auch die Uhrzeit, die ihn strapazierte, doch für den Moment wirkte es fast, als wäre er verloren zwischen all den Möglichkeiten.
»Willst du abwarten? Bis zum Morgengrauen?«, fragte ich also, obwohl mir der Gedanke nicht behagte. Ganz und gar nicht sogar, wenn ich es genau nahm.
Das waren einige wertvolle Stunden an Zeit, die uns verloren gingen, falls Callisto sich wirklich in Gefahr befand.
Schließlich neigte Gianni den Kopf. Eine der dunkelblonden Locken rutschte ihm in die Augen. »Nein. Lass uns … die Lage auskundschaften, bevor wir eine Entscheidung fällen. Möglicherweise meldet sich Luca bis dahin auch.«
»Und falls sich mein Verdacht bestätigt, informieren wir Romero. Umgehend.« Ich konnte zwar nicht behaupten, dass das meiner üblichen Vorgehensweise entsprach, doch vielleicht musste ich mich allmählich damit anfreunden, dass wir die Dinge jetzt wie in einer Demokratie regelten, anstatt nach dem zu gehen, was ein Einzelner vorgab. Wenn ich dort ankam, und meine egoistische Seite dann immer noch vonnöten war, konnte ich ganz einfach umswitchen – und die Hölle auf Erden entfesseln. Doch bis dahin …