E igentlich war ich Verfechter davon, dass alles aus einem Grund passierte. Für jedes Geschehnis gab es meiner Meinung nach einen Hintergrund. Eine Rechtfertigung. Einen höheren Sinn.
Doch für das, was seit gestern Mittag geschehen war, fand ich keine Erklärung. Keinen Sinn. Alles, was dahinter stand, war pure Boshaftigkeit. Ein böser Gedanke, der den nächsten gejagt hatte. Das Bedürfnis, Schmerz und Leid zuzufügen, wo es nicht nötig gewesen wäre.
Ich hätte es nachvollziehen können, wenn Francesco bei uns angesetzt hätte. Bei den Drahtziehern hinter den Plänen, den Männern, die seine Tochter offensichtlich allesamt um den Finger gewickelt hatten.
Bei ihr allerdings?
Das machte ihn zu einem Menschen, der mit einem Mal jeden Wert verloren hatte. Nicht nur wegen Callisto und all den Befehlen, die er ausgesprochen hatte, um sie am Boden zu sehen. Auch weil er einen unschuldigen Mann auf dem Gewissen hatte.
Ich hatte Callisto ein Versprechen gegeben.
Alles niederzubrennen, sollte es nötig sein.
Mit der Lagerhalle und den Toten sowie Verwundeten dort hatte ich angefangen, und eine nicht unerhebliche Genugtuung verspürt, als ich die Schreie gehört hatte, bevor alles in die Luft geflogen war. Damit allerdings war mein Job nicht beendet. Nein, es gab noch deutlich mehr zu tun.
Angefangen damit, dass ich den Bastard aufspüren würde, der glaubte, er könnte uns noch immer an der Nase herumführen. Vielleicht würde ich ein wenig Spaß mit ihm haben. Und ihn dann dorthin schleppen, wo all die Menschen, die noch eine Rechnung mit ihm offen hatten, ihre Wut ausgiebig an ihm auslassen konnten. Die Vorstellung gefiel mir – mindestens genauso gut wie die Tatsache, dass ich von Domenico wusste, dass Francesco nur zu Fuß unterwegs sein konnte.
Alle Autos auf dem Gelände waren fahruntauglich, weil er alle Reifen aufgeschlitzt hatte. Vorausschauend. Die Art von Kalkulation, die ich gut leiden konnte.
Mit dieser Information war es ein Leichtes, mich auf die Suche nach ihm zu machen. Noch leichter wurde es, als ich die Blutstropfen auf dem Boden entdeckte. Tropf. Tropf. Tropf.
Offensichtlich hatte eine meiner Kugeln den Bastard doch erwischt.
Blieb zu hoffen, dass er nicht wie ein Schwein ausblutete, bevor ich ihn erreichte. Ich ließ die Finger knacken, bevor ich in die Hocke ging, und sie über den Blutstropfen gleiten ließ, um ihn zu verreiben, ehe ich die an meine Nase hob und tief einatmete. Wie ein Hund, der seine Fährte aufnahm.
Dabei musste ich nichts weiter tun, als den Blick gen Boden gerichtet zu halten und der Spur zu folgen, die er hinterlassen hatte. Unwissend, offenbar. Kein Mann, der noch vollständig bei Sinnen war, würde fliehen und gleichzeitig diesen Fehler begehen.
Über den Parkplatz vor den angeschlossenen Lagerhallen führte die Spur zur Straße hinauf und von dort direkt in den grünen Seitenstreifen, der in eine Wiese überging und anschließend in den Wald führte. Wobei Wald womöglich der falsche Begriff war – die Bäume waren alt, knorrig und mit viel Abstand gewachsen. Dort existierte kein Dickicht, und man konnte auf hunderte Meter weit sehen.
Vermutlich glaubte er, dort einen Vorteil zu haben. Ausharren zu können, bis er jemanden erreichen konnte, der ihn aufgabelte. Ihn rettete.
Zu dumm nur, dass die Rache in meinen Adern floss und ich erst ruhen würde, wenn ich nicht mehr das Bedürfnis hatte, die Erde mit bloßen Händen entzweizureißen, um ihm einen exklusiven Platz im inneren, feurigen Kern zu verschaffen. Für die Ewigkeit, verstand sich.
Von den sterbenden Männern hatte ich mir eine Waffe geborgt. Messer. Und zufälligerweise hatte es da auch einen Baseballschläger gegeben. Holz. Ich wollte mir nicht ausmalen, was diese Idioten damit vorgehabt hatten, aber wusste ganz genau, was ich damit tun würde – sollte sich mir die Möglichkeit bieten.
Es war nicht Giannis Tod gewesen, der mich eiskalt und unvorbereitet getroffen hatte, denn mir war bewusst gewesen, dass genau das passieren würde, wenn ich mir eine falsche Bewegung geleistet hätte. Es war Callistos Schrei gewesen, der sich in mein Gedächtnis gebrannt hatte. Sie war ihm nicht nahe gekommen. Hatte ihn bestenfalls toleriert. Doch hinter ihrer eisigen Fassade musste etwas passiert sein, was zu dieser Reaktion geführt hatte. Und wenn sie auf diese Weise für Gianni empfinden konnte, wollte ich mir nicht vorstellen, wie viele Gefühle diese Frau ansonsten in sich trug.
Dieser Tag war jener, der die größten Veränderungen mit sich bringen würde. Also setzte ich den ersten Schritt ins Gras und orientierte mich an den rot verfärbten Grashalmen, die sich sanft im morgendlichen Wind wiegten. Es würde ein warmer Tag werden. Heiß womöglich. Da wäre es doch eine Schande, wenn sich ein bestimmter Mafiaboss nicht elendig verwundet in einem Wald wie diesem wiederfand, an einen Baum gefesselt, sodass die Mücken, und was hier sonst noch so lebte, sich an ihm laben konnten. Heute Nacht könnte ich ihn dann dort hinbringen, wo ich ihn eigentlich haben wollte …
Ich begann, ein Lied anzustimmen. Leise. Eher ein Summen. Es begleitete mich über die Wiese und durch die erste Baumfront hindurch. Hier wurde es schwieriger, das Blut auszumachen, doch die Spuren waren trotzdem vorhanden. Und sie führten weiter hinein. Beinahe gut gelaunt folgte ich ihnen, bis ich außer dem Zwitschern der Vögel und dem Rascheln der Baumkronen noch etwas anderes vernahm.
Trockenes, totes Holz, welches unter den Schritten eines schweren Mannes brach.
»Du kannst nicht davonlaufen«, rief ich. »Ich werde dich finden. Auch wenn du dich unter den Wurzeln für den ewigen Schlaf niederlegst, werde ich dich finden und dafür sorgen, dass du die Strafe erhältst, die du verdienst, Francesco.«
Mit dem Baseballschläger klopfte ich probeweise gegen das morsche Holz eines Astes. Ungefähr genauso klang es, wenn Knochen brachen.
Welche würde ich ihm wohl als Erstes brechen?
»Bist du stark verwundet? Lass mich raten. Es ist eine Arterie. Deswegen bekommst du die Blutung nicht gestillt. Mit Sicherheit lassen deine Kräfte auch ein wenig nach, weswegen du noch gar nicht so weit gekommen bist, wie du gerne würdest. Und selbst wenn du bewaffnet bist … versuch dein Glück.« Diesmal saß ich nicht in einem Käfig. Hatte keine gefesselten Hände. Und da waren auch keine Wachleute, die eine Waffe auf meinen Kopf richteten, für den Fall, dass mir einfiel, etwas Dummes zu tun.
Ich achtete darauf, dass jeder meiner Schritte deutlich zu hören war. Laut. Knackend. Er sollte wissen, dass ich näher kam, dass ich kam, um ihm das Leben zur Hölle zu machen.
Callisto mit einer Maske durch die Lagerhalle zu jagen, war die Kindergartenversion dessen gewesen, was ich plante, mit diesem Mann zu tun.
Fliegen Eier in seine Wunden legen zu lassen mochte vielleicht ein netter, erster Schritt sein. Der darauffolgende gefiel mir jedoch viel besser – der menschliche Körper brannte so wunderbar, wenn man es richtig anstellte. Kleidungsstoff wurde zum Docht, durch die schiere Temperatur verflüssigtes Unterhautfett sorgte für einen ähnlichen Effekt wie bei einer Kerze … und wenn man es zu kontrollieren wusste, sorgte es durchaus für andauernden Schmerz, auch über die zwangsläufig zerstörten Nervenenden hinaus. Ich war nicht il diavolo weil ich Menschen mit einer Maske jagte. Ich war der Teufel, weil ich sie mit dem Höllenfeuer bekanntmachte.
»Du bist ein Schwächling, Francesco. Keine Ahnung, wann das in den letzten Jahren passiert ist, aber deine besten Zeiten sind in jedem Fall vorüber. Mag sein, dass du irgendwann einmal ein halbwegs guter Capo warst, aber heute kannst du das nicht mehr von dir behaupten.« Ich beschloss, es noch ein bisschen weiter zu treiben. »Weißt du schon, dass deine Tochter in deine Fußstapfen treten wird? Callisto wird die neue Herrscherin über die sizilianische Mafia. Und Romero wird ihr Underboss. Domenico und ich diejenigen, die ihr Regime durchsetzen.«
»Vergiss Luca nicht«, hörte ich ihn von irgendwoher sagen und wusste, dass ich im Prinzip bereits gewonnen hatte.
»Wie könnte ich? Immerhin ist er derjenige, der deine kleine Party gesprengt hat.«
»Verräter. Wie ihr alle.«
»In deinen Augen vielleicht. Ich sehe das ein wenig anders.«
»Ach ja? Glaubst du, ich hätte mich vorher nicht informiert? Keine umfassende Recherche betrieben?«
Noch immer bekam ich ihn nicht zu sehen, aber mein Gehör trug mich Schritt für Schritt näher an ihn heran. Weit entfernt konnte er nicht mehr sein. Womöglich drehten wir uns auch im Kreis miteinander, was die einzige Möglichkeit war, mir noch zu entkommen.
»Was glaubst du denn Schockierendes herausgefunden zu haben?«
»Wusstest du, dass er eine Tochter hat, Lucifer? Und wenn er nicht bei ihr ist, vögelt er meine Tochter.«
Als ob er ein Recht besäße, darüber zu urteilen. »Du hast deine Tochter vor den Augen dutzender Männer vergewaltigen lassen. Ich glaube, Luca kommt verdammt gut weg.«
Selbst wenn er fünf Töchter hätte – was für eine Rolle spielte es? Das bedeutete nicht, dass er Callisto betrog. Tatsächlich würde ich sogar so weit gehen zu behaupten, dass er dergleichen niemals tun würde. Kein Mann betrog eine Frau, für die er tatsächlich etwas Tiefergehendes empfand.
Francesco schwieg.
»Sie hat mit allen von uns geschlafen, weißt du? Und keiner hat damit ein Problem. Sie ist erwachsen, kann tun was auch immer sie will.«
»Nicht unter meiner Aufsicht.«
»Schade, dass deine Aufsicht ein Ende findet.« Meine Erwiderung war nichts weiter als ein düsteres Knurren, weil ich den miesen Bastard entdeckt hatte. Er glaubte, dass er hinter einem der Bäume mit dickem Stamm vor meinen Augen sicher war, wenn er sich mit jedem meiner Schritte nach vorne einfach ein wenig in die entgegengesetzte Richtung bewegte, sodass er – seiner Einsicht nach – immer hinter dem Baum blieb. Das war nicht nur falsch, sondern dumm.
Ich teilte ihm seinen Fehler mit, indem ich den Baseballschläger schwang. Tief. Auf Höhe seiner Knie, sodass er mit einem lauten Brüllen ohne Vorwarnung einfach zu Boden ging.
Die Waffe, die er so fest umklammert hatte, fiel neben ihm zu Boden. Ich brauchte nichts weiter tun als mich zu bücken, sie in meinen Hosenbund zu stecken und mich wieder aufzurichten.
Von oben sah ich auf ihn herab, studierte seinen Körper, um die Schusswunde zu finden. Seine Schulter. Natürlich. Deswegen hatte er die Waffe gar nicht erst benutzt – sein Arm taugte nichts.
Daran würde er mit Sicherheit nicht sterben, aber der kontinuierliche Blutverlust würde sich wohl früher oder später zum Problem entwickeln. Alles in mir sträubte sich dagegen, ihm auch nur ein kleines bisschen Wohlwollen entgegenzubringen, doch wenn ich tatsächlich noch Spaß an seiner Folter erleben wollte, musste ich einen Kompromiss finden.
Mit einem Seufzen bückte ich mich erneut, nutzte mein Messer, um den Stoff seines Oberteils aufzuschneiden und begutachtete den Schaden.
»Sieht ganz so aus, als hättest du ein Problem, mein Freund.« Ich verzog den Mund. Vielleicht würde er davon eben doch sterben.
Aber nicht, wenn ich schneller war.
Feuer war so ein wunderbar medizinisches Mittel. Wenn ich ihm die glühend heiße Klinge meines Messers tief in die bereits vorhandene Wunde bohrte, würde es das Gewebe kauterisieren und dafür sorgen, dass er nicht weiter ausblutete. Vielleicht starb ihm der Arm im Anschluss aufgrund mangelnder Blutversorgung ab, damit allerdings konnte ich gut leben – und er würde am Ende sowieso tot sein. Da war ein Arm sicher kein Verlust.
Ich hielt mich nicht damit auf, ihn zu fesseln. Wenn er den Versuch starten wollte, mich zu überwältigen und abzuhauen, sollte er sich keinen Zwang antun.
Im Handumdrehen trug ich ein wenig Holz zusammen, entzündete getrocknete Blätter und bastelte mein eigenes, kleines Feuer, in das ich nur noch die Klinge legen musste, um dann abzuwarten, bis sie rot schimmerte. In dem Fall hatte sie ganz sicher die richtige Temperatur.
»Hast du schon aufgegeben?", fragte ich beiläufig, weil es mich ein wenig verwunderte, dass er so ruhig blieb.
Oder war das sein eiskalter Plan? Warten, bis ich seine Wunde versorgt hatte, nur damit er im Anschluss doch versuchen konnte, mich niederzuringen?
»Vielleicht weiß ich, dass Verstärkung auf dem Weg ist und du allein keine Chance gegen sie hast.«
»Nette Vorstellung. Aber bis die dich gefunden haben, bin ich längst im Vorteil.« Ich brauchte noch fünf Minuten, bis ich ihm die Klinge in die Schulter rammen konnte. Dann würde ich ihn an den Baum binden, mich zurücklehnen und abwarten, wer es wagte, den Wald zu betreten.
Zufrieden beobachtete ich, wie die Klinge sich dunkler verfärbte und an den Rändern schließlich heller wurde. Ich hatte nur ein kleines Feuer entzündet, aber das reichte trotzdem aus, um mein Ziel zu erreichen.
Sobald ich der Meinung war, dass die Klinge sein Fleisch nicht nur verbrennen, sondern wirklich kauterisieren würde, nahm ich das Messer aus dem Feuer heraus und wandte mich erneut Francesco zu.
Sein Gerede ging mir auf die Nerven. Jeder Satz, der seinen Mund verließ, war frauenverachtender Bullshit oder dazu gemacht, seine Tochter zu diffamieren. Hatte er nicht schon genug Schaden angerichtet?
Ich beugte mich nach unten, nahm ein totes Stück Holz und zwang es ihm zwischen die Zähne, damit er nicht den gesamten Wald zusammenbrüllte und unseren Standort vorläufig verriet.
Erst dann hielt ich seine Schulter fest, spannte die Wunde ein wenig und brachte mein Messer in Position. Natürlich würde es zunächst zusätzlichen Schaden zufügen, doch dann zog es das Ergebnis nach sich, dass ich mir wünschte.
»Auch wenn ich sehen könnte, wie du die nächsten dreißig Jahre leidest und dahinsiechst wäre es für mich noch nicht genug. Erst meine Schwester, dann Callisto. Als Nächstes hättest du dir dann wohl noch Lucas Familie vorgenommen, hm?« Ich warnte ihn nicht vor, sondern hob lediglich die Klinge an und führte sie dann präzise und tief in die Schusswunde ein. Er wandte sich unter meinem Griff, bäumte sich auf. Stierte mich an, als wäre der Schmerz schon jetzt zu viel, um ihn auszuhalten.
Dabei hatten wir noch gar nicht richtig begonnen.
Nach einigen Sekunden zog ich das Messer wieder hervor, presste die flache Klinge einmal kurz gegen die Eintrittswunde und hob seine Schulter dann an, nur um festzustellen, dass es keine Austrittswunde gab. Doof für ihn.
Als ich ihn wieder nach unten sacken ließ, stellte ich außerdem fest, dass er das Bewusstsein verloren hatte. Wunderbar. Wie sollte er all den Schmerz erleben, den ich ihm zufügen wollte, wenn er nach einer kleinen Wundversorgung bereits ohnmächtig wurde?
Ich biss die Zähne aufeinander. Mit der verschlossenen Wunde war der Plan mit den Fliegeneiern auch dahin. Keine Maden, die sich demnächst durch sein Fleisch fressen würden.
Durchaus ein wenig enttäuscht richtete ich mich auf und zog mein Smartphone hervor. Ich hatte es eingesammelt, bevor ich die Lagerhalle in die Luft gejagt hatte. Luca und Callisto waren zu Romero zurückgekehrt, und anscheinend war ihr Zustand einigermaßen in Ordnung, trotz allem, was man sie hatte durchleben lassen.
Domenico hatte sich darum gekümmert, Giannis Leichnam zu einem Bestatter zu bringen, der keine Fragen stellte, aber eine entsprechende Beerdigung plante. Hatte er noch Familie übrig gehabt? Eine Mutter, die wissen musste, dass ihr Sohn gestorben war? Seine Schwester war schon vor zwei Jahren vom Erdboden verschwunden, doch wenn Francesco nun das Zeitliche segnete, würde einer Rückkehr wohl nichts mehr im Wege stehen.
Mein Plan änderte sich. Zunächst würde ich Francesco an einen Ort bringen, an dem ihn keiner fand.
Dann würde ich Giannis Familie ausfindig machen.
Und im Anschluss würde ich mich um das kümmern, was für mich eigentlich oberste Priorität hatte. Callistos Wohlergehen.