KAPITEL 33

LUCA

S eit ich das Gespräch zwischen meiner Tochter und Callisto belauscht hatte, stellte ich mir seit Tagen immer wieder die Frage, wann sie uns aus dem Nichts heraus damit erwischen würde. Ganz offensichtlich war sie Meisterin darin, andere unwissend dazu zu zwingen, sich in Geduld zu üben. Oder hatte sie letztendlich doch mitbekommen, dass ich während ihrer Unterhaltung im Flur gestanden hatte und ließ mich nun absichtlich warten?

Was auch immer es war, es sorgte dafür, dass ich eine gewisse Anspannung spürte.

In der Regel war es immer der Mann, der den Antrag machte. Dass wir allesamt darauf warteten, dass der erste Schritt von ihr ausging, zeugte zwar von der Fortschrittlichkeit unserer Beziehung, sorgte gleichzeitig aber auch dafür, dass die Kontrolle nicht in meiner Hand lag. Oder unserer – je nachdem, wie man es betrachtete.

Mein Wissen über ihren Plan ging außerdem mit einer gewissen Verantwortung einher, denn ich hatte mir geschworen, weder Lucifer noch Domenico darin einzuweihen. Also gab es auch niemanden, mit dem ich darüber reden konnte. Keine Menschenseele – und Selbstgespräche waren einfach nicht mein Mittel der Wahl, egal wie effektiv für andere sie auch sein mochten.

»Irgendwas beschäftigt dich doch«, meinte Lucifer gerade zu mir. »Dieser Blick. Den kenne ich. Fällst du gerade in alte Muster zurück und machst dir Vorwürfe, die nicht gerechtfertigt sind?«

Demonstrativ stellte er sein Glas auf der Kücheninsel ab, sah mich auffordernd an und verschränkte die Arme, als würde mich das dazu bringen, ihm die Wahrheit zu erzählen.

Unter anderen Umständen hätte es mit Sicherheit funktioniert, allerdings nicht wenn es darum ging, ein Geheimnis für mich zu behalten, das die anderen beiden Männer überraschen sollte.

In diesem Flur zu stehen und zu hören, wie Callisto Viviana um Erlaubnis gefragt hatte, war ein Erlebnis für sich gewesen. Es hatte etwas in mir ausgelöst, von dem ich nicht geglaubt hatte, dass ich es so bald wieder spüren würde.

Nach all den Geschehnissen waren meine Empfindungen ihr gegenüber zu einer Konstanten geworden. Keine Auf und Abs mehr, keine Achterbahnfahrt, die mich verunsicherte, sondern eben eine gerade Linie, die sich nicht veränderte.

Aber dieser Moment … der hatte etwas verändert, obwohl ich es nicht für möglich hielt. Nicht nur hatte er bewiesen, was für eine Entwicklung sie durchgemacht hatte, und dass es nicht mehr nur die Trauer war, die sie beschäftigte, sondern eben auch, was für eine Art von Einfluss Gianni auf sie, und im Nachhinein eben auch auf uns alle, gehabt hatte.

»Ich mache mir keine Vorwürfe«, brummte ich. Darüber war ich hinaus.

Irgendwie war es mir gelungen, mit mir Frieden zu schließen und zu akzeptieren, was geschehen war. Callisto hatte es getan. Warum sollte ich mich weiterhin selbst bestrafen, indem ich an etwas festhielt, was für sie keine Bedeutung hatte? Zumindest keine Bedeutung in jenem Sinne, dass sie es mir zum Vorwurf machen würde.

»Und warum dann der nachdenkliche Blick?«

»Vielleicht aus dem simplen Grund, dass ich nachdenke?«

»Über?«

Seine direkte Nachfrage brachte mich zum Lachen. »Darüber, dass du mir gerade enorm auf die Nerven gehst.«

Lucifer äffte mich nach. »Ich versuche hier nur dafür zu sorgen, dass uns niemand abhanden kommt.«

»Abhanden?«

»Ja, du weißt schon. Psychische Probleme sind ein Ding, und wenn man sich zu spät darum kümmert …«

»Holen sie einen auf ganz miese Weise ein. Ja. Aber weder habe ich psychische Probleme, noch gibt es etwas, das mich urplötzlich aus dem Nichts heraus einholen könnte.«

Nachdenklich sah Lucifer mich an, und beinahe hätte ich ihm auf den Gesichtszügen ablesen können, was in seinem Kopf vor sich ging. »Was ist es dann, das dich beschäftigt?«

Eine berechtigte Frage, auf die er keine Antwort von mir erhalten würde.

Nicht jetzt. Und vielleicht auch nicht, nachdem es kein Geheimnis mehr war, was Callisto plante.

Domenico rettete mir den Arsch, denn keine Sekunde zu früh kam er mit einem Strauß Sonnenblumen in die Küche spaziert. Doch das war keines der Bouquets, die er heimlich an Callie schickte – dazu handelte es sich vor allem um die komplett falsche Sorte Blumen.

»Wenn irgendein Idiot ihr Blumen schickt, um sie zu umgarnen, gehe ich heute offiziell noch auf eine kleine Mordtour«, verkündete er, bevor er die Vase mit zu viel Nachdruck auf die Anrichte donnerte.

»Wenn irgendein Idiot glaubt, er hätte mehr Anrecht auf sie als einer von uns, die wir für jedes bisschen Zuneigung ihrerseits lange gekämpft haben, bekomme ich Zustände«, fuhr er mit einem düsteren Knurren fort, und griff nach dem weißen Umschlag, der sich inmitten der Sonnenblumen befand.

An der Art und Weise, wie er das Kuvert aufriss ließ sich erkennen, dass ihn diese Möglichkeit aufwühlte. Domenico hatte ja keinen blassen Schimmer, was Callisto insgeheim bereits plante zu tun.

Während Lucifer und ich ihn einfach nur anstarrten und darauf warteten, dass er uns vom Inhalt des Umschlages berichtete, hob er irritiert eine Augenbraue. »Das ist … seltsam.«

»Was?«, hakte ich nach.

Das letzte Mal, als Callisto einfach so Blumen bekommen hatte, waren sie von Domenicos Onkel gewesen und hatten zu einer Revolution geführt. Und obwohl diese Veränderungen sich als gut herausgestellt hatten, so verspürte ich trotzdem kein Bedürfnis nach einer so unmittelbaren Wiederholung.

»If you need me to sit in silence forever, in order to gain access to a future worthy of drowning in your presence – i will ”, begann er, die Augen ein wenig verengt. »make me pull out my words before i show you the parts of my body that won’t last forever. ” Domenico verengte die Augen noch weiter. »carve, kitten. carve your name underneath my collarbone, for i have never known a sting sharper than your tongue.

Mit jedem Zettel, den er hervorzog, wurde mir klarer, worauf es hinauslief. Keines der Worte war neu für mich, es war lediglich ungewohnt, sie von Domenico selbst zu hören und nicht als eine Art Parodie aus Lucifers Mund.

»Was zum …«, murmelte er, als er auch den letzten Zettel auf der Anrichte abgelegt hatte. »Ich bin nicht davon ausgegangen, dass …«

»Ich sie jemals gelesen, geschweige denn aufgehoben habe?«

Gleichzeitig drehten wir den Kopf in Callistos Richtung, die sich irgendwann in den letzten Sekunden aus dem Nichts heraus angeschlichen haben musste.

»Damals konnte ich sie nicht so wertschätzen, wie ich es jetzt kann. Mittlerweile bedeutet mir jedes Wort etwas – aber darum geht es gar nicht. Seht es als eine Art Einladung an. Ich hab euch allen ein paar Koordinaten auf eure Smartphones geschickt. Heute Abend – wenn ihr Lust habt.«

Noch bevor sie überhaupt zu Ende gesprochen hatte, entfernte sie sich bereits wieder aus der Küche.

Genau so kryptisch wie sie aufgetaucht war, verschwand sie also wieder. Während die anderen beiden sichtlich verwirrt schienen, war für mich alles so klar wie noch nie zuvor.

»Was hat das zu bedeuten?«, brach Lucifer schlussendlich das Schweigen.

Eines musste ich Callisto lassen. Der Aufbau ihrer geheimen Mission war grandios. Die Verwirrung. Die leichte Erwartungshaltung, die sich nach und nach einschlich …

»Das bedeutet, dass ich mich an ihr Faible für Männer im Anzug erinnere und ich schätze, dass wir so bald nicht wieder eine Gelegenheit dazu bekommen werden«, warf ich ein, zuckte mit den Schultern und trat ebenfalls den Rückzug an, bevor sie noch dazu kamen, mein Verhalten ebenfalls in Frage zu stellen.

Was Domenico eben vorgelesen hatte … das waren keine leeren Aussagen, die man getrost übergehen konnte. Auf ganz andere Weise als ich hatte er ihr in den vergangenen beiden Jahren einen Teil seiner Seele geschenkt. Und auch wenn es seine Zeit gebraucht hatte, befanden wir uns nun alle auf demselben Pfad.

Dass es für uns alle ein und derselbe war, würden die anderen beiden heute Abend erfahren.