KAPITEL 29

DOMENICO

A ugenscheinlich war das passiert, wovor ich mich viele Jahre lang weggelaufen war. Irgendwann in den letzten Wochen war ich erwachsener geworden, als ich ursprünglich jemals hatte sein wollen. Nicht, weil ich mich ewig wie ein kopfloser Jugendlicher fühlen wollte, der keine Ahnung von Konsequenzen hatte, sondern gänzlich wegen des Fakts, dass ich es absolut unvorstellbar fand, eines Tages ähnlich viel Verantwortung zu schultern, wie es beispielsweise mein Onkel tat.

Dabei war es längst passiert. Ich trug nicht mehr nur für mich die Verantwortung, sondern auch für jeden Menschen, dem ich mit Hilfe eines Organs das Leben rettete. Da hörte es bloß nicht auf, denn seit Callisto unverhofft in mein Leben getreten war, gab es da nicht nur auch noch sie, für die ich Verantwortung tragen wollte, sondern auch einen Haufen anderer Männer, die mit ihr im Paket steckten.

An einem von ihnen hatte ich versagt, in vollem Wissen, dass er nicht dazu bereit gewesen war, eine Rettungsaktion wie diese so durchzuführen, wie ich selbst es getan hätte. Nur mein Versagen hatte dazu geführt, dass wir gefesselt unserem Schicksal entgegengeblickt hatten. Gianni war nie zuvor in solch einer Situation gewesen, während Lucifer, Luca und auch ich eine Menge Erfahrung damit gesammelt hatten, weil es beinahe so etwas wie Alltag war, wenn man sich immer an vorderster Front befand.

Er hatte einen Fehler in einem Moment ausbügeln wollen, der nicht schlechter hätte sein können. Was als mutiger Akt der Courage begonnen hatte, endete nun damit, dass ich vor einem verfickten Grabstein stand und um einen jungen Mann trauerte, den ich eigentlich nicht lange genug gekannt hatte, um überhaupt eine emotionale Bindung zu ihm zu haben.

Tja. Die Realität sah das anders – und brachte mich dazu, auf den kalten Stein zu klopfen, als wäre es eine Tür und ich würde jeden Moment eintreten, um ihn dahinter zu begrüßen.

»Keine Ahnung, was ich dir sagen soll, Idiot, aber sie ist jetzt Capo . Falls du die Memo da oben also noch nicht bekommen hast, wäre jetzt der passende Zeitpunkt für ein bisschen Konfetti.« Noch während ich sprach, erwachte über mir der nächtliche Himmel zum Leben. Ein Blitz zuckte quer über den Horizont, bevor ein lautes Donnergrollen folgte.

Ich hob eine Augenbraue, nicht dazu in der Lage, das schiefe Grinsen auf meinem Gesicht zu unterdrücken. »Netter Partytrick, Kleiner. Aber ich glaube, hier unten wärst du trotzdem besser aufgehoben.«

Trotzdem hatte ich von der Feier, oder als was auch immer man es nun bezeichnen wollte, eine Flasche des besten Alkohols mitgehen lassen, der mir untergekommen war. Ein guter Schluck landete auf der trockenen Erde zwischen den welken Blumensträußen, bevor ich lautstark ausatmete.

»Was passiert ist, tut mir leid. Und das sage ich nicht einfach nur, um mir selbst alles einfacher zu machen. Es ist die Wahrheit. Es tut mir leid, weil ich besser hätte aufpassen müssen. Auf dich – du konntest nicht wissen, was die Protokolle in Situationen wie diesen verlangen.« Für jemanden der keine Ahnung hatte, sich nicht ständig damit konfrontiert sah, war eine Konfrontation wie diese beinahe unmöglich anzusehen. Selbst Callistos Versicherung, dass alles in Ordnung kommen würde, war nicht dazu in der Lage gewesen, ihn zurückzuhalten.

Gianni hatte eine Entscheidung getroffen, deren Konsequenzen er sich durchaus hätte bewusst sein müssen. Irgendwo, tief unten vermutlich. Vielleicht war es eine aktive Entscheidung gewesen. Eher zu sterben, als sich eine Sekunde länger ansehen zu müssen, was passierte ohne selbst etwas dagegen unternehmen zu können.

»Was sie dir vorher gesagt hat, war im Übrigen auch keine Lüge. Mir ist bewusst, dass du angenommen hast, keine richtige Chance bei ihr zu haben, aber … ich würde meinen Hintern darauf verwetten, dass du ganz am Ende womöglich sogar die größte Chance gehabt hättest, wenn es wirklich darauf hinausgelaufen wäre, einen einzigen Mann zu wählen.« Vielleicht hätte sie Luca bei sich behalten, um wenigstens einen Teil ihrer Bedürfnisse abzudecken, aber letzten Endes …

»Ich hätte mir wirklich gewünscht, dass wir eines Tages wie eine große Familie sind. Brüder, wenn man es so will. Ich hatte nie einen. Lucifer und ich sind eine schlechte Kombination. Luca denkt manchmal, er könnte sich wie unser Vater aufführen. Du und ich allerdings …« Wir wären die perfekte Mischung gewesen. Möglicherweise war das auch der Grund gewesen, warum ich Lucifer so freizügig davon erzählt hatte, was meine Mutter für Opfer gebracht hatte.

Es gab keinen Grund, aktiv irgendwelche Geschwister zu vermissen – dazu hatte ich zu viele Cousins gehabt, die mit mir aufgewachsen waren – auch neben Rina und Ravena, neben Valentina und den Zwillingen.

Im Endeffekt lief es immer wieder darauf hinaus, wie beschissen das war, was uns allen widerfahren ist – aber auch darauf, dass sich nichts daran ändern ließ. Tote kehrten nicht zurück, auch nicht für Menschen, die mit ihrem Vermögen die halbe Welt hätten kaufen können. Eine Lehrstunde, die irgendwann jeder durchleben musste. Am Ende blieb immer nur die Frage, auf welche Weise man daraus hervorging. Gestärkt? Oder als gebrochener Mensch, der sich einredete, ohne die Anwesenheit einer anderen Person nicht mehr länger existieren zu können?

»Wenn du sehen könntest, wie sie sich entwickelt …« Bei meinen Worten verdrehte ich die Augen. Die bittere Realität war doch, dass sein verrottender Körper ein paar Meter unter mir lag und sich vermutlich gerade ein Regenwurm durch seine Augen schlängelte. Wenn ich mir dessen nicht bewusst war, wer hätte es sonst sein sollen?

Erneut durchbrach das Donnern die ansonsten stille Nacht.

»Ist das dein Versuch mit mir zu kommunizieren?«, rief ich nach oben, anstatt konstant nach unten zu sehen, wo sein weltlicher Körper sich gerade zersetzte.

Ein Blitz folgte auf meine Frage, was ich nur allzu gerne als Bestätigung sehen wollte. »Ich hoffe, du hast dich zumindest ordentlich verabschiedet. Weil ich würde als nerviger Geist zurückkehren, wenn ich nicht die Gelegenheit dazu gehabt hätte.« Wie funktionierte das? Durfte man sich den Ort aussuchen, an dem man sein Unwesen trieb? Konnte ich sehen? Gegenstände verschieben? Das Wetter beeinflussen?

Es fühlte sich fast an, als würde Gianni mich für meine Überlegungen auslachen. Also goss ich erneut einen Schluck Alkohol auf sein Grab. »Ich hoffe, du kannst mir irgendwie vergeben, dass ich dich im Stich gelassen habe. Und den anderen auch. Das lässt keinen von uns kalt.«

Gespannt blickte ich nach oben in den Himmel, beobachtete das Wetterflimmern, bevor erneut ein Blitz laut krachend über den Himmel zuckte. Direkt im nächsten Moment folgte das Donnergrollen.

»Ich nehme das als Ja – ansonsten hätte der Blitz sicher mich getroffen.« Mir entwich ein Schnauben. Dann stellte ich die Flasche auf dem Grabstein ab. »Erzähl bloß keinem, dass ich dir ständig auf den Keks gehe, klar?«