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Falke: Taube?
–
Falke: Adler?
–
Falke: Habicht?
–
Falke (schreit): Taube! Adl–
–
Taube: Fa– Fa–lke.
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Falke: Hallo, wer ist dran! –
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Taube: Hol Hil–fe!
Alles vorbei.
In sich zusammengefallen.
Beginnend bei dem großen, roten, aufblasbaren Bogen zwischen den Weinstöcken bis möglicherweise hin zu diversen Straffungen und Silikon-Implantaten. Willibald Adrian Metzger hat Derartiges noch nie erlebt. Eine Massenpanik, ausgelöst durch ein Ereignis, bei dem es auch wirklich verdammt schwer ist, Ruhe zu bewahren.
Begonnen hat es mit Charlie.
So viele Elefanten wird es nicht geben, die über lange Zeit Partylärm ertragen müssen, das Gequatsche, das Dröhnen aus den Boxen, und dann auch noch entspannt auf ein paar Schüsse reagieren. Denn selbst wenn so ein Viecherl jungfräulich wäre im akustischen Sinn, noch nie das Hämmern eines Schlagbolzens, den Knall, das Pfeifen, den Pulverschmauch erleben musste, weiß es trotzdem auf Anhieb: Nicht lustig!
Charlie jedenfalls hatte vor seiner Zirkuskarriere ein Vorleben, dem eine gewisse Empfindlichkeit gegen derartige Geräuschentwicklungen zu verdanken ist. Ergo darf er im Programm des Zirkus Juwel seine Ich-mach-mich-zum-Deppen-Nummer erst dann vorführen, wenn die vier Araberpferde Black, Beauty, Spirit und Pilgrim, die drei Kamele Omar, El und Sharif und der Königstiger Rufus längst wieder in ihre als artgerecht titulierten Zellen gesperrt wurden, er also nichts mehr hört von dem Peitschen-Geschnalze in der Manege.
Zeitgleich mit Verklingen der Schüsse irgendwo zwischen den Dornhauer-Weinreben war es bei Charlie also vorbei mit der Geduld. Spielerisch leicht hat er den Eisenhaken aus der Erde gezogen, sich damit in Bewegung gesetzt, und wer dabei an Zeitlupe denkt, irrt gewaltig. Irgendwann ist auch bei einem Elefanten Schluss mit der Gemächlichkeit. Gut, ein Radarfoto in einer 30er-Zone wird so ein Dickhäuter keines zusammenbringen, trotzdem hat beispielsweise der Bulle namens Big, ein 2800-Kilo-Brocken, immerhin 25 Stundenkilometer hingelegt. Bestzeit unter Elefanten. Da geht also schon etwas weiter.
Jetzt ist der gute Charlie natürlich kein Topathlet mehr, ein wenig eingerostet vor lauter Patschenheberei, Linksdrehung und Rechtsdrehung, aber so um die 18 Stundenkilometer dürften es schon gewesen sein. Klingt kommod, sind aber fünf Meter pro Sekunde. Vom Fernsehsofa zum Stutzflügel vielleicht, wer einen hat, oder vom Schlafzimmer aufs Klo. In einer Sekunde! Hieße: einen Marathon, sprich 42,2 Kilometer, in zwei Stunden, 20 Minuten und 29 Sekunden herunterzuspulen. Obendrein mit einer schweren Kette inklusive monströsem Eisenhaken an den Beinen.
Viel Spaß.
Spaß in diesem Fall auch für die anderen. Denn so ein Ding schwingt, eine wahre Freud ist das. Nur eine Abrissbirne kann da mithalten! Und wenn Thaddeus Dornhauer eines Tages noch sein eigenes Hirn entdeckt, baut er das nächste Salettl entweder a) als Dichtbetonkeller, oder b) lädt einfach keinen Elefanten mehr ein. Wie ein Kartenhaus ist es nämlich in sich zusammengefallen.
Willibald Adrian Metzger jedenfalls kann von Glück sprechen, nahe genug bei Charlie gestanden zu haben. Sozusagen in dessen Startphasen-Zone. Was weder von dem Maserati des Maserati-Mannes noch von der Trockenhaubenfrisur der Britta Satratra oder der dank Botox sich wieder goldig fühlenden Baumeister-Ex behauptet werden kann. Obwohl ein Baumeister in Anbetracht des Trümmerhaufens jetzt Gold wert wäre. Auch der Ex-Nationaltorhüter hat sich hoffentlich schon einmal besser geschmissen, aber zum Glück nicht gar so schlecht wie einst auf den Färöer-Inseln. Verloren sind diesmal also nur seine Kontaktlinsen und sein Funken Restwürde. So wie bei allen anderen. Denn was sich da im Netz in Windeseile verbreitet, wünscht sich keiner.
Haufenweise Elefantenvideos. Charlie in der Manege des Zirkus Juwel. Charlie in seinem Freigehege. Charlie beim Männchenmachen während der Dornhauer-Party, der Applaus der Leut. Dann diverse Filmchen namens Charlies Rache, Charlie-Chaplin-artig nachbearbeitet, die das einstürzende Salettl zeigen, all die panisch vor Charlie und seiner schwingenden Kette davonlaufenden Gäste und Adabeis, wie sie in Deckung gehen, betrunken davonstolpern, kreuz und quer. Schwerverletzte gibt es zum Glück keine, ein paar Schürfwunden und Kratzer aber schon. Letztere vor allem in Kombination mit haufenweis Dellen und zerborstenen Windschutz-, Heck- und Seitenscheiben. Da bleibt kaum ein Fahrzeug über, an dem kein Andenken dieses in Zukunft gewiss legendären Abends hinterlassen wurde. Denn logisch sucht sich so ein Dickhäuter nicht unbedingt die engsten Stellen und unwegsamsten Passagen für seine Flucht. Die Straße ist Charlie hinuntergelaufen, und gepfiffen hat er auf jede einzelne der dort geparkten Karossen, ob Tesla, Porsche oder Hummer. Sein Hunger auf Freiheit war zu groß. Die diversen Fachwerkstätten werden alle eine Freude haben, im Gegensatz zu den Versicherungen und natürlich zum Zirkus Juwel.
Abermillionen Klicks weltweit. Eine Online-Petition namens Freiheit für Charlie schon am nächsten Tag. Johnny Depp wird sich melden, Katy Perry, der Clooney Georg für einen kurzen Spot die Dreharbeiten zur nächsten Nespresso-Werbung unterbrechen, Melania Trump wird sich verlieben, endlich ein Dickhäuter mit Hirn, die österreichische Bundesregierung wird sich das Stichwort „Elefant“ notieren, sollten eines Tages aus welchen Gründen auch immer Abstandsregeln verordnet werden ... Ja, und die Show des Zirkus Juwel wird wohl ein Trauerspiel werden. Der Kartenverkauf wie Charlies Kette sehr schleppend.
Bitter für die Artisten, Akrobaten, den einen Clown.
Doppelt bitter für die vier Araber: Black, Beauty, Spirit und Pilgrim,
die drei Kamele: Omar, El und Sharif,
den Tiger Rufus.
Denn geht es dem Zirkus schlecht, geht es den dort inhaftierten Tieren am schlechtesten.
Charlies Rache jedenfalls geht in die Geschichte ein. Als You-Tube-Hit.
Und nicht nur die.
So auch ein Video, das Willibald Adrian Metzger zukünftig stets an jenen Dornhauer-Angel wird denken lassen, dem er sein Heimkommen zu verdanken hat, denn von Petar Wollnar samt Pritschenwagen fehlte jede Spur.
Völlig verdutzt stand der Restaurator neben den Weinstöcken, rundum das Chaos. Alle waren da, die Polizei, Rettung, Feuerwehr, Letztere nicht, um ein Katzerl aus einer Baumkrone zu fischen, sondern einen Elefanten aus einem Baggerteich. Und als dann auch noch ein Leichenwagen eintraf, weil da zwei Tote inmitten der Weinberge gefunden wurden, wollte der Metzger nur noch heim. Da kann er dem wilden Treiben rundum nur dankbar sein, ansonsten nämlich wäre er von jenen Männern geschnappt worden, deren Auftrag lautet, ihn zu finden.
Erwischt wird er trotzdem.
„Sie schauen aber sehr verloren aus?“, kam nämlich eine adrette junge Frau mit Kurzhaarfrisur, in Jeans und Sportschuhen an ihm vorbei, eine Sporttasche in der Hand.
„Meine Mitfahrgelegenheit hat sich in Luft aufgelöst!“
„Dann steigen Sie bei mir ein, ist zwar nur ein Elektro-Mini, aber dafür muss sich da nix in Luft auflösen, so abgasfrei ist der unterwegs!“
„Das ist nett von Ihnen. Aber Sie kennen mich doch gar nicht?“
„Natürlich kenn ich Sie. Sind Sie nicht der Skispringer Herr Irschenberger, der nach Herrn Illicz auf der Gästeliste steht? Oder doch die Frau Janitschek?“ Angelächelt hat sie ihn, ihre Sporttasche geöffnet, ihm den roten Overall, die blonde Perücke, die Stöckelschuhe und die Plastikbrust-Einsätze gezeigt.
„Ich bin Texas, eine der Fischersfrauen vom Dornhauer, heiß im echten Leben Natalie und studiere Automotive Engineering. Fahrzeugtechnik!“
Wenn die Maske fällt, kann das Darunter gelegentlich Labsal sein. Gut tat ihm das, dem Metzger, während der flüsterleisen Fahrt nach Hause ein kleines Einführungsseminar in Strömungsmechanik zu erhalten und somit trotz seiner großen Sorgen um Danjela und nun auch um Petar Wollnar ein wenig auf andere Gedanken zu kommen – sprich keine mehr.
„Hallo?“
„–!“
„Ich schlag Sie jetzt äußerst ungern, aber es muss sein.“
„–!“
„Dann fester.“
„Sind wir schon da!“
„Seit 30 Minuten. Und ich könnt mir das hier noch stundenlang ansehen, aber mir fallen die Augen zu. Zeit, ins Bett zu kommen.“
„Ma. Verzeihung. Bin ich eingeschlafen?“
„Kein Problem. Ich versteh das als absolutes Kompliment hinsichtlich meiner Fahrkünste!“
„Sie sind ein Engel.“
„Nur eine Angel. Im Gegensatz zu Ihnen!“
„Versteh ich nicht?“
„Dann bitte! Meine Stöpsel sind sauber, denk ich!“, wandert ein Kopfhörer in Willibalds Ohr und ein Handydisplay in seine Hand. Und los geht’s. Die Stimme hört sich fremd an, könnte ihm aber bekannter kaum sein:
„... Dejan, Mitglied des albanischen Sulemanjiu-Kartells. Was haben Sie damit zu tun, Dornhauer? Oder mit dem Dushku-Clan? Sind die Verbrecher alle Ihre Freunde? Was, wenn Danjela etwas passiert ist!“
„Um Himmels willen, das bin ja ich!“ Und Dornhauer, und rundum die schweigende Menge.
„Da können S’ ihn dann gleich verhaften, diesen Mörder hier ...“
Alles drauf.
„Wieso ein Mörder?“
Der Metzger kann kaum hinhören und hinsehen schon gar nicht.
„Unzählige Beispiele gibt es, wie jeder hier ein Mörder werden kann. Jeder. Sich eine Topfpflanze besorgen, auf das Fensterbrett stellen – und von da an kein Gießen, Düngen, einfach nichts! ...“
„Löschen S’ das, Natalie!“, gibt er ihr das Smartphone samt Kopfhörer retour, „Ich bitt Sie!“
„Kann ich nicht, ist nicht von mir und hat bald hunderttausend Klicks! Tendenz stark steigend!“
„Klicks?“
„Leute, die es gesehen haben!“
„Hunderttausend!“, verliert der Metzger an Gesichtsfarbe. Was, wenn da der eine oder andere Zuseher aus dem Sulemanjiu-Kartell oder Dushku-Clan oder weiß der Teufel dabei ist?
„Sie sind ein Star, Metzger! Der Elefantenretter. Sehen Sie sich den Titel des Videos an: Charlie’s Angel. Gratuliere!“
Mehr als ein „Danke fürs Heimführen!“ bringt der Metzger nicht mehr zustande und steigt aus, auch wenn Natalie nun wieder putzmunter scheint.
„Sie Superheld!“, ruft sie ihm hinterher. „Soll ich Ihnen meinen Latex-Overall borgen?“ Und auch, wenn Natalie nun herzhaft lachen kann, ihm während des Davonfahrens mit einem „Elefanto-man!“ noch fröhlich winkt, ist das für den Metzger alles nicht zum Spaßen.
„Petar?“, flüstert er und sieht sich auf der Straße um.
Still ist es. Links und rechts die Fassaden der Häuser, größtenteils Bauten aus der Gründerzeit, kastenartig, drei- bis sechsstöckig, manche mit recht opulentem Stuck und oberhalb der Fenster, wie Augenbrauen, herausragenden Dekorleisten. Manchmal scheint es dem Metzger, die schmale Gasse zwinkert ihm zu, schelmisch, auffordernd, versöhnlich, je nachdem. Im Moment vielleicht ein wenig wie: Aufpassen, Willi!
Die Gehsteige noch aus alten Pflastersteinen, der Fahrstreifen mittlerweile asphaltiert. Eine Einbahn. Entsprechend zeigen die Schnauzen der stets lückenlos geparkten Autos alle in dieselbe Richtung.
Wer hier wohnt und trotz des ebenso lückenlosen öffentlichen Verkehrsnetzes glaubt, einen Wagen besitzen zu müssen, wird Tag für Tag abgestraft. Endlose Parkplatzsuche, oft elendsweit weg fündig werden, dann erst recht ein erhebliches Stück bis nach Hause hatschen dürfen, mit schwerem Einkauf sogar sehr erheblich, und tags darauf dann mühselig den durch sich selbst besetzten Parkplatz wiederfinden müssen, weil vergisst man ja, wo die Kiste steht.
Der Metzger wird sein Lebtag überzeugter Straßenbahn-, Bus-, gelegentlich Taxifahrer bleiben. Irgendwann vielleicht mal Rettungs- und ganz sicher Leichenwagen. U-Bahn und Fahrrad nur im Notfall. Tretroller nie. Ja, und manchmal: Petar Wollnar.
Doch kein Pritschenwagen weit und breit.
Auch nicht in der Hofeinfahrt. Denn dort parkt schon wer – und wäre Petar zuhause, stünde dieser alte Mercedes hier nicht lange.
Müde betritt der Restaurator das Stiegenhaus, steigt die Treppe zur Wollnar-Wohnung empor, würde es gern bei seinem Freund probieren, klopfen, klingeln.
Doch besetzt. Und dem Metzger stockt der Atem.
Direkt vor der Tür des Hausmeisters sitzt jemand.
Wie ein Chirurg sieht er aus. Weite, hellgrüne Hose, hellgrünes Kurzarmshirt, grünes Haarnetz. Offenbar direkt aus dem OP, nach einem schwerwiegenden Eingriff, denn da haftet Blut an seiner Kleidung. Reichlich sogar. Seitlich an den Türstock gelehnt, hockt er wie ein U-Hakerl mit hängendem Kopf auf einem Schemel, und wirklich lebendig sieht er nicht mehr aus.
Da ist der einsetzende Atem dann direkt eine kurze Beruhigung.
Mehr aber auch nicht. Denn logisch muss der Metzger jetzt an das Video denken, die bald hunderttausend Klicks! Tendenz stark steigend.
Wer also ist dieser Kerl?
Dushku-Clan? Sulemanjiu-Kartell?
Auch wenn seine Arbeitskleidung jetzt nicht unbedingt den Auftragskiller vermuten lässt, nur was heißt das schon. Auch Auftragskiller müssen sich vor lauter Reizüberflutung à la Bumm-Tschak-Videospiele und Actionkracher, James Bond über Hitman bis John Wick, immer wieder etwas Neues einfallen lassen, um nicht gleich automatisch als Auftragskiller enttarnt zu werden.
Besser verkleidet geht also kaum.
Waffe hat der Kerl allerdings keine in der Hand.
Mit einem dezenten Räuspern versucht sich der Metzger in einer ersten Kontaktaufnahme. Doch vergeblich. Also weiter.
„Hallo!“
Tiefe Atemzüge die Antwort. Mehr nicht.
Als Killer seinen Auftrag so dermaßen zu verschlafen, spricht dann doch gegen eine derartige Profession. Vielleicht ist er ja tatsächlich so ein Operateur, ein Aufschneider, wenn auch weniger Kategorie Skalpell-Akrobat als Fleischermeister.
Der Metzger und der Metzger sozusagen.
Vorsichtig berührt der Restaurator mit seiner Fußsohle den Unterschenkel des Chirurgen, lauter nun seine Stimme.
„Hallo! Sie!“
Ruckartig, als wäre eine Münze eingeworfen worden, schnellt der Kerl hoch, sieht den Metzger vor sich: „Ja, Fleischhauer! Auch schon hier!“ Und Willibald Adrian versteht die Welt nicht mehr.
„Das glaub ich jetzt nicht!“
„Geht mir genauso!“, wird der Restaurator nun skeptisch gemustert. „Wie kann ein Mann nur so außer Haus gehen, in diesem Fetzen-Sakko, außer er will Spenden sammeln für den Eigenbedarf!“ Er steht auf, klappt seinen Hocker zusammen und geht voran, dezent humpelnd. „Ach Fleischerl! Und da wunderst du dich, wenn dir die Weiber davonlaufen, hehehe!“
„Senekowitsch, was bitte machst du hier? Als Chirurg verkleidet? Wolltest mich erschrecken? Oder auf ein Faschingsfest und hast dich verirrt? In Jahreszeit und Ort.“
Ohne sich umzudrehen, steigt Heribert Senekowitsch behäbig die Stiegen abwärts: „Wie kann das sein, Metzger, dass es im Jahr 2020 noch Leut wie dich gibt, die kein Mobiltelefon einstecken haben und die man, falls sie bis dahin überleben, persönlich abholen muss. Ich weiß, was so eine Erfindung wert ist. Glaub mir.“
Nein, das sieht nicht gut aus, wie sich Heribert Senekowitsch da die Stiegen hinuntermüht. Sein rechtes Bein ist ihm eindeutig nicht mehr ausreichend geläufig, um noch einen geschmeidigen Schritt zu ergeben. Und ohne Geländer müsste er sich wahrscheinlich beim Metzger festhalten.
Trotzdem lässt er ihn mit nun strengem Ton wissen: „Jetzt komm schon, du sturer Bock, wenn ich schon extra wegen dir herkomm. Fahren wir!“
„Fahren? In deinem Zustand? Maximal mit der Rettung!“
„Die wirst du, wenn du Glück hast, selber brauchen, weil wie mir zu Ohren gekommen ist, sieht es in deinem Fall eher nach Leichenwagen aus! Wenn du die Nacht überleben willst, musst du mit mir vorliebnehmen. Ich an deiner Stelle würd mich also beeilen!“, öffnet er nun die Vorhaustür hinaus auf die Straße. „Außerdem geht es ihr nicht gut!“
Es nimmt kein Ende.
Das nächste Auto. Die Reise geht also weiter.
Was soll er auch anderes, der Metzger, als sich darauf einlassen. Diesmal in einem alten Mercedes mit Automatikgetriebe und einem Lenker mit schmerzverzerrtem Gesicht.
„Was fährst du so hatschert und was schaust so angespannt, Senekowitsch, als wärst du selber unter dem Skalpell gelegen?“
„Bin ich!“, zieht er sein rechtes Hosenbein hoch, und ein Verband kommt zum Vorschein. „Ein Streifschuss!“
„Offenbar von keinem U-Hakerl!“
„Gab ja doch recht einen Zirkus da oben beim Dornhauer. Also reden wir Tacheles. Wir waren beide dort!“
„Und warum du?“
„Alles zu seiner Zeit.“
„Und operiert hast du dich schnell selber, wie Rambo?“
„Nein, das war Mausi.“
„Wie, hast du dem Baumeister die Exfrau ausgespannt?“
„Hehehe! Nein, eigentlich heißt sie Bianca. Logisch, oder? Von Bernhard und Bianca. Zwei Mäuse. Deshalb Mausi.“
„Ich versteh. Deine Traumfrau. Die Tierärztin!“
Schallend das Lachen des Heribert Senekowitsch.
„Das hast du dir gemerkt. Nicht schlecht, Fleischerl! Wirklich nicht schlecht.“
„Und warum operiert dich eine Tierärztin? Bist du so eine Schwein-Mensch-Hybrid-Züchtung aus einem chinesischen Labor und nicht krankenversichert, oder ist das deine Aufreißermasche? Schmerzhaft, wenn du mich fragst. Da kann man dann nur hoffen, sie erbarmt sich deiner baldigst.“
„Freu mich, dass du noch Humor hast, Willi! Aber ich bin so unsicher ihr gegenüber. Keine Ahnung, ob sie mich mag.“
„Wer mag dich schon!“
Und ja, es tut gut zu lachen. Gemeinsam. Auch wenn der Grund dieser gemeinsamen Fahrt alles andere als lustig ist, der Metzger den kommenden Ereignissen also mit einem durchaus mulmigen Gefühl entgegenblickt.
Heribert Senekowitsch nämlich war in seinem Chirurgenkostüm definitiv auf keinem Faschingsfest. Nicht einmal auf einem Fest.
Fest anpacken musste er allerdings schon, wie er den Metzger wissen ließ. Auch, weil ihm Frau Doktor Mausi einfach vertraut. Er ihr in dringenden Fällen zur Hand geht. Elefanten hat er zwar noch keine operiert, aber zumindest einer Giraffe den Hals gehalten, das ist ja auch schon was.
„Die schlimmsten Fälle kommen immer nachts, so wie vorhin dank Petar Wollnar! Er hat sie gebracht, ich wäre zu spät gekommen!“
Bald geht es auf einen kleinen, am Stadtrand gelegenen Parkplatz und schließlich zu Fuß hinein in ein containerartiges, ebenerdiges Gebäude, wie es ansonsten Blumen- oder Billigkleidermärkte beheimatet. Ein langer Gang, mehrere Türen, und hinein.
Es ist ein karges Zimmer, ein wenig wie eine Klosterzelle anmutend, Bett, Nachtkästchen, Tisch, Sessel, Waschbecken, sogar ein Kreuz hängt an der Wand. Mehr nicht. Für Notfälle gedacht, Hundebesitzer zum Beispiel, die aus welchen Gründen auch immer seit Jahren allein und ohne große sonstige Sozialkontakte mit ihrem kleinen Waldi oder großen Branko in einem gemeinsamen Haushalt leben. Ja, und wenn dann erstmals eine Zeit ohne den vierbeinigen Lebensgefährten ansteht, weil dieser frisch operiert auf der Station in seinem Käfig liegt, samt Plastiktrichter um den Hals, dann darf hier für die Dauer des Aufenthalts das Nebenzimmer bezogen werden, um sich nicht so verdammt einsam zu fühlen. Beides eigentlich. Einsam und verdammt. Eh niemanden haben, und dann erwischt es auch noch den Hund!
Bitter.
Wer hier nächtigen muss, ist also in vielerlei Hinsicht arm dran.
Insofern hat es der aktuelle Gast deutlich leichter.
Hürrem Yildirim.
Schließlich ist sie selbst die Operierte, stark sediert und in Tiefschlaf versetzt, da machen sich dann naturgemäß andere die Sorgen. Ja, und diese anderen gibt es sogar. Menschen also, denen Hürrem am Herzen liegt: Petar Wollnar, der schweigsam in einer Ecke sitzt, die Tierärztin Bianca Karl, dazu Heribert Senekowitsch und der Metzger natürlich.
„Rückgrat und Organe wurden zum Glück keine getroffen. Das Projektil zu entfernen, war aber eine ganz schön komplizierte Angelegenheit!“ Leise die Stimme der Frau Veterinär. „Sie wird Zeit brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen.“ Ein tiefes Durchatmen. „Herr Wollnar und Herr Metzger, Sie sind wie vereinbart so nett und spielen die Nachtschwestern!“
„Wieso vereinbart!“
„Selbstverständlich!“, bestätigt Petar Wollnar.
„Wenn etwas sein sollte, einfach läuten! Und wenn ihr Hunger habt, draußen steht ein Kühlschrank!“, deutet sie hinaus auf den Gang. „Ich muss mich verabschieden. Viel Arbeit morgen“, und tritt auf selbigen hinaus. „Und was machst du, Berti?“
„Ich, Mausi! Ich, ich ...“
„Gute Nacht, ihr Lieben!“ Dann ist sie fort.
„Da kannst du dir beide Beine amputieren lassen, so wird das nichts. Viel eindeutiger kann eine Frau ihre Signale doch nicht aussenden, du Depp?“
„Meinst du, Fleischerl!“
„Und jetzt erklär mir, Senek–!“
„Gar nichts kann ich dir erklären, Willi. Außer, dass du schon genug Blödheiten angestellt hast und ich dich hergebracht habe, um hierzubleiben, bis ich euch wieder hole! Und wenn du mir nicht vertraust, bist du ein toter Mann.“
„Und Danjela?“
„Vergiss endlich Danjela Djurkovic!“
„Vergessen?“
Dann ist er weg, und in Willibald Adrian Metzger breitet sich ein seltsames Gefühl der Nähe aus. Zu seiner Danjela. Was, wenn hinter alldem viel mehr steckt? Was, wenn hier etwas Großes im Gange ist, das weit über seine Vorstellungskraft hinausreicht?
Petar Wollnar, ansonsten schon kein Aushängeschild an Fröhlichkeit, sitzt etwas abseits, betrachtet die an einer Infusion hängende, tief schlafende, sedierte Hürrem, und so mitgenommen scheint er, so in Sorge, wie ihn der Metzger noch nie gesehen hat. Da ist Liebe im Spiel, das steht außer Frage.
„Bravo, Petar!“
Kaum zu hören die Stimme Petar Wollnars: „Wieso?“
„Du hast ihr das Leben gerettet!“
Und dann erzählt er, in sich gekehrt, leise, vorsichtig fast und trotzdem unaufhörlich:
von den Begebenheiten zwischen den Weinstöcken und einer Angst, wie er sie noch nie zuvor in seinem Leben verspürt hatte. Nicht einmal, als im Dezember 1981 der polnische General Jaruzelski in einer Fernsehansprache die Verhängung des Kriegsrechts verkündete und Panzer durch die Straßen fuhren, weil die Sorge umging, die Rote Armee könnte einmarschieren. Und wenn Petar da zwischen den Weinstöcken liegend noch daran geglaubt hätte, ein Gebet könnte helfen, vielleicht wäre ihm eines über die Lippen gekommen.
Er erzählt von Hürrem, einem gewissen Franz, der als Priester verkleidet die Trauung hätte abhalten sollen, und von Major Pichlmayr. Wie ein eingeschweißtes Trio schienen sie.
Erzählt vom Auftauchen des Polizisten Friedmann, wodurch sich alles änderte. Denn aus dem Trio wurden zwei verfeindete Paare:
Hürrem und Major Pichlmayr, die offenbar auch privat liiert waren.
Franz und Friedmann.
„Eine Hinrichtung war das!“, schildert Petar Wollnar. Franz, der Pichlmayr aus unmittelbarer Nähe in den Kopf schoss, auf Hürrem zielte und dabei mit dem herbeilaufenden Friedmann kommunizierte.
Hürrem, die sich wehren konnte, Franz erschoss und davonlief.
Friedmann hinterher, mit den Worten: „Kaplan! Du bist tot!“
Kaplan? Was soll das für ein Fluch sein?
Gestattet sich da ein streng gläubiger Katholik vor lauter Gehtnichtmehr einen patscherten Versuch, nur weil er sich vor dem Fegefeuer fürchtet, würde er Gott oder einen Pfaffen zum Teufel schicken?
Petar Wollnar jedenfalls wollte, kaum war die Luft rein, nur noch davon, saß bereits in seinem Pritschenwagen, um hinauf zum Salettl zu fahren, den Metzger abholen, als er neuerlich Schüsse und dann Friedmann telefonieren hörte: „Die Oide is erledigt. Pichlmayr detto. Franz hat’s leider a erwischt!“
„Also bin ich los“, erklärt Petar, „und lang hab ich sie nicht suchen müssen!“
Blutüberströmt lag Hürrem zwischen den Weinstöcken.
„Ich hol die Rettung, Hürrem!“
„Nicht die Rettung. Dann findet mich die Polizei, und wir sind erledigt, Petar!“ Kaum noch sprechen konnte sie.
„Aber wieso?“
„Weil von Schusswundern auch die Polizei erfährt. Und wer die Rettung verständigt hat, wissen sie auch! Ich sag dir, wohin.“
Worauf Petar Wollnar dieses Leichtgewicht in seine Arme nahm, zum Pritschenwagen trug und dabei die Adresse der Tierärztin geflüstert bekam, sein Inneres währenddessen in Aufruhr wie lange nicht.
„Mach dir keine Sorgen, Hürrem, ich pass auf dich auf!“
Ruhig geht Hürrems Atem. Friedlich sieht sie aus.
„Ich weiß nicht, was sie verbrochen hat, Willibald, und was da los ist!“, erklärt Hausmeister Wollnar. „Aber es muss auch mit dir zu tun haben!“
„Mit mir!“, kennt sich der Metzger nicht aus.
„Ja, weil es wurde davon gesprochen, dich auszuschalten!“
„Mich?“ Willibald Adrian Metzger hat noch selten etwas gehört, das sich auf Anhieb so falsch anfühlt. Und vielleicht hätte er es vor einigen Tagen folglich auch einfach nicht geglaubt, sondern sich auf seine Menschenkenntnis verlassen. Nur damit ist es mittlerweile vorbei. Menschenkenntnis ist der reinste Selbstbetrug, ähnlich einem Dompteur, der behauptet, seine Tiere zu verstehen. Maximal für prächtige Schlagzeilen sorgt so ein Irrsinn:
Zirkus-Horror! Nur noch Schreie zu hören. Vier Tiger reißen ihren Dompteur während der Show in Stücke und spielen mit den Teilen – die Retter müssen eine halbe Stunde lang hilflos zusehen.
Alles passiert.
„Und warum?“
„Weil du offenbar im Weg stehst. Willibald. Wir wissen gar nichts. Nicht einmal, wer sie ist. Nur, dass sie den Laden gegenüber mietet!“
„Hürrem Yildirim!“, tritt Willibald Adrian Metzger an die mit einem Schlag Unbekannte heran. „Nicht einmal im wachen Zustand bring ich meine eigene Frau dazu, mir zu erzählen, wer sie ist! Wie soll uns das bei ihr gelingen?“
Als hätte er gerade Amerika entdeckt, ohne natürlich zu wissen, es könnte sich im Nachhinein als Fehler herausstellen, hebt Petar Wollnar den Arm: „Obwohl oft alle Antworten, die du von einer Frau bekommen kannst, auf dem Tisch liegen!“ Er deutet zum Nachtkästchen. Darauf die aus Hürrems Ohren genommenen Stöpsel und all ihr Hab und Gut. Denn logisch hat der Hausmeister nicht nur die schwer blutende Verletzte zu seinem Pritschenwagen getragen.
Ohne eine Sekunde zu überlegen, ergreift er den für die Damenwelt wohl alles überragenden weiblichen Wertgegenstand – und wer nun behaupten will, dies wäre ein Klischee, darf sich daran erfreuen, wie sehr Klischees nichts anderes sind als die unverblümte Abbildung der Wirklichkeit –, in diesem Fall sogar eine Goldgrube.
Die Zwölf wurden einberufen.
Männer. Die angesehensten.
Laut Kanun, dem Gesetz der albanischen Berge.
Altes Gewohnheitsrecht. Mündlich überliefert, in teils unüberwindbare Gebirgsketten. Und darin verborgen Bergdörfer, von ihrer Umgebung wie abgeriegelt. Hier zählt das, was die Alten an die Jungen weitergeben und wiederum die alt gewordenen Jungen an die nächste Generation, hier richtet sich das Gesetzbuch nach den gelebten Vereinbarungen und nicht das Leben nach dem Gesetz.
Was hat der Mensch auch sonst als seine Ehre. Darum geht es.
Erhobenen Hauptes allem begegnen.
Und natürlich wusste Anjeza, welch offenes Tor zur Blindwütigkeit, zur Tyrannei diese Haltung in sich barg. Wenn aus dem Bestreben nach Rückgrat das Verlangen erwächst, das der anderen zu brechen. Die Ehre schützen, um sie kämpfen, sie unbefleckt wahren. Blutrache, die Sprache des Wahnsinns. Egal, in welchem Land.
Das ihre aber hatte zusätzlich noch das Gesetz der Besa.
Zwar Blutrache verüben müssen, aber sich gleichzeitig für gewisse Zeiten, Orte, Ereignisse wie Familienfeiern, Hochzeiten, Feldarbeit, Feiertage, wichtige Wege davor schützen dürfen. Und auch der zur Blutrache Verpflichtete wurde für die genannte Dauer von seiner Bürde entbunden. Anjeza wusste das sehr genau. Die Besa stand für Begriffe wie Frieden, Allianz, Waffenstillstand, Gastfreundschaft, Loyalität, Treue. Sie wusste um die Milde, die zwischen all dem Gräuel verborgen lag. Besa. „Ehre dein Wort“. Halte deine Versprechen. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, wie nicht nur ihr Dorf, sondern das ganze Land, als einst im Zweiten Weltkrieg der Teufel erwachte, den Juden ihr Wort, ihre Besa gaben, versprachen, sie unter Schutz zu nehmen, egal, wie schwierig es werden würde. In Albanien lebten, als einziges von den Nazideutschen besetztes Land Europas, nach dem Holocaust mehr Juden als zuvor.
Und dieser Ehrenkodex gab auch der zur Ehe gezwungenen Frau ein Schlupfloch und wurde somit für Anjeza der Schlüssel zu einer seltsamen Art der Freiheit. Natürlich wäre es unendlich klüger gewesen, keine einzige all der Töchter einem Fremden zu versprechen. Natürlich ist dieser Handel eine Schande für jede Kultur, die Menschlichkeit.
Nur in Albanien aber gab es diesen Ausweg.
Ein Schwur, der bei Bruch mit dem Leben zu bezahlen sei.
Und nun stand sie hier, Anjeza, die Zwölf vor sich, und legte den Eid ab, für den Rest ihres Lebens auf jegliche sexuelle Beziehung zu verzichten, auf Kinder, auf Partnerschaft, auf Familie. Diesen Preis zu bezahlen, um fortan als Mann angesehen und behandelt zu werden, sich dieser Rolle als würdig erweisen zu können, in der Gesellschaft, in ihrer Familie, bei Fehlen eines männlichen Nachkommen sogar als Oberhaupt.
Von diesem Tag an war Anjeza eine Burrnesha, eine Schwur-Jungfrau, trug Männerkleidung, Waffen, nahm an allen gesellschaftlichen Ereignissen teil, die nur den Männern vorbehalten waren, trank Alkohol, genoss den Tabak, das Marihuana, fuhr Lastwägen, ging auf Jagd, zog sogar gegen verfeindete Clans in den Kampf, zielte auf Gegner und erschoss sie.
Den größten Krieg hatte sie aber noch vor sich.
Denn nichts an der Hinterlassenschaft ihres Vaters war nach ihrem Geschmack. Ebenso wenig der weitere Werdegang Dejans, der nur noch danach trachtete, sich seines Vaters Ibrahim als würdig zu erweisen. Wodurch aus ihm zusehends ein anderer wurde. Einer, der seinem ermordeten Bruder Mehmet an Rohheit und Schonungslosigkeit zu gleichen versuchte.
Immer größer wurde die Kluft zu Anjeza. Bald stand sie nur noch im Weg, und es geschah, was geschehen musste. Was wäre das Ansinnen, Wort zu halten, schon wert, wenn es nicht auch gebrochen werden kann.
Es war ein Dorffest, als Dejans vom Alkohol gelöste Zunge gar nicht mehr aufhören wollte zu erzählen, dieses eine Geheimnis preiszugeben, auf dem ein Haus aus Lug und Trug gebaut war.
Denn nur ein Mensch hatte den Tod Mehmets zu verantworten.
Anjeza.
Ibrahim, einst Vater einer Tochter und zweier Söhne, Merita, Mehmet und Dejan, selbst gesuchter Schwerverbrecher, setzte in einer ersten Reaktion ein Kopfgeld auf Anjeza aus, die Mörderin seines Erstgeborenen Mehmet – ahnungslos, dadurch selbst den Kopf in die Schlinge zu legen.
Denn für Anjeza war die Zeit gekommen, ihr Dorf von der Macht des Kartells zu befreien, dem ein Ende zu setzen, koste es, was es wolle. Durch den unwürdigsten, ehrenlosesten Schritt. Verrat. Kurz darauf wurde das Dorf gestürmt.
Ibrahim, von dem keiner außerhalb der Familie wusste, wie er überhaupt aussah, kein einziges Foto gab es, war längst untergetaucht und ließ seinen Sohn Dejan zurück. Als Strafe dafür, all dies losgetreten zu haben, durch seine Illoyalität. Zuerst Mehmet und seinem Vater gegenüber, dann Anjeza und somit dem Dorf gegenüber.
Lebenslänglich lautete das Urteil, so endlos die Liste von Dejans Taten, und seine Worte hat Anjeza nie vergessen: „Wir werden dich suchen bis ans Ende unserer Tage!“
Auch Anjezas Urteil also war dasselbe. Lebenslänglich verfolgt. Hier würde sie nie sicher sein. Noch während der Tumulte mit der Polizei kehrte sie ihrer Heimat allein mit einem kleinen Rucksack ausgestattet für immer den Rücken, ließ dort die eingeschworene Jungfrau Anjeza zurück, um anderswo eine andere zu werden.
Bis Kroatien schlug sie sich durch, um völlig ermattet vor der Strandbar Danjela ihren Rucksack und sich selbst in den Sand zu werfen und auf ein gutes Herz zu stoßen.
„Sie schauen aber müde aus!“
„What?“
Wenn, dann Englisch, Deutsch konnte sie noch nicht.
„You are looking tired? What’s your name?“
Ein Blick auf das Schild der Strandbar, manche Dinge fallen einem einfach zu.
„Danjela! And you!“
„Hans Djurkovic.“
Nichts von alldem, was neben Hürrems Füßen ins Freie purzelt, hätte eine Chance, im Tascheninneren übersichtlich aufbewahrt zu werden. Es hält sich ja tapfer die Mär, ein Genie offenbare sich weniger durch einen gewissen Ordnungswahn, sondern eher im Durchschauen seiner eigenen Unordnung. Dort Systeme zu finden, wo andere nur Chaos erkennen. Wäre dies wirklich so, hätte sich die Handtasche schon längst als Nachweis der Hochbegabung durchgesetzt.
Dem Metzger allerdings ist es ein Rätsel, wozu in Stanniolpapier eingewickelte, bereits leergekaute Kaugummiknödel noch aufbewahrt werden sollten, außer vielleicht zur Genanalyse. Weiters ist es ihm nicht nachvollziehbar, wie sich einzelne unbenutzte Papier-Taschentücher wahrscheinlich über Jahre hinweg aus ihren Plastikhüllen befreien und derart gut verstecken können, um sich eines schönen Tages, so wie jetzt, als buntes Potpourri verschiedenster Modelle in Gemeinschaft wiederzufinden. Selbstverständlich mit diversen schon angeschnupften Exemplaren. Alles durchmischt mit Kugelschreiber, Feuerzeug, Schlüsselanhänger, kleinem Schmink-Spiegel, Schmink-Utensilien, Binden, Tampons, und ab nun wird es interessant: leeren Patronenhülsen, vollen Patronen, einem leeren Magazin, einem vollem, der zugehörigen Waffe, einem Paar Handschellen, und:
„Bingo!“, greift interessanterweise Petar Wollnar als Erstes zu, und direkt ein Hauch Euphorie ist ihm dabei anzusehen. „Ihr Handy!“
Eines ohne Taste unter dem Display natürlich, mit der sich der Fingerabdruck der daneben liegenden Eigentümerin zum Entsperren nutzen ließe.
Und dann wischt er und tippt er, der gute Petar, und flucht natürlich. Wenn’s nur so leicht wäre. „Elender Pincode!“
Technisch unbewandert, wie der Metzger ist, wagt er trotzdem eine Frage: „Vielleicht hast du ihre Nummer?“
„Ja, hab ich!“
„Dann ruf sie doch einfach an? Vielleicht kommst du dann rein, durch Abheben!“
„Sicher nicht!“ Petar Wollnar probiert es trotzdem. Hürrems auf dem Nachtkästchen liegende Uhr meldet sich zuerst, vibriert, dann schlägt ihr Handy zu, im wahrsten Sinn des Wortes. Musik ertönt, pure Willenskraft in Gitarrenriffs verpackt, erschienen im Mai 1982 als Titelsong von Rocky III – Eye Of The Tiger.
Der Sehnsucht halber lässt Petar Wollnar Hürrems Smartphone zuerst läuten, um dann voll Hoffnung auf seinem Hausmeister-Handy ihre Stimme zu hören, sprich die Mailbox, und wird dann doch nur mit dem unpersönlichen 0-8-15-Ansagetext des Mobilfunkanbieters Jellow abgespeist. Den zweiten Anruf von seinem Telefon aus aber nimmt Petar Wollnar dann auf Hürrems Handy per Fingerwischer entgegen. Doch weder Hürrem öffnet ein Auge noch das Smartphone.
„Da erfährt man also auch nicht, wer hinter ihrem Gesicht steckt!“ Frustriert ist er, der Metzger.
„Hundig ist es alles, richtig hundig!“
Ja, das sind schon eigenartige Zeiten. Einerseits weiß man mittlerweile alles von uns, wer und wie viele diese mans alle sind, wollen hingegen wir gar nicht wissen. Andererseits dürfen sich sogar Handys, deren Daten wahrscheinlich zigmal am Tag fremdkopiert und um den Erdball geschickt werden, extra für den Benutzer mit haufenweise Sicherheitsnetzen ausstatten lassen, die zwar so eng gar nicht gesponnen werden können, um dann doch noch ein paar schlüpfrige Insekten durchrutschen zu lassen, aber wehe, wir vergessen den eigenen Pincode und finden den Puk nicht mehr.
Wie Danjela ihren Willibald schon wissen lassen hat: „Gibt nix Sicherheit. Nur Unsicherheit und Sicherheitsbedürfnis. In Kombination folgenschwerste Paarung von Weltgeschichte, Busenfreund von Scharlatane, Spekulanten, Tyrannen ...!“
Sicherheitsglas, Sicherheitscode, Sicherheitsbeamte … alles recht nette Ideen, jede einzelne kann helfen – muss aber nicht. Und selbst der stärkste Sicherheitsgurt wird bei Steinschlag nur noch zum simplen Modeaccessoire, im Cabrio reicht sogar ein Philodendron.
„Was hast du gerade gesagt, Willibald!“, geht Petar Wollnar mit dem Telefon auf die sedierte Hürrem zu.
„Hundig ist es alles, richtig hundig!“
„Nein, davor!“
„Dass man nicht herausfindet, wer hinter ihrem Gesicht steckt!“
„Ganz genau!“
Was immer das nun werden soll, der Metzger jedenfalls kennt sich nicht aus. Ein Zaubertrick vielleicht, ein Hypnoseversuch. In einem Abstand von etwa dreißig Zentimetern hält Petar Wollnar das Display des Handys vor Hürrems Gesicht. Mit hochkonzentriertem Blick wartet er, bewegt es ein wenig, wartet wieder.
„Das hat doch sicher eine Face-ID!“
Aber vergeblich.
„Schütteln hilft manchmal“, kann sich der Metzger nicht verkneifen, ahnungslos wie er ist. Es folgt eine kleine Einweisung in den technischen Stand der Gegenwart, nur um daraus schlusszufolgern: „Also wenn sich da ein paar Deppen ein System einfallen lassen haben, dank dem einem schlafenden Menschen sein Handy vors Gesicht gehalten wird, und du bekommst Zugriff auf seine Daten, dann hurra.“
„Vielleicht mit offenen Augen!“
Und der Metzger glaubt, er sieht nicht recht, denn Petar Wollnar ist auf dem besten Wege, mit Daumen und Zeigefinger Hürrems Augenlider hochziehen zu wollen.
„Das machst du jetzt aber nicht wirklich!“
„Sie ist stark sediert und in Tiefschlaf versetzt!“, lässt sich Petar Wollnar nicht bremsen. Der Metzger kann nicht hinsehen und starrt auf den ausgeleerten Inhalt der Handtasche.
Augen auf bei Hürrem. Wie vermutet: Da wie dort kein Aufwachen.
Und auch Augen auf bei Willibald. Mit weitreichender Wirkung:
„Dann finde ich es eben altmodisch heraus!“ Zielstrebig greift er in den aus Hürrems Tasche befreiten Haufen. Es nützt eben die beste Technik nichts, wenn sie den Menschen nur noch dümmer werden lässt, unaufmerksamer für sein Umfeld, blinder.
„Und wie?“
„Damit, Petar!“, hält er dem Hausmeister ein Feuerzeug unter die Nase, ein Werbe-Utensil, darauf das Venussymbol, die Darstellung des Handspiegels der Göttin Venus, und inmitten des Kreises die Aufschrift: Kampfsportzentrum Kassandra. Und er kennt den Namen.
„Zitat Danjela: Ist so inspirierende Frau. Kassandra. Ist Kampfsportzentrum nur für Frauen. Und wollt ich immer schon lernen Kämpfen!“
„Wie?“, kennt sich jetzt Petar nicht aus.
„Kampfsportzentrum Kassandra. Danjela war dort. Das ist kein Zufall!“ Der Metzger steht auf. Und Petar versteht auf Anhieb. „Du hast gehört, was Senekowitsch gesagt hat. Wir sollen hierbleiben.“
„Ach, Petar!“
„Geh nicht wieder allein, Willibald!“
„Alleine sind wir immer. Du musst aber hierbleiben, Petar, auf sie aufpassen!“
„Nimm ihr Handy mit, so kann ich dich wenigstens erreichen!“, wird dem Metzger nun Hürrems Smartphone übergeben.
Dann geht er.
Bald zu müde, um noch einen nächsten Schritt zu setzen. Er muss handlungsfähig werden. Steigt in ein Taxi.
„Wohin, mein Herr!“
Und seine innere Stimme flüstert ihm: Fahr doch den Schlenker bei dir zuhause vorbei. Vielleicht ist sie zurück. Danjela!
Dann schläft er ein.
„Wir sind da!“
„Stimmt so!“
„Aber mein Herr, es macht nur neun Euro, das sind 20!“
„Dann sind es elf Euro Trinkgeld!“
Und jetzt läuft er, denn dort oben, hinter den Fenstern seiner Mansarden-Wohnung, erhellt ein Licht die Nacht.
„Danjela!“
Wie wahrscheinlich zuletzt als Schüler nimmt der Metzger nun zwei Stiegen auf einmal. Und logisch muss er dann spätestens im zweiten Stock pausieren, Luft holen, ehe es weitergeht.
„Danjela! Danjela!“
Wer soll es sonst sein? Niemand anderer hat einen Schlüssel.
Nur sie.
Bereits unterwegs hinauf in den letzten Stock kann er es sehen: Seine Eingangstür steht offen. Und selbstverständlich wird er da ein wenig skeptisch. Eine offene Tür bedeutet nie etwas Gutes.
Entweder jemand ist gekommen, um auch gleich wieder zu gehen. Kurzbesuch.
Oder jemand ist gekommen und bedient genug, um sich beim zweiten Gedanken den ersten nicht mehr merken zu können. Alles Zurückliegende vergessen.
Oder aber jemand will bewusst verdeutlichen: Du hast Besuch. Und er wartet schon auf dich!
„Danjela, bist du das?“
Die Antwort bleibt aus. Und bereits beim Eintreten könnte die Erklärung gar nicht deutlicher sein. Wobei von Eintreten keine Rede sein kann, ausgenommen natürlich die Türe selbst betreffend. Mit roher Gewalt wurde sie geöffnet. Im Inneren der Wohnung aber ist kaum ein Schritt möglich, die reinste Verwüstung, die hinterlassene Botschaft eindeutig:
Hier wurde nichts gesucht. Hier ging es nur um Zerstörung.
All seine Schuhkartons, die der Metzger seit Jahrzehnten fein säuberlich in einem langen Vorzimmerregal einordnet, darin sein ganzes Leben archiviert, Fotos, Briefe, Dokumente, wurden herausgerissen, alles verstreut.
All die Alben, die seine Arbeit als Restaurator dokumentieren, seine Werkstücke, die vielen Vorher-Nachher-Fotos. Alles zerstört und auf dem Boden verteilt. Überhaupt wurde in der kompletten Wohnung aus jedem Kasten, jeder Lade, jedem Regal das Innenleben nach außen gekehrt. In der Küche nur noch Scherben. In seinem Wohnzimmer die Möbel mutwillig zerkratzt, manche umgeschmissen, der alte Kronleuchter von der Decke gerissen, der Glaskasten zertrümmert, samt Innenleben. Das Karlsbader Service seiner Mutter, die Figuren der Porzellanmanufaktur Augarten, die Ausgrabungen aus Zypern, Schmuggelware seines Vaters, als er im UNO-Auslandseinsatz diente. Hinsetzen will er sich, der Metzger, nur noch weinen, aber sogar das bleibt ihm verwehrt, denn dort, wo immer noch Danjelas Blut-Tapete auf dem Boden liegt, haben sich Lederteile dazugemischt. Und woher sie stammen, wird sofort ersichtlich.
Sein Chesterfield-Sofa.
Zerschnitten. Mit einem scharfen Messer.
Tiefe Wunden. Nichts mehr zu retten.
Nur noch weg!
Und jetzt läuft er, der Metzger, die Stiegen hinab, auf die Straße hinaus. Das Ziel klar. Die Angst groß, die Vorahnung erdrückend. Das erstbeste Taxi winkt er an den Straßenrand, los geht die Fahrt. Dorthin, wo er die letzten Wochen zu Hause war, in seine zweite Heimat. Und bereits nach Setzen des Blinkers und noch bevor es in die Gasse geht, bleibt der Wagen stehen. Kein Durchkommen. Wie in seiner Wohnung. Ein Weiterfahren nicht möglich.
Alles gesperrt.
Rauch steigt empor, ein Lodern, Züngeln. Zwei Einsatzfahrzeuge der Polizei blockieren die Straße. Dazu Löschfahrzeuge der Feuerwehr im Einsatz.
Und der Metzger weiß es, sieht den Flammenherd.
Sogar der letzte Ort seiner Zuflucht verloren. Die Werkstatt.
Nichts mehr übrig. Nur mehr sein Leben.
„Da geht es nicht weiter. Was machen wir jetzt, mein Herr?“, zeigt sich der Taxifahrer ahnungslos.
„Zu Kassandra“, flüstert der Restaurator.
„Gern. Welche Adresse hat das Bordell?“
„Haben Sie ein Handy? Dann geben Sie ein: Kampfsportzentrum Kassandra.“
Der Rest ist Schweigen. Nur noch die Fahrt durch die nächtliche Stadt. Vorbei an all den vielen Häusern, hinter deren Fenstern bereits die Nacht eingekehrt ist. Nur noch vereinzelte Lichter brennen, als wollten sie dem Metzger seine Bedeutungslosigkeit zeigen. Denn hinter jedem dieser Fenster, ob hell oder dunkel, besteht ein Universum für sich. Menschen, die sich ihre eigene Welt errichtet haben, prall gefüllt mit:
Wünschen, Träumen, Hoffnung.
Freude, Verbitterung, Hoffnung.
Reichtum, Armut, Hoffnung.
Und immer wieder Hoffnung.
Sie ist allgegenwärtig.
Selbst der Hoffnungslose trägt sie in sich, als Marker dessen, von dem er glaubt, es längst verloren zu haben. Nein, die Hoffnung lässt sich nicht austricksen, stellt uns vor ein scheinbar ewig sprudelndes Füllhorn, verpasst uns den Irrglauben, es wäre alles auszuschütten imstande, mit einem Quicktipp sogar, und wir hätten ewig Zeit. Leben wie im freien Schwung der Hängematte, die beiden fixen Eckpfeiler vergessen.
Geburt und Tod.
Das Kommen und das Gehen.
„Wir sind da, mein Herr!“
„Stimmt so!“
„Aber das sind 20 Euro ...!“
Geld: unwesentlich. Macht nicht reicher, steigert nur den Verlust.
Und weg ist Taxifahrer Nummer zwei.
Zurück bleibt diese Dumpfheit. Leere. Und ein Trieb, als hätte sein Inneres einen Vorwärtsgang einlegt, der ihm jetzt aus reinstem Selbstschutz keine Pause vergönnt. Nichts mehr zu verlieren.
Seltsame Kräfte werden da wach.
Wie eine Einladung scheinen dem ansonsten so friedfertigen Willibald all die Gegebenheiten: die so menschenleere Straße, die Dunkelheit in dem betreffenden Gebäude, dazu die Glasscheibe des im Erdgeschoss gelegenen Kampfsportzentrums Kassandra, das große Venussymbol darauf wie eine Zielscheibe, die Glastüre, die verschwommen zu sehende Fotogalerie an den Wänden, die Türklingel, offenbar eine Attrappe, denn da regt sich nichts, die auf der anderen Straßenseite stehenden Mülltonnen.
Einmal Buntglas, einmal Weißglas, zweimal Plastik und Metall, zweimal Papier. Letztere scheinen ihm am handlichsten, weil offenbar frisch entleert. Also los.
Völlig problemlos lässt sich eine der Tonnen aus der Verankerung lösen und in Bewegung setzen, schnell genug, um wie ein Rammbock mit einem berstenden lauten Knall die Glasscheibe des Kampfsportzentrums zu durchstoßen.
Und es ist dem Metzger völlig gleichgültig.
Alles. Das Einbruchsdelikt, die vielen Splitter auf dem komplett mit Kampfmatten ausgelegten Boden, das einen Stock darüber angehende Licht.
„Welcher Fetznschädl bricht so leise in ein Kampfsportzentrum ein, dass sogar jemand aufwacht, der so ein hiniges Trommelfell hat wia i!“
Unübersehbar strahlt es einen Stiegen-Abgang herunter, der direkt auf den Mattenboden führt, erleuchtet links der Treppe die Wand, die vielen eingerahmten Fotografien.
„Kruzitürken – hast an Klescher? Wie warat’s mit Klingeln! I hob a Glockn, die vierazwanzig Stunden läut.“
„Maximal im Radio! Die hier ist kaputt!“
Völlig unbeeindruckt von der herabdröhnenden Stimme „Du meinst, so wie jetzt die Scheibn!“ geht der Metzger auf die Bilder zu. Kämpfer in weißen Anzügen und schwarzen Gürteln, im Einsatz, als Gruppe.
„Was willst du hier, außer a Einweisung auf die Intensivstation?“
Auf Siegertreppen, mit Medaillen und Pokalen.
Und Kämpferinnen.
„Reden soist!“
Zwei, um genau zu sein.
„Oda homs da ins Hirn g’schissen!“
Beide drahtig, mit langem, schwarzem Haar, strahlendem Lächeln, auf den weißen Kampfanzügen je eine schwunghafte Unterschrift:
Sara & Kassandra