W ir blieben nicht in Romeros Villa. Noch bevor die Beerdigung stattfinden sollte, hatten wir einen Umzug in Lucifers alten Familiensitz vollzogen. Seine Angehörigen, abgesehen von Nerezza, waren tot und das Haus wurde eigentlich nur noch selten von ihm genutzt, weil er viel Zeit bei Romero verbracht hatte.
Jetzt erstrahlte es mit neuem Leben … oder zumindest hatte es neue Bewohner gefunden, denn Callisto hatte es keine Sekunde länger in Romeros Villa ausgehalten. Wo sie zu Beginn noch damit zurechtgekommen war, dass man versucht hatte, sie in ihrem Schlafzimmer zu ermorden, war es nun absolut unmöglich für sie, dort eine ruhige Sekunde zu finden. Daran änderte weder die Tatsache etwas, dass Francesco sich in unserer Obhut befand, noch unser aller Anwesenheit, die ihren Schutz rund um die Uhr gewährleistete.
Drei Tage waren vergangen, aber es fühlte sich an wie drei Sekunden.
Ich hatte nicht geschlafen – mich suchten Geister heim.
Abbilder dessen, was ich gesehen hatte. Menschen, die nicht mehr unter den Lebenden weilten. Ein gnadenloser Schmerz, der sich in meiner Brust manifestiert hatte, und psychosomatischen Ursprungs war.
Natürlich hatte ich mit Rina gesprochen. Und gleich im Anschluss mit Vincenzo, damit ich ihm ein Update über das geben konnte, was passiert war. Neben meinem Onkel Fiero schien er mitunter der Einzige zu sein, der genau wusste, was es mit einem machte, wenn man dazu gezwungen war, zuzusehen. Unfähig des Handelns zu sein.
Wir hatten stundenlang gesprochen. Über Gianni. Über das, was ich mit eigenen Augen gesehen, und das, von dem ich lediglich gehört hatte. Über all die kleinen Details, die mich wachhielten und in mir das Bedürfnis weckten, die Arme um Callisto zu schließen und nie wieder loszulassen.
Es fühlte sich an wie eine kleine Psychose. Ein zwanghaftes Bedürfnis, das sich aus einer nicht kontrollierbaren Situation heraus entwickelt hatte – die man im Umkehrschluss nun auf jeden Fall kontrollieren wollte, auch wenn es eigentlich unmöglich war.
Und auch wenn es sich ein wenig nach einer Therapiestunde angefühlt hatte, war das Gespräch mit Vincenzo nicht genug gewesen, um meine verdammten Nerven zu beruhigen und meinen Körper aus dem Kampfmodus herunterzufahren.
Francesco stand unter permanenter Beobachtung. Er würde nirgendwohin gehen. Konnte Callisto keinen Schaden mehr zufügen. Und noch konzentrierten sich die Männer, die ihn so eifrig suchten, genau auf das. Eine Suche.
Lucifer hatte das Oscuro-Anwesen vorgestern Nacht in die Luft gejagt. Es war in einem Inferno aufgegangen und die Feuerwehr hatte nur noch dabei zusehen können, wie es kontrolliert abbrannte. Inzwischen war nichts mehr davon übrig.
Und während Romero damit begonnen hatte, den Umbruch in der Führungsriege kundzutun, übte der Rest von uns sich in Geduld und dem Versuch, etwas zu heilen, das nicht so einfach zu heilen war. Dabei waren die sichtbaren Wunden nicht das Problem – sondern eben das, was unter der Oberfläche verborgen lag.
Sie sprach darüber, was passiert war. Aber nicht über das, was in ihr vor sich ging. Zumindest nicht mit mir, was mich die Hoffnung auf Luca setzen ließ, dem sie kaum von der Seite wich.
Also hielt ich mich an Lucifer, um in all dem Chaos nicht ebenfalls unterzugehen. Die meiste Zeit über schwiegen wir uns in gegenseitigem Einverständnis an, doch heute morgen verspürte ich das starke Bedürfnis, mit ihm zu reden. Weshalb ich ihn mit meiner Schüssel Cornflakes bis in die Küche verfolgte, bevor er sich mir ein wenig genervt zuwandte.
»Was willst du, de Archard?«
Eigentlich wollte ich mich nur nicht mehr verloren fühlen, aber das war wohl etwas, das ein Lucifer Cruciani nicht lösen konnte.
»Darüber sprechen, wie lange wir Francesco noch unberührt in einem Keller verrotten lassen.«
»Bis nach der Beerdigung, ganz einfach. Meinetwegen auch solange, bis sie sich dazu in der Lage fühlt, ihn büßen zu lassen.«
Nicht, dass nicht jeder von uns dazu bereit wäre, das für sie zu übernehmen. »Wir könnten zumindest schon die Vorarbeit leisten.«
Er schürzte die Lippen. »Ich will die Befehle aus ihrem Mund hören. Halt mich für verrückt, aber das ist Part ihres Heilungsprozesses. Nicht meines. Oder deines.«
»Dann sag mir wenigstens, dass er schon jetzt leidet«, forderte ich. Mir gefiel der Gedanke nicht, dass es sich für ihn wie ein kleiner, feiner Urlaub anfühlen könnte.
»Sein Arm ist dabei abzusterben. Es ist ein langsamer Prozess, aber irgendwann endet das sicher mit einer Sepsis. Deswegen bekommt er ein paar Antibiotika von mir.«
Ich musste sofort an Rina denken. Vermutlich war sie dazu in der Lage, ihm den Arm abzunehmen. Oder ihn soweit zu rekonstruieren, dass er ihm zwar Probleme bereitete, aber nicht dazu führte, dass er vorzeitig daran verreckte.
Vermutlich war aber auch das einer dieser Vorschläge, die nicht ganz so willkommen waren, wie ich es mir gewünscht hätte. Mir juckte es einfach in den Fingern, denn ich war mir nicht sicher, wie ich ansonsten Wiedergutmachung leisten sollte.
»Und er redet immer noch darüber …«
»Wieder freizukommen und uns alle hinrichten zu lassen? Sehr exzessiv. Und um fair zu sein, ist die Vorstellung zu meinem absoluten Albtraum geworden. Rational gesehen weiß ich, dass es unmöglich ist. Aber irrational …«
Francesco setzte uns allen zu. Vermutlich verbesserte sich der Allgemeinzustand erst dann, wenn er tot war. Verscharrt. Wenn er gelitten und bezahlt hatte, nur um dann ein gerechtes Ende zu erfahren.
»Wir brauchen einen Livefeed aus dem Keller«, murmelte ich.
»Was wir eigentlich brauchen ist irgendeine Art von Hoffnung. Ich will ihr helfen, aber ich hab keine Ahnung, wie ich das bewerkstelligen soll.«
Da ging es Lucifer genau wie mir. Als wir zu dritt in ihrem Bett gelegen hatten, hatte sich zumindest für kurze Zeit alles in Ordnung angefühlt – falls man das überhaupt so nennen konnte. Doch seitdem war es ein einziges auf und ab.
Eine Balance war kaum möglich, weil sie uns abwechselnd näher an sich heranließ, nur um uns im Anschluss wieder kilometerweit von sich zu stoßen. Vermutlich war es die Erkenntnis, dass Gianni kein Teil mehr davon war. Nie mehr sein würde. Womöglich fühlte es sich für sie wie ein Verrat an, mindestens jedoch unfair.
»Tja, wenn ich den weisen Worten meines Onkels Glauben schenken soll, dann ist es eine Mischung aus Zeit und daraus ihr zu zeigen, dass wir für sie da sind. Zu ihren Bedingungen. Nicht unseren.«
Wenn das allerdings nach drei Tagen schon so schwer war, wie würde es sich anfühlen, wenn es sich über die nächsten Wochen zog?