KAPITEL 19

CALLISTO

EIN PAAR WOCHEN SPÄTER

W ieder mit meinem Bruder zusammenzuarbeiten fühlte sich nicht nur gut an, es war mitunter eines der besten Dinge, die sich in Bezug auf meinen neuen Job ergeben hatten. Er besaß die notwendige Erfahrung, also war es nur die logische Konsequenz gewesen, ihn erneut zum Underboss zu machen. Immerhin hatte ich seine Hilfe dringend nötig, weil ich von den meisten Dingen nicht den blassesten Schimmer hatte. Man konnte sagen, dass er in meinem Namen das Ruder zeitweise übernommen hatte, um mir Schritt für Schritt alles Notwendige zu erklären.

»Sizilien hat sich in den vergangenen Jahrhunderten aus den internationalen Angelegenheiten zum größten Teil herausgehalten. Es gibt kaum jemanden, der einen Groll gegen uns hegt. Das ist ein Vorteil – zumindest wenn du planst, das in Zukunft zu ändern«, meinte er gerade.

Für unser heutiges Gespräch hatten wir uns in den Garten des Anwesens verzogen, das sich in den letzten Wochen zu meiner neuen Heimat entwickelt hatte. Zu Beginn hatte ich es noch eindeutig Lucifers Besitz zugeschrieben, mittlerweile war ich der festen Überzeugung, dass es eben doch nicht nur für mich zu einem Zuhause geworden war.

»Ich würde sagen, die Beziehungen zu Italien lassen sich als gut beschreiben.«

»Weil wir Brücken geschlagen haben, als es notwendig war und dafür gesorgt wurde, dass sich diese Beziehungen nicht in etwas Negatives verwandeln.«

Was, zugegeben, ein Leichtes gewesen wäre, nachdem Vincenzo de Archard das erste Attentat auf den vorherigen Capo des Landes hatte verüben lassen. Eigentlich hätte ich es schon im Vorfeld kommen sehen müssen, weil er damals recht eindeutige Worte auch an mich gerichtet hatte. Er hatte angekündigt, was er tun würde … und trotzdem war lange Zeit niemand dahintergekommen.

»Aber Italien ist nicht die einzige internationale Beziehung, von der ich spreche. Da gibt es noch andere. Spanien. Russland. Die Staaten. Kolumbien. Island. All diese Familien befinden sich auf einer Ebene und ich persönlich halte es für keine schlechte Idee, wenn wir aus unserem Exil ausbrechen. Die alten Traditionen sind abgeschafft, also ist das schon mal kein Hindernis mehr.«

»Davor wäre es einer gewesen?«

»Natürlich. Ehen werden noch immer arrangiert, aber nicht auf die Weise, wie es bei uns der Fall gewesen ist. Ich meine, inzwischen ist alles fortschrittlicher. Auch innerhalb der Mafia oder anderen kriminellen Syndikaten.«

Die Vorstellung beeindruckte mich. Wenn man alles nur in Hinsicht auf Sizilien betrachtete, war es übersichtlich. Eine Relation, innerhalb der ich arbeiten konnte. »Ich glaube nicht, dass ich diesen internationalen Geschäften schon gewachsen bin.«

»Warum nicht? Du hast Domenico. Schau dir die Familie an, aus der er kommt, und sag mir, dass er kein Experte darin ist, die verschiedensten Gemüter zu vereinen und vor allem handzuhaben.«

Gerade war Domenico vor allem außer Landes, was meinerseits für eine gewisse Unruhe sorgte. Es war nicht Vincenzo gewesen, der ihn nach Hause gerufen hatte, sondern seine Arbeit. Eigentlich ging es nur um wenige Tage, aber jede Stunde fühlte sich an, als würde man mir einen weiteren Stein auf die Brust legen.

Romero war eine willkommene Ablenkung gewesen, doch jetzt, da Domenicos Name gefallen war, kam ich schon wieder nicht umhin, an ihn zu denken. Ich musste ihn anrufen. Seine Stimme hören. Sicherstellen, dass er lebte.

Das war die eine Sache, die ich nicht loswurde. Permanente Angst, dass sich etwas wiederholen könnte.

»Ich hab was Falsches gesagt, oder nicht?«, hakte mein Bruder nach, weil ich ihm nicht antwortete.

»Nein. Nicht direkt. Also ja, schon, aber nein. Es ist lächerlich. Ich kann es einfach nur nicht leiden, dass er so weit weg ist und ich keine Ahnung davon habe, was dort vor sich geht. Was, wenn ihm irgendetwas zustößt, und …«

Meine Fingernägel bohrten sich in die Lehnen meines Stuhls, ehe ich tief Luft holte und versuchte, mich verdammt nochmal am Riemen zu reißen.

»Das nennt sich im Übrigen posttraumatische Belastungsstörung«, warf Romero ein, als wäre er der Experte schlechthin.

Mein Blick sagte wohl alles.

»Schau nicht so. Wir wissen beide, dass mich das nach Nerezzas Transplantation monatelang heimgesucht hat. Ganz zu schweigen vom Anfang der Schwangerschaft.«

»Und, wie bist du es wieder losgeworden?«, hakte ich nach, ein wenig außer Atem, weil meine Gedanken mich dazu anheizten, beinahe zu hyperventilieren.

»Ich habe mich der Angst gestellt und einen Weg gefunden, um sie zu entkräften.«

»Klingt wunderbar. Und was sage ich meinem Hirn jetzt? Hey, ganz ruhig, Domenico geht es sicher blendend, auch wenn es sechs Stunden her ist, dass er sich das letzte Mal gemeldet hat und er eigentlich versprochen hatte, es jede Stunde zu tun

Romero gab ein belustigtes Geräusch von sich. »Wieso versuchst du es nicht damit: Domenico ist aufgrund seines Jobs nach Hause geflogen. Er überwacht die meisten Operationen persönlich, was bedeutet, dass er manchmal für mehrere Stunden zwangsläufig nicht erreichbar ist. Vermutlich war es keine geplante Operation, weshalb er vorher auch nicht Bescheid geben konnte. Sobald er allerdings seinen Pflichten nachgekommen ist, wird er mich als Allererstes mit schlechtem Gewissen anrufen. Meine Panik würde das nur schlimmer machen, was nicht fair ist, weswegen ich die nächsten Stunden über ruhig bleibe und einfach abwarte. Nur, weil er sich nicht gemeldet hat, heißt das nicht, dass ihm etwas zugestoßen ist. Und wenn man es genau nimmt, ist es auch keine richtige Angst, die du da verspürst. Es ist die Angst vor deiner Angst – weil du konstant erwartest, dass etwas passiert.«

Klugscheißer. Ich starrte ihn immer noch an. »Was willst du mir damit sagen?«

»Die Sonne scheint. Wie heute beispielsweise. Keine Wolke ist am Himmel zu sehen, die Temperaturen liegen bei über dreißig Grad. Würdest du einen Regenschirm mitnehmen?«

Lachend schüttelte ich den Kopf. »Wieso sollte ich?«

»Ganz genau.«

»Willst du mir sagen, dass ich konstant mit einem Regenschirm rumlaufe, obwohl wir das beste Wetter haben?«

»Im Prinzip schon, ja«, erwiderte Romero ernst. »Ich dachte eine halbe Ewigkeit lang, mich in Nerezzas Nähe zu befinden, sie anzufassen, könnte sie umbringen. Also habe ich sie lieber aus der Ferne betrachtet und geglaubt, dass es die perfekte Lösung ist. Im Endeffekt, und das wissen wir beide, weil du mir den Kopf gewaschen hast, war das verdammt dumm. Aus der Ferne zuzusehen kommt nicht annähernd an das heran, was ich jetzt jeden Tag mit ihr erlebe. Ich meine, wie hätte sie noch einmal schwanger werden sollen, wenn ich mich für den Rest meines Lebens aus einer beinahe unbegründeten Angst heraus von ihr ferngehalten hätte? Wo wäre jetzt meine Chance auf eine glückliche Familie? Wir alle werden eines Tages sterben. Aber keiner von uns hat Angst davor. Die Angst kommt immer nur zum Vorschein, wenn es mit einem Unfall zu tun hatte.«

Oder in meinem Fall – mit einem brutalen Mord.

Ich begann damit, mir über das Brustbein zu reiben. Während Romero gesprochen hatte, mochte sich meine Atmung zwar wieder beruhigt haben, doch den Druck fühlte ich noch immer, wenn auch nicht mehr ganz so intensiv wie zuvor.

»Das Leben passiert. Ob du Angst hast oder nicht. Die Frage ist nur, ob du alles durch die Angst beeinflussen lässt, oder ob du dich frei darauf einlässt.«

»Was ist, wenn–«

»Er stirbt? Wir alle sterben? Morgen ein Komet einschlägt oder Aliens einfallen? Wenn ein Pilz sich in unsere Gehirne frisst und unsere Handlungen übernimmt?«

»Das ist lächerlich – das würde nie passieren.«

»Ach nein? Woher willst du das wissen? Das ist genauso wenig planbar wie Domenicos möglicher Tod in den letzten Stunden. Dein Gehirn redet es dir nur nicht ein, weil es weder zu deinem Trauma noch zu deiner Angst gehört.«

Tatsächlich behagte es mir nicht, dass er mit gezielter Logik gegen mein Problem anging. Das ließ es so nichtig erscheinen. So … heilbar. Als reichten ein paar Gedanken aus, um mich von den schlimmsten Stolperfallen wegzuziehen und auf einen anderen Weg zu lenken.

»Und was sage ich mir, wenn du nicht da bist, um mir all diese psychologisch wertvollen Tipps zu geben?«

»Du nimmst das nur halb so ernst wie du solltest, Callie.«

»Ich bin skeptisch. Das klingt zu einfach.«

»Es erscheint nur einfach. In der Realität ist es weitaus härter und mehr Arbeit.«

Ich seufzte. »Also, was ist dein Tipp?«

»Spiel gegen dein Gehirn und sei dabei so verdammt gut, dass du jedes Mal gewinnst. Nutz meinetwegen unlautere Mittel. Spiel richtig dreckig. Alles egal. Hauptsache du gehst als Sieger hervor. Immer und immer und immer wieder.«

Das war … alles? Nach all den klugen Dingen, die er zu mir gesagt hatte, beendete er seine Lehrstunde damit? Mir entwich ein leises Schnauben. Eine gewisse Ironie besaß es schon, dass wir uns heute in dieser Konstellation wiederfanden. So viele Möglichkeiten, und auf diese war es hinausgelaufen.

Ich streckte die Hand nach seiner aus und umfasste Romeros Finger. Sein Blick glitt über die hässliche Narbe auf meinem Arm, eine konstante Erinnerung daran, warum ich nur noch einschlafen konnte, wenn sich rechts und links von mir jeweils ein Mann befand, der über mich wachte.

»Ich bin wirklich froh darüber, dass wir all das zusammen geschafft haben.«

»Und ich weiß immer noch nicht, wie ich dir dafür danken soll, dass du meine Familie auf diese Weise beschützt hast.«

»Es ist Familie. Also … gehört sich das so. Und jetzt zurück zum eigentlichen Thema. Ich glaube, ich habe meine Nervosität wieder unter Kontrolle.«

Romero nickte – und wir brachten einen weiteren lehrreichen Mittag hinter uns.