KAPITEL 6

LUCIFER

C allistos Stimme suchte mich heim.

Tropfend nass hatten zwei Männer sie zurück in den Käfig geschoben. Sie zitterte am ganzen Leib, die Lippen blau verfärbt, ebenso die Finger. An ihren Füßen konnte ich es auch erkennen, obwohl sie sich darauf gesetzt hatte, um ihrem Körper zumindest ein kleines bisschen Wärme zukommen zu lassen.

Ich hatte sie gehört. Was sie ihnen entgegengespien hatte. All die sorgfältig gewählten Worte. Ihren Trotz. Die Art und Weise, wie sie versuchte, mit der Situation umzugehen. Wie sie die Kontrolle bei sich behalten wollte, obwohl sie ihnen hilflos ausgeliefert war.

Je länger ich das Bild, das sich mir zeigte, anstarrte, desto klarer hatte ich vor Augen, was sie versucht hatten.

Einerseits wollte ich schmunzeln. Darüber, dass irgendwer tatsächlich glaubte, Callisto auf diese Weise dazu überreden zu können, klein beizugeben. Auf der anderen Seite wollte ich meine Faust hart in das Gesicht des dafür Verantwortlichen donnern, damit er fürs Erste das Bewusstsein verlor. Im Anschluss daran würde ich ihm zeigen, was Schmerzen wirklich bedeuteten.

Ihr die Arme aufzuschneiden, sie in Eiswasser zu tränken, Waterboarding, die Tatsache, dass sie ihr die Nägel herausgerissen hatten … Bei allen Göttern, das waren die Foltermethoden eines Anfängers. Schmerzhaft, ja. Aber dazu gemacht, einen starken Geist zu brechen? Nein.

Zwar plante ich nicht, diesen Bastarden eine Lehrstunde zu geben, die sie später auf andere anwenden konnten, und auch wollte ich gar nicht daran denken, dass sie mit Callisto noch gänzlich andere Dinge hätten anstellen können, doch die Zurückhaltung machte mir Hoffnung.

Rettung war auf dem Weg – und je länger Callisto die Tortur durchhielt, desto besser standen unsere Chancen.

Mich wunderte es, dass sie bisher nicht versucht hatten, mich in die gleiche Position zu zwingen. Offensichtlich war im Bezug auf mich die gewählte Foltermethode, dass ich mir ansehen musste, wie Callisto nach jedem Aufeinandertreffen mit Francescos Männern weiter abbaute.

Francescos Hass auf seine Tochter sorgte dafür, dass mir übel wurde. Er setzte ihr Leben aufs Spiel, und wenn er im Glauben war, dass sie tatsächlich ein Kind unter dem Herzen trug, so interessierte er sich auch für dieses Leben nicht das geringste bisschen.

Angesichts der Tatsache, was er mit meiner Schwester angestellt hatte, sollte mich das nicht überraschen. Aber es erwischte mich dennoch eiskalt.

Wenn Callisto irgendwann schwanger werden würde, würde ich sehr viel ruhiger schlafen mit dem Wissen, dass Francesco in einem nicht weiter gekennzeichneten Grab verrottete und keine Möglichkeiten mehr hatte, die Finger nach ihrem Kind auszustrecken.

Gerade war es nur eine Lüge, die sie aufrecht erhielt, um meine Schwester zu schützen. Doch allein das ehrte Callisto bereits auf so viele Weisen, dass ich mir nicht ausmalen konnte, wie irgendwer für den angerichteten Schaden an ihrem Körper und ihrer Psyche Wiedergutmachung leisten sollte.

So leicht es mir gerade auch fiel, mich von den Geschehnissen zu distanzieren und einigermaßen neutral zu bleiben, so klar war ich mir auch darüber, dass ich die Hölle auf Erden entfesseln würde, sobald ich die Chance bekam.

In mir brodelte es. Weißglühend und mit einer ausstrahlenden Hitze, dass es mich wunderte, dass die Gitterstäbe ihren Zustand noch nicht verändert hatten. Der Hass auf Francesco hatte nie höher gelodert als in diesem Moment, in dem Callisto entkräftet vor mir eingerollt lag und ich nichts tun konnte, um sie zu rächen … oder für sie zu sorgen.

Worte waren nett, aber die sorgten nicht dafür, dass es ihr besser ging. Die heilten nicht die Wunden, die man ihr zufügte. Oder sorgten dafür, dass ihre Gesundheit bergauf ging statt bergab.

Angefangen mit der Tatsache, dass die Stiche, mit denen man ihre Schnitte genäht hatte, bestenfalls barbarisch waren.

Wir sprachen nicht miteinander, obwohl unsere Blicke sich ineinander verankert hatten und weder sie noch ich es wagten, irgendwo anders hinzusehen. Mir entgingen nicht einmal die Tränen, in denen ihre Augen schwammen. Natürlich vergoss sie diese nicht, denn es hätte ihrem Vater und seiner Folter lediglich recht gegeben. Und diesen Erfolg gestand sie ihm, trotz allem, nicht zu.

Ihr seid alle tot. Ich hoffe, das Wissen frisst sich in den nächsten Stunden durch euch hindurch. Viel mehr werdet ihr nämlich nicht haben.

Womöglich war es hoch gegriffen gewesen. Ein paar Stunden, um Zweifel zu säen, wenn sie nicht einmal ahnten, was für ein Monster sie entfesselt hatten? Nicht nur in mir brodelte es. Ich kannte da noch mindestens zwei andere Männer, die ihren Verstand einbüßen würden, sobald sie erfuhren, dass Callisto in die Hände ihres Vaters geraten war.

Um mich ging es hier nicht – ich wollte, dass sie gerettet wurde. Dass man für sie diesen Ort dem Erdboden gleichmachte.

Wenn ich die Folter schon nicht auf mich nehmen konnte, wenn ich schon nicht dazu in der Lage war, ihr irgendeine Art der Stütze zu sein …

Wie waren wir nur hierher gelangt? Fuck . Vor gar nicht so vielen Stunden noch hatte ich ihr ein Diadem auf den Kopf gesetzt und sie so hart gefickt, dass es die Grundfesten meiner Welt erschüttert hatte. Jetzt fragte ich mich, ob jemand von uns und, wenn ja, wer von uns lebend aus dieser Lagerhalle kommen würde.

Gerade als ich den Mund öffnen wollte, erinnerte ich mich an die zahlreichen Zuhörer, die wir hatten.

Erlebnisse wie dieses schweißten unweigerlich zusammen. Trotzdem hätte ich es nicht gebraucht, um ihr näherzukommen.

Also begann ich erneut damit, mir die Gesichter jener Männer in Erinnerung zu rufen, die ich bisher aus meinem Käfig heraus beobachtet hatte. Keiner von ihnen würde entkommen, wenn sich das Blatt zu unseren Gunsten wendete. Denn das würde es. Daran herrschte nicht der geringste Zweifel.

Während Romero die Verantwortung gehabt hatte, mochten die Dinge anders verlaufen sein. Da mochte Francesco eine Schonfrist erfahren haben. Doch nun, da es um Callisto ging und sie sich unter unserem Schutz befand, lag auch die Entscheidung über die Art der Vergeltung bei uns. Noch einmal würde er nicht lebend davonkommen.

Wieder einmal waren es sich nähernde schwere Schritte, die uns auseinanderrissen. Mir entwich ein Knurren, als ich den Blick hob – die Trance unseres Augenkontaktes war das, was für uns beide das Durchhalten ermöglichte.

Durch die Gitterstäbe hindurch wurde jeweils ein Beutel geschoben. Nahrung. Den Kerl, der uns damit versorgte, kannte ich nicht.

»Mittagessen«, verkündete er, was mich innerlich die Augen verdrehen ließ.

Wen wollte er verarschen? Ich war nicht blind. Und auch wenn sie die Käfige strategisch geschickt positioniert hatten, so hatte ich am anderen Ende des Hallendaches ein kleines Fenster entdeckt. Die Sonne war zwar unter-, aber nicht wieder aufgegangen. Mittagessen am Arsch – aber ein wirklich netter Versuch, unsere Körper weiter zu verwirren und den Druck zu erhöhen.

Wenn er uns erfolgreich vorgaukelte, dass bereits vierundzwanzig Stunden seit der Entführung vergangen waren und bisher niemand aufgetaucht war, um uns zu retten, würde das vielleicht psychologische Effekte haben, die Callisto dazu brachten einzuknicken.

Wir ignorierten ihn beide, bis er weggetreten war.

Kaum merklich schüttelte ich den Kopf, um ihr zu bedeuten, dass er gelogen hatte.

Dann griff ich nach dem Beutel und zog das schlechteste Mittagessen hervor, das auf dieser Welt jemals existiert hatte.

Süßigkeiten. Als hätten sie einen kleinen Jungen zum Einkaufen geschickt, der keine Ahnung von Nährwerten und dergleichen hatte. Aber selbstverständlich war auch das pure, eiskalte Kalkulation.

Zucker lieferte Energie. Kurzfristig. Zucker machte außerdem süchtig. Und in einem Rahmen wie diesem sorgte es für Endorphin-Schübe. Glückshormone. Gefühle, die man nicht in Verbindung mit ehrlicher, grausamer Folter bringen sollte.

Francesco war durchtriebener als ich ihm zugestehen wollte, wenn diese Idee tatsächlich auf sein Konto ging.

»Du musst davon nichts essen«, versicherte ich ihr. Vermutlich würde es ihr ohnehin schwerfallen, auf dem steinharten Zeug herumzukauen. Ihr Gesicht hatte gelitten.

»Hatte es nicht vor. Aber irgendwann …«

Würde der Punkt kommen, an dem kein Weg daran vorbeiführte. Das war mir bewusst. Also zog ich die kleine Wasserflasche hervor, die sich ebenfalls in dem Beutel befunden hatte, schraubte den Deckel ab und roch daran.

Allerdings war es nicht der Geruch von mit Medikamenten aufgegossenem Wasser, sondern purer Alkohol. Hätte ich raten müssen, so wäre meine Vermutung auf Vodka gefallen. Nett.

Ich rümpfte die Nase, schraubte die Flasche wieder zu und schüttelte den Kopf. Alkohol würde uns austrocknen, die Zunge lockern und für einen harten Rausch sorgen, bei dem wir uns nicht mehr würden kontrollieren können – vor allem Callisto nicht, deren Körper bereits angegriffen war.

Diese Umstände ließen die Verzweiflung in mir erneut aufflammen, sodass ich mir vor Augen führen musste, dass es sich um eine temporäre Angelegenheit handelte.

Vielleicht waren wir zum Frühstück schon wieder raus hier? Zumindest starb die Hoffnung darauf zuletzt.

Wieder einmal schob ich ihr meine Hand durch die Gitterstäbe entgegen, damit sie danach greifen konnte, wenn sie wollte.

Im Gegensatz zu mir war Callisto nicht einmal dazu in der Lage, sich aufzusetzen. Ich konnte mir nur ausmalen, wie das generelle Schmerzlevel war, das sie gerade heimsuchte …

»Soll ich dir ein Geheimnis verraten?«, fragte ich, als sich ihre geschwollenen Finger in meine Hand schoben, unsere Blicke schon wieder ineinander versunken.

Wenn diese Nacht auf ein Ende für immer hinauslief, konnte ich wenigstens von mir behaupten, dass sich die Karte in ihren Iriden für immer in meine Erinnerung eingebrannt hatte, sodass ich auch noch im nächsten Leben den Weg nach Hause finden würde.

Wissen, das mir mehr Trost spendete, als es sollte.

»Hm?«, brachte sie hervor, ihre zitternden Lippen immer noch aufeinandergepresst.

Es war unvernünftig sie nicht trinken zu lassen, wenn der Alkohol sie doch zumindest von innen gewärmt hätte …

»Für dich brenne ich die Welt nieder, bellissima regina . Und dann kannst du dich an diesem Feuer aufwärmen, solange es nötig ist.«

Callisto nickte. Und ich war mir sicher, dass sie mich darauf festnageln würde, komme, was wolle.