J edes Donnergrollen vibrierte bis tief in meine Knochen. Ich hatte sämtliche Lichter im Schlafzimmer ausgeschaltet, damit ich sehen konnte, wie die Blitze über den Himmel zuckten. Irgendwann klatschten dicke Regentropfen gegen das Fenster, was wirklich in absolutem Kontrast zu der sternenklaren Nacht stand, die nach dem leuchtenden Sonnenuntergang hereingebrochen war.
Nicht, dass ich mich beschweren wollte, denn die kühle Luft, die durch die sich aufbauschenden Vorhänge der Balkontür hereinströmte, war eine Wohltat für mein Nervensystem.
Auch wenn ich gerne behauptet hätte, den Abend über absolute Ruhe verspürt zu haben, so war es doch immer wieder eine Frage gewesen, wie viel Belastung ich in diesen Situationen wirklich ertragen konnte. Zwar trug ich all das nicht allein, doch letztendlich lag es in meiner Verantwortung, diese Menschen zu schützen. Frauen. Kinder. Männer, deren Loyalität ich mir nicht zu einhundert Prozent sicher sein konnte, und die ich trotzdem irgendwie für mich gewinnen wollte und musste.
Nicht zum ersten Mal frage ich mich, was für einen Unterschied es gemacht hätte, wenn wir weiterhin zu fünft gewesen wären. Vier Männer, die mir mit ihren verschiedenen Talenten zur Seite standen und ich, die alles irgendwie in sich vereinte.
Mir entwich ein leiser Fluch. Die wenigen Gespräche, die Gianni und ich geführt hatten, waren einfach nicht genug gewesen – und jetzt gab es keine Möglichkeit mehr, mit ihm zu kommunizieren.
Er war einfach verschwunden, nichts weiter mehr als ein Schatten, der mich an sonnigen Tagen verfolgte, weil er ohne mich nicht weiter existieren würde.
Ich ging vor meinem Nachttisch auf die Knie, zog die Schublade auf und begann, darin herumzuwühlen. Vor gar nicht allzu langer Zeit war das auch der Friedhof der getrockneten Rose gewesen, die ich über Jahre hinweg aufbewahrt hatte.
Inzwischen hob ich hier nur noch die ganzen Briefe und Zettel auf, die Domenico mir in den zwei Jahren zwischen seiner Abreise und Wiederkehr geschickt und die zur Belustigung aller gedient hatten, obwohl er mehr Verständnis für Worte und deren Bedeutung hatte, als irgendwer außer mir zugeben wollte.
Ganz unten blieben meine Finger allerdings an etwas anderem hängen, das ich vor ein paar Wochen dorthin verbannt hatte. Die anderen wussten nichts davon – und ich hatte es verdrängt, weil ich mich nicht bereit gefühlt hatte, den Umschlag zu öffnen. Wenn es sich um das handelte, was ich glaubte, würde es mir das Herz vermutlich noch einmal aus der Brust reißen. Wenn es etwas gänzlich anderes war … würde das Gleiche passieren, aber aus einem ganz anderen Grund.
Ich verdrehte die Augen über mich selbst. Es war eine dumme Entscheidung gewesen, das Unvermeidbare aufzuschieben, denn nun wog es umso schwerer. Es war nur ein unscheinbarer Brief. Flach, mit einer Ausbeulung ganz unten. Ich konnte nicht mal benennen, woher das Gefühl stammte, dass es sich um eine letzte Botschaft Giannis handelte.
Trotzdem nahm ich den Brief an meine Brust und ging zurück zu meinem Platz am Fenster. Das Gewitter wütete noch immer und für den Moment war ich allein. Wenn nicht jetzt … wann sonst sollte ich mich meinen Ängsten stellen?
Ich riss ihn auf wie man ein Pflaster abriss. Schnell. Damit es nicht ganz so weh tat, egal was man darunter vielleicht entdeckte.
Mir fiel ein Foto entgegen – und ein winziger Zettel. Ich erkannte meine eigene Handschrift – ungefähr zwanzig Jahre in der Vergangenheit.
Piove, piove
la gatta non si muove,
accendi una candela,
e dici: buonasera!
Das Bild zeigte Gianni und mich, von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt, aber so glücklich wie selten sonst in unserem Leben. Damals hatte keiner von uns gewusst, was uns später erwartete. Wir waren frei und unbeschwert gewesen.
Ich drehte das Foto herum, nur dass es diesmal nicht meine kindliche Handschrift war, die mir entgegenleuchtete. Ich habe jeden Moment bis hierhin genossen. Wenn du den Donner hörst, ist der Blitz längst vorbei. Vergiss es nicht – und bitte sag Ja.
Bis gerade eben hatte ich auch verdrängt, dass ich eigentlich schon ahnte, was für die Ausbeulung in dem ansonsten unscheinbaren Brief gesorgt hatte. Ich schluckte, drehte ihn herum und schüttelte, bis der Ring auf meine ausgestreckte Hand fiel. Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen. Unwillkürlich sah ich nach draußen, denn ein weiteres Grollen erschütterte den pechschwarzen Himmel.
Ganz unten auf dem Foto, winzig klein in eine Ecke gekritzelt fand sich eine weitere, hastige Notiz. Davon gibt es noch vier weitere. Trag meinen um den Hals, ja?
Ich legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, in der Hoffnung, dass die Tränen, die sich dort gesammelt hatten, nicht überliefen. Doch das änderte nichts daran, dass ich das Gewicht des einen Ringes die ganze Zeit über in meiner Hand spürte, wie sich die abgerundeten Seiten in meine Haut bohrten.
Es war keine spontane Idee dieser Männer gewesen, mich miteinander zu teilen – sondern von langer Hand geplant. Und so gerne ich auch wütend darüber gewesen wäre, konnte ich doch nicht leugnen, dass es genau das war, was ich gebraucht hatte. Es war die eine Sache gewesen, die mich in all den Situationen, denen ich mich ausgesetzt gesehen hatte, irgendwie zusammengehalten hatte.
»Merda «, stieß ich laut aus und schüttelte den Kopf. »Du wusstest es, oder nicht? Du wusstest, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass dir etwas zustößt und du bist trotzdem mit ihm gegangen! Fuck . Ist dir eigentlich bewusst, dass du hier sein solltest? Ich könnte eine beschissene Umarmung wirklich gut gebrauchen.«
Nur mit Mühe gelang es mir, den Impuls zu unterdrücken, den Ring quer durch den Raum zu schleudern, das Bild zu zerreißen und den Zettel zusammenzuknüllen und draußen vom Regen davonschwemmen zu lassen.
Kopfschüttelnd erhob ich mich und starrte nach draußen in die Nacht, bis es wieder blitzte. Und wenige Sekunden später donnerte. »Arsch. Gianni, du bist ein Arsch. Und wenn du das wirklich ernst meinst, in Form eines Gewitters mit mir zu kommunizieren, dann … wirst du den gesamten Sommer über keine Ruhe haben. Ich will dich jede Nacht hören, damit ich endlich wieder ruhiger schlafen kann. Verstanden? Weißt du, du hättest es dir wirklich einfacher machen können – uns allen. Bei den Göttern, du hättest wirklich kein Naturphänomen werden müssen, um mich auf Knien zu sehen.«
Denn darauf lief es hinaus, oder nicht? Ich würde für diese Männer auf die Knie gehen und genau das tun, was Gianni anscheinend bereits vorhergesehen hatte. Wie lange hatte ich mich nun gegen eine Hochzeit gewehrt und alles dafür getan, um sie zu vermeiden? Und jetzt stand ich hier, hatte einen Ring in der Hand und irgendwo warteten vier weitere, damit ich sie den Männern an den Finger stecken konnte, die einfach beschlossen hatten, dass ich in ihrer Mitte besser aufgehoben war als sonst irgendwo.
Es fühlte sich beinahe falsch an zuzugeben, dass ich nicht dazu in der Lage war, einen anderen Ausgang heraufzubeschwören. Weder wollte ich mich für einen von ihnen entscheiden, noch gab es Gründe, sie alle nach Hause zu schicken. Ich brauchte sie alle. Jeden einzelnen von ihnen – und auch wenn sie Giannis Abwesenheit nicht würden ausfüllen können, so hatte ich doch durchaus gesehen, was für eine Auswirkung es auf uns alle genommen hatte. Wir veränderten uns, um seinem Andenken gerecht zu werden und es uns allen irgendwie zu ermöglichen, das zu bekommen, was er zu unserer seltsamen Gruppe beigetragen hatte.
Ich hielt die Luft an. Drehte den Ring in meinen Fingern umher. Gerade erst hatte ich offiziell die Stelle als Capo der sizilianischen Mafia angetreten. Wenn ich als Nächstes öffentlich heiratete, und dann auch noch drei Männer statt nur einen … vermutlich würden die traditionsversessenen Bastarde mich lynchen.
Ganz zu schweigen davon, dass ich nicht bereit war, um – ich unterbrach mich selbst. Ich war auch nicht bereit dazu gewesen, Gianni zu verlieren. Wenn ich danach ging, würde ich niemals bereit sein für irgendetwas.
»Schön. Du hast gewonnen. Ich sage Ja. Zufrieden?« Natürlich grollte draußen erneut der Donner, sodass ich den Kopf schüttelte. Ein wenig auf den Arm nehmen wollte er mich schon, oder? »Gibt das dann eine Hochzeit bei Gewitter und Regen, oder …«
Den Satz beendete ich nicht, vor allem weil ich daran denken musste, wie ich mit Lucifer Brautkleider anprobiert hatte und was das Endergebnis von meinem plötzlichen Anfall gewesen war, irgendetwas zu finden, das meinem Stil entsprach. Wären wir nicht in diesen verdammten Laden gegangen …
»Glaubst du, sie sagen alle Ja?« Vielleicht spürte ich so etwas wie Nervosität. Das war keine gute Idee, oder? Das war eine spontane Eingebung. Morgen früh würde ich es anders sehen. Oder nicht?
Ich starrte den Ring in meiner Hand an und wusste, dass mir die Antwort nicht gefiel.