KAPITEL 5

DOMENICO

N ichts war gut. Absolut nichts.

Einen Teil dessen, was ich auf meinem kleinen Spährundgang gesehen hatte, behielt ich absichtlich für mich. Mir war durchaus bewusst, wie wichtig es war, einen kühlen Kopf zu bewahren und ich fürchtete, vollkommen die Kontrolle zu verlieren, wenn ich die Vermutungen aussprach, die sich tief in mir herauskristallisiert hatten.

Kein Mensch brauchte derart viele gekaufte Wachen, um nur Gespräche zu führen. Außerdem wusste ich um die Vorsichtsmaßnahmen, die man traf, wenn man jemanden verhören wollte. Ein simples Verhör war dabei wohl noch untertrieben, denn wenn ich auf mein Bauchgefühl hörte, geschahen da drinnen ganz andere Dinge.

Der Gedanke allein sorgte für ein flaues Gefühl in meinem Magen, das nicht besser wurde, je mehr ich mich selbst damit konfrontierte, dass Callisto sich in den Fängen ihres Vaters befand und ich mich noch mit Formalitäten aufhalten musste. Normalerweise hätte ich mir eine Sporttasche voller Waffen geschnappt, meine Cousins eingeladen und den Laden in Stücke gerissen, um Callisto zurück nach Hause zu bringen.

Mein erstes Gefühl war richtig gewesen. Sie war nicht aus irgendwelchen persönlichen Gründen ferngeblieben. Sie hatte nicht beschlossen, sich am Abend vor der Hochzeit heillos volllaufen zu lassen. Nein, ihr Vater hatte sie sich geschnappt – oder schnappen lassen – und war zu seinem ursprünglichen Plan zurückgekehrt.

Ob er es nun tat, weil er wusste, dass wir ihn seines Amtes entheben wollten, oder weil er schlichtweg ein Arschloch war, spielte dabei fast keine Rolle. Hätte ich nicht gewusst, zu was er in der Lage war, wenn er sich in eine Ecke gedrängt sah. Oder glaubte, Unrecht angetan zu bekommen.

Callisto feierte da drinnen keinen Junggesellinnenabschied. Nein. Mit großer Wahrscheinlichkeit fand sie sich in einer ähnlichen Position wie ihre letzten beiden Folteropfer wieder.

In meiner Wange zuckte ein Muskel, sodass ich die Hände automatisch fester ums Lenkrad schloss. Ich war froh darüber, dass Gianni den Mund hielt. Das bedeutete, ich konnte ungestört in Gedanken schwelgen und mir all das ausmalen, was ich mir eigentlich nicht ausmalen wollte … weil es bedeutete, dass Callisto sich gerade in einer misslichen Situation befand.

Francesco hatte versucht, seine Tochter töten zu lassen. Was für Gründe gäbe es für ihn jetzt also, sich in Zurückhaltung zu üben? Nicht einen, ganz genau. Immer fester biss ich die Zähne aufeinander, sodass ich irgendwann meinen Kiefer knacken hörte.

Zu Beginn meiner Recherche hatte meine Drohung noch Wenn er ihr auch nur ein Haar krümmt gelautet. Jetzt änderte ich sie ab. Wenn er sie tötet  …

Sobald ich den Wagen in die Auffahrt lenkte, begrüßte uns die hell erleuchtete Villa. Kein Winkel des Gartens lag mehr in Dunkelheit. Eine Vorsichtsmaßnahme … der Feind konnte sich nicht anschleichen, wenn er auf diesem Grundstück keinen Schutz in der pechschwarzen Nacht fand.

Romero riss die Haustür auf, sobald der Motor des Wagens erstarb. Zwischen seinen Augenbrauen hatte sich eine tiefe Falte gebildet, die ich bereits von Callisto kannte.

Wie er sich gerade fühlen musste, mit dem Wissen, dass seine Zwillingsschwester in Gefahr schwebte? Ich wusste immerhin, was es mit mir machte, wenn meine Cousins, mit denen ich wie unter Geschwistern aufgewachsen war, in Schwierigkeiten steckten.

Ich stieg aus.

»Und du bist dir ganz sicher?«

»Zu einhundert Prozent«, bestätigte ich. »Wo steckt Luca?«

»Er ist nicht bei euch?« Romeros Blick fiel auf das Auto, aus welchem ansonsten nur Gianni stieg.

»Nein. Und er reagiert auch nicht auf unsere Nachrichten.«

Romero verzog angesichts meiner Enthüllung das Gesicht. Es würde nicht die einzige diese Nacht bleiben. »Lass uns drinnen ein paar Details besprechen. Schnell.«

Am liebsten wäre ich bereits wieder auf dem Weg zur Lagerhalle, um dort alles aufzumischen. Aber dazu brauchte ich Waffen. Und Unterstützung. Beides würde ich hier bekommen.

Wir verlagerten die Versammlung nach drinnen. Von Nerezza fehlte jede Spur, was mich ein wenig irritierte. Romero schien mir die Frage vom Gesicht abzulesen.

»Ich hab sie nach unten in den Keller geschickt. In den renovierten Teil, nicht den, den du zum Spielen benutzt hast. Dort kommt keiner rein, der nicht die Befugnis hat. Und selbst wenn das Haus um den Keller herum komplett abbrennt, ist sie in Sicherheit.«

Ein Teil von mir wünschte sich, dass Callisto sich heute Mittag dort drinnen befunden hätte. Dann wäre sie jetzt nicht ihrem Vater ausgesetzt.

»Du bleibst also hier?«

»Ich suche jedenfalls nicht das Weite. Auch wenn dein Onkel mich bereits angerufen hat, um mir einen Unterschlupf anzubieten. Du hast ihn nicht zufällig über die aktuelle Lage informiert?«

»Direkt, nachdem ich die Situation in Augenschein genommen hatte. Ich brauchte seine Erlaubnis, um gewisse Sachen in die Wege zu leiten.«

Romero nickte. Als wäre das selbstverständlich. Eigentlich hatte ich etwas anderes von ihm erwartet, aber anscheinend stellte er nicht einmal jetzt Ansprüche an seinen alten Posten als Underboss.

»Und was brauchst du von mir?« Unsere Blicke begegneten sich.

Mit Sicherheit würde ich ihn nicht darum bitten, sich mir bei der Rettung seiner Schwester anzuschließen. Nach allem, was er aufgrund seines Vaters mit Nerezza bereits durchgemacht hatte, war es mehr als verständlich, dass er sich zurückhielt und jemand anderem das Schlachtfeld überließ.

»Waffen. Männer und ein wenig Rückendeckung, was die unmittelbaren Nachwirkungen angeht. Dein Vater hat sich Wachmänner gekauft. Die hatte er vor wenigen Tagen noch nicht, weil beim Angriff durch die Leute meines Onkels alle Enforcer und Angestellten draufgegangen sind.« Francesco mochte versucht haben, das zu überspielen, aber letztendlich war uns diese Sachlage nicht entgangen.

»Hast du Callisto dort gesehen?«

»Nein. Aber wir haben ihr Armband geortet und ich erkenne gewisse Muster, wenn ich sie sehe. Ich hoffe das Beste, aber …«

»Aber du willst es besser nicht zu rosig sehen, schon verstanden«, erwiderte Romero. Die Sorgen, die in seinen Augen tanzten, bezogen sich nicht nur auf seine Frau. Ich wusste, wie nahe er seiner Schwester eigentlich stand – und dementsprechend musste diese Nacht auf mehreren Ebenen belastend für ihn sein.

»Ich kann dir konstante Updates übermitteln. Verbindung über einen sicheren Kanal. Dann weißt du, was vor sich geht.«

Er nickte knapp. »Aber warum jetzt? Meinst du, er weiß…«

»Dann wäre er hier eingefallen und hätte sich wohl nicht Callisto geschnappt, deren Name in dieser ganzen Angelegenheit abseits von der Hochzeit bisher nicht aufgetaucht ist.« Zumindest blieb das weiterhin meine Mutmaßung. Wie Romero seinen Vater dahingehend einschätzte, ließ sich für mich schwer sagen.

»Mir gefällt das Gesamtbild nicht.« Mit einem Kopfnicken bedeutete Romero mir, dass ich ihm folgen sollte. Vom Foyer wechselten wir in sein Büro, und während die Stille sich zwischen uns in die Länge zog, ging er geradewegs auf seinen Waffenschrank zu und entriegelte ihn mit seinem Fingerabdruck.

Ein beachtliches Sortiment an Waffen kam zum Vorschein, darunter auch eine Panzerfaust – sicherlich Überbleibsel aus seinen Tagen als Underboss. Er trat beiseite und gab den Blick weiter für mich frei. »Gehört alles dir, de Archard. Bring mir nur meine Schwester lebend und an einem Stück wieder nach Hause.«

Ich schluckte. Hart. Wenn ich ihm dieses Versprechen nun gab … »Ich schwöre es. Beim Leben meiner Eltern.«

»Na ob die darüber so begeistert sind?«

»Frag sie, wenn ich sie zur Hochzeit einlade«, murmelte ich, bevor ich an den Waffenschrank herantrat.

Romero reichte mir unterdessen eine schwarze Sporttasche. »Außerdem unterstelle ich dir alle Männer, die ich entbehren kann. Was ist mit Gianni?«

Der war irgendwo zwischen Wagen und Romeros Büro verloren gegangen, das aber sicherlich nicht ohne Grund. Er mochte ein schlaues Köpfchen sein, aber mit Sicherheit hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht einen Mann getötet – oder nur den einen, der nötig war, um zum Made Man aufzusteigen, eine dieser veralteten Traditionen, die sie hier auf Sizilien sicher noch zelebrierten. Genauso wie arrangierte Ehen.

»Ist zu meinem Partner in Crime aufgestiegen. Keine Ahnung, ob es eine gute Idee ist, aber Lucas Abwesenheit zwingt mich dazu, mich auf ihn zu verlassen.« Romeros Männer waren sicher nicht schlecht. Sie würden auf das hören, was ich ihnen befahl. Aber keiner von ihnen verdiente blindes Vertrauen wie ein Mann, mit dem ich einen Pakt hatte, mir die eine Frau unseres Lebens zu teilen.

Diese Bindung ging, trotz seiner mangelnden Fähigkeiten, die sicher nicht auf einer Höhe mit meinen waren, einfach sehr viel tiefer. Ihm vertraute ich, wenn es darum ging, mir den Rücken freizuhalten. Einem Haufen fremder Männer sicher nicht.

»Und dein Plan?«

Ich hob die Schultern. »Vielleicht lege ich ihm eine Handgranate auf die Willkommensmatte, klopfe und sehe mir an, wie die ersten Mistkerle pulverisiert werden. So ein altmodischer Blutregen klingt doch ganz verlockend. Anschließend räume ich auf. Und je nachdem, was ich vorfinde …«

»Beschwörst du die Hölle herauf?«

»Das ist wohl eher Lucifers Expertise. Aber ja. Ich fürchte, heute Nacht wird der Umbruch stattfinden, den diese Insel dringend nötig hat.« Francesco würde sterben, ein neuer Capo aufsteigen und morgen früh hatte die Insel einen Krieg hinter sich gebracht, der die Revolution beendete. »Ach ja, Oscuro. Bevor ich es vergesse.«

»Was?«

»Wenn du eine gewisse Zeit lang nichts von uns hörst oder die Scheiße zu dampfen beginnt … rufst du meinen Onkel an, verstanden?«

»Damit er dir den Arsch rettet?«

Ich schnaubte. »Damit er deinem Vater den Arsch aufreißt. Ich bin nicht so dumm zu glauben, dass ich aus Angelegenheiten wie dieser immer als Gewinner hervorgehe. Das Gen hat mein Vater anscheinend nicht an mich weitervererbt. Und wenn sich jemand zu meiner Rettung oder der Bergung meines Leichnams aufmacht, wäre ich beruhigter, wenn es mein Onkel wäre.«

Romero sah mich intensiv an. Für ihn schien es keinen Sinn zu ergeben, dass ich mich derart auf meine Familie verließ. »Beantworte mir nur noch eine Frage.«

Mit einer Handbewegung bedeutete ich ihm, dass er fortfahren sollte.

»Wie steht Callisto gerade zu euch?«

Das war tatsächlich nicht die Frage, die ich erwartet hatte, aber nichtsdestotrotz eine gute. Was sollte ich ihm sagen? Dass sie drauf und dran war, einen Hattrick durchzuziehen? Sollte ich mich aus dem Fenster lehnen, und ihm einen Teil der Wahrheit offenbaren?

»Ich schätze gut genug, dass sie uns nicht den Arsch aufreißen wird, wenn das alles vorbei ist. Außer vielleicht Luca.« Beiläufig checkte ich mein Smartphone, nachdem ich die Tasche bereits randvoll mit dem Inhalt aus Romeros Waffenschrank gefüllt hatte. Einzig für die Panzerfaust war kein Platz – wobei ich ehrlich bezweifelte, dass Francesco derartige Geschütze aus dem Ärmel zaubern würde. »Luca hat sich nämlich noch immer nicht gerührt. Vielleicht sollten wir ihm einen GPS-Tracker unterjubeln.«

Möglicherweise war es an der Zeit, ihn für seine Abwesenheiten Rede und Antwort stehen zu lassen. Anschließend. Nachdem er all den Spaß verpasst hatte.

Ob ich erneut Zeuge werden würde, wie Callisto ihm die Faust ins Gesicht donnerte? Das letzte Mal fühlte sich an, als wäre es Jahrzehnte her.

»Ich werde weiter versuchen, ihn zu erreichen. Du konzentrierst dich auf die Rettung meiner Schwester.«

Unwillkürlich bildete sich Gänsehaut auf meinen Armen. Beinahe brachen meine Vermutungen aus mir heraus, damit ich sie wenigstens ein einziges Mal mit jemandem geteilt hatte, der meine Sorgen und Ängste verstehen konnte, ohne selbst daran zu zerbrechen. Im Endeffekt zwang ich mich dazu zu schweigen. Die Bilder aus meinem Kopf für mich zu behalten und mich darauf zu konzentrieren, dass ich in Kürze Spaß haben durfte. Offiziell.

Wenn ich ein paar der Männer nur unschädlich machte, damit sie weiterhin am Leben waren, würde ich Callisto einen Blumenstrauß aus Folteropfern basteln. Gesetzt den Fall, dass … Nein.

Ich verbot mir, meine Gedanken erneut in diese Richtung abschweifen zu lassen. Wenn ich meinen Fokus darauf verschwendete, würde mir später nur ein Fehler unterlaufen. Und den konnte ich mir nicht leisten. Nicht, wenn so viel auf meinen Schultern lastete.

Es ging nicht nur um Callistos Befreiung, sondern auch um jene von Lucifer. Außerdem war da noch Francesco, der ein für allemal unschädlich gemacht werden musste. Ganz zu schweigen von den Männern, die mir auf dem Weg dorthin im Weg standen.

»Wir sehen uns später. Wohlauf. Mit Callisto im Schlepptau. Sorg für Nerezzas Sicherheit, ansonsten reißt dir Lucifer dafür noch den Arsch auf, Oscuro.«

»Als könnte ich das dann nicht selber. De Archard?«

»Ja?«

»Viel Glück.«

Mir widerstrebte, dass ich wohl tatsächlich darauf angewiesen sein würde.