II
Fünf Jahre vorher
Merit, Friedhof
Bei seinem Erwachen empfingen Victor kalte Luft, Friedhofserde und Sydneys blondes Haar, das vom Mondlicht wie mit einem Heiligenschein umgeben war.
Sein erster Tod war grausam gewesen, seine Welt auf einen kalten Metalltisch reduziert, sein Leben nur noch elektrische Spannung und ein Regler, der immer höher ging. Elektrizität hatte sich durch jeden einzelnen Nerv gebrannt, bis er schließlich zusammengebrochen und in schwerem, flüssigem Nichts versunken war. Das Sterben hatte eine Ewigkeit gedauert, aber der Tod selbst war flüchtig gewesen, nur die Zeitspanne eines Atemanhaltens lang. Luft und Energie wurden aus seiner Lunge gepresst, bevor er wieder aufstieg durch das dunkle Wasser, während alles in ihm schrie.
Sein zweiter Tod war viel merkwürdiger gewesen. Er hatte weder elektrische Spannung noch unerträgliche Schmerzen verspürt, weil er längst den Schalter umgelegt hatte. Aber um seine Knie hatte sich eine Blutpfütze gebildet, und er hatte den Druck zwischen den Rippen wahrgenommen, als Eli mit dem Messer zustach. Die Welt versank in Dunkelheit, und er glitt in den Tod hinüber, so sanft, als würde er einschlafen.
Danach folgte … nichts. Die Zeit dehnte sich zu einer lang anhaltenden Sekunde. Einem Akkord vollkommener Stille. Endlos. Der plötzlich unterbrochen wurde. Wie von einem Kieselstein, der auf eine glatte Teichoberfläche traf.
Und hier war er. Atmete. Lebte.
Victor richtete sich auf, und Sydney schlang die schmalen Arme um ihn. Eine Weile saßen sie schweigend da, ein wiederbelebter Toter und ein Mädchen, das auf seinem Sarg kniete.
»Hat es funktioniert?«, flüsterte sie, und er wusste, sie meinte nicht die Wiederbelebung selbst. Bisher hatte es mit der Erweckung von EO s stets Probleme gegeben. Sie kehrten zwar ins Leben zurück, aber ihre Kräfte nahmen dabei Schaden, waren nicht mehr wie früher. Victor horchte in sich hinein, suchte nach zerrissenen Fäden, Störungen im Spannungsfluss. Aber er fühlte sich … unverändert. Unversehrt. Ganz.
Es war ein überwältigendes Gefühl.
»Ja«, sagte er. »Hat es.«
Mitch tauchte neben dem Grab auf. Sein rasierter Schädel glänzte von Schweiß, und seine tätowierten Unterarme waren vom Graben schmutzig. »Hi.« Er trieb die Schaufel ins Gras und half Sydney und Victor aus dem Loch.
Dol begrüßte Victor, indem er sich schwer an ihn lehnte und seinen riesigen schwarzen Kopf gegen seine Handfläche drückte.
Das letzte Mitglied ihrer Gang stand in der Nähe, auf einen Grabstein gestützt. Dominic hatte das mitgenommene Aussehen eines Drogensüchtigen. Seine Pupillen waren von den Medikamenten geweitet, mit denen er seine chronischen Schmerzen betäubte. Victor spürte seine zerfransten Nervenenden, die wie bei einem Kurzschluss Funken sprühten.
Sie hatten einen Deal geschlossen: Victor befreite den Exsoldaten von seinen Schmerzen, und dafür half dieser ihnen. In Victors Abwesenheit hatte Dominic seinen Teil der Abmachung offensichtlich nicht einhalten können. Jetzt knipste Victor seinen Schmerz aus wie eine Lampe. Augenblicklich sank Dominics Kopf nach hinten, und die Anspannung verschwand aus seinem Gesicht.
Victor nahm sich die Schaufel und reichte sie dem Exsoldaten. »Steh auf.«
Dominic gehorchte. Er rollte den Kopf hin und her und kam auf die Beine. Zu viert schaufelten sie Victors Grab wieder zu.
Zwei Tage.
So lange war Victor tot gewesen.
Beunruhigend lange. Die ersten Phasen der Verwesung hatten zu diesem Zeitpunkt schon eingesetzt. Die anderen waren unterdessen bei Dominic untergekommen – zwei Männer, ein Mädchen und ein Hund, die darauf warteten, dass eine Leiche begraben wurde.
»Ist nichts Großartiges«, sagte Dom jetzt, während er die Eingangstür öffnete. Und er hatte recht – ein kleines, unaufgeräumtes Wohnzimmer mit einem abgewetzten Sofa, ein Betonbalkon und eine Küche, in der sich schmutziges Geschirr stapelte –, aber es war eine vorübergehende Lösung für ein längerfristiges Problem, und Victor war nicht in der Verfassung, sich der Zukunft zu stellen. Nicht, solange Friedhofserde an seiner Hose klebte und er noch den Geschmack des Todes im Mund hatte.
Er brauchte eine Dusche.
Dom führte ihn durchs Wohnzimmer. Es war eng und dunkel, an einer Wand stand ein Regal mit Büchern und Medaillen und umgedrehten Fotos. Auf dem Fensterbrett reihten sich zu viele leere Flaschen.
Irgendwoher kramte der Exsoldat ein Langarmshirt mit einem Bandlogo hervor. Victor hob eine Augenbraue. »Was anderes hab ich nicht in Schwarz«, erklärte Dom.
Er schaltete das Badezimmerlicht an und ließ Victor allein.
Victor zog sich die Kleider aus, in denen er begraben worden war – Kleider, die ihm völlig unbekannt waren und die er nicht gekauft hatte –, und trat vor den Badezimmerspiegel, um seine nackte Brust und seine Arme zu betrachten.
Sein Körper war bei weitem nicht frei von Narben, aber keine davon stammte aus der Nacht im Falcon Price. In seinem Kopf hallten Schüsse wider, die von unfertigen Wänden abprallten. Der Betonboden war glitschig von Blut. Seinem eigenen. Aber hauptsächlich Elis. Er erinnerte sich an jede einzelne Verletzung, die er in jener Nacht davongetragen hatte – an die flachen Schnittwunden am Bauch, den rasiermesserscharfen Draht, der sich in seine Handgelenke gegraben hatte, Elis Messer, das zwischen seine Rippen geglitten war –, doch davon war jetzt nichts mehr zu sehen.
Sydneys Gabe war wirklich bemerkenswert.
Victor drehte die Dusche an und stellte sich unter das heiße Wasser, um sich den Tod abzuwaschen. Er spürte seiner Fähigkeit nach, richtete den Blick nach innen, wie damals, vor vielen Jahren, als er ins Gefängnis gekommen war. Während der Isolationshaft hatte er seine neugewonnenen Kräfte nicht an anderen ausprobieren können und deshalb seinen eigenen Körper als Versuchsobjekt benutzt. Er hatte die Grenzen des Schmerzes ausgetestet, das komplizierte Netz der Nervenverbindungen erforscht. Jetzt drehte er den Regler im Geiste ganz runter, bis er nichts mehr spürte, und dann hoch, bis sich jeder Wassertropfen auf seiner nackten Haut wie ein Messerstich anfühlte. Er biss die Zähne zusammen und fuhr den Regler wieder in die Normalposition zurück.
Dann schloss er die Augen und lehnte den Kopf gegen die Fliesen. Er musste lächeln, als ihm Elis Worte einfielen.
Du kannst nicht gewinnen.
Und doch hatte er gewonnen.
Im Apartment war es ruhig. Dominic stand auf dem schmalen Balkon und rauchte eine Zigarette. Sydney lag zusammengerollt auf dem Sofa. Auf dem Boden daneben kauerte Dol, hatte die Schnauze in der Nähe ihrer Hand abgelegt. Mitch saß am Tisch und mischte einen Satz Spielkarten durch.
Victor betrachtete sie alle.
Ich habe wohl immer noch eine Schwäche für Streuner.
»Was jetzt?«, fragte Mitch.
Zwei kurze Wörter.
Nie zuvor hatten ein paar Silben derart viel Gewicht besessen. In den letzten zehn Jahren hatte der Wunsch nach Rache alles beherrscht. Weiter hatte Victor nicht gedacht. Aber nun war sein Ziel erreicht – Eli schmorte in einer Gefängniszelle – und er selbst mit dem Leben davongekommen. Ohne den Rachedurst fühlte Victor sich unruhig und unzufrieden.
Was jetzt?
Er könnte die anderen verlassen. Einfach verschwinden. Es wäre das Klügste. Eine Gruppe, noch dazu eine, die aus so merkwürdigen Gestalten bestand wie ihre, würde mehr Aufmerksamkeit erregen als ein Einzelner. Doch Victor konnte mit seiner Fähigkeit andere Leute beeinflussen, auf subtile, aber effiziente Weise Abneigung in ihnen erzeugen, so dass sie sich abwandten, nicht genauer hinschauten. Und Stell hielt Victor Vale für tot und begraben.
Sechs Jahre kannte er Mitch.
Sydney sechs Tage.
Und Dominic sechs Stunden.
Jeder von ihnen war ihm ein Klotz am Bein. Er sollte sich davon frei machen, sie verlassen.
Also geh , dachte er. Aber seine Füße rührten sich nicht.
Dominic war kein Problem. Sie kannten sich noch nicht so lange, und ihre Verbindung war lediglich den Umständen geschuldet und der Tatsache, dass sie einander nützlich waren.
Bei Sydney lag die Sache anders. Victor war für sie verantwortlich. Und zwar seit er Serena getötet hatte. Das war keine Gefühlsduselei, sondern eine einfache Rechnung.
Und Mitch? Mitch war verflucht, das hatte er selbst gesagt. Ohne Victor war es nur eine Frage der Zeit, bis der Hüne erneut im Gefängnis landete. Wahrscheinlich in demselben, aus dem er mit Victor – für Victor – ausgebrochen war. Und obwohl Mitch Sydney kaum eine Woche kannte, wusste Victor, dass er sie niemals verlassen würde. Das Mädchen schien ihn umgekehrt ebenfalls ins Herz geschlossen zu haben.
Und dann war da natürlich noch die Sache mit Eli.
Eli war zwar im Gefängnis, aber noch am Leben. Dank Elis Fähigkeit zur Selbstheilung konnte Victor daran auch nichts ändern. Und wenn Eli jemals wieder rauskam …
»Victor?«, hakte Mitch nach.
»Wir verschwinden.«
Mitch nickte. Es gelang ihm nur schlecht, seine Erleichterung zu verbergen. Für Victor war er stets ein offenes Buch gewesen, selbst damals im Gefängnis. Sydney richtete sich auf dem Sofa auf, und ihre eisblauen Augen suchten im Halbdunkel Victors Blick. Offenbar hatte sie doch nicht geschlafen.
»Wo wollen wir hin?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht«, antwortete Victor. »Aber hier können wir nicht bleiben.«
Dominic war wieder ins Wohnzimmer zurückgekehrt, brachte einen kalten Luftzug und Zigarettenrauch mit sich. »Ihr wollt weg?«, fragte er. Panik huschte über seine Züge. »Was ist mit unserem Deal?«
»Entfernung ist kein Problem«, sagte Victor. Das stimmte nicht ganz – sobald Dominic außer Reichweite wäre, könnte Victor das Schmerzempfinden des Exsoldaten nicht mehr direkt beeinflussen. Seine jetzige Manipulation sollte aber bestehen bleiben. »An unserer Abmachung ändert sich nichts«, sagte er. »Solange du weiter für mich arbeitest.«
Dom nickte schnell. »Was immer du brauchst.«
Victor wandte sich an Mitch. »Besorg uns einen neuen Wagen«, sagte er. »Ich will im Morgengrauen aus Merit raus sein.«
Und so geschah es.
Zwei Stunden später, als das erste Tageslicht den Himmel aufbrach, kam Mitch in einer schwarzen Limousine vorgefahren. Dom stand mit verschränkten Armen in der Tür zu seinem Apartment und sah Sydney und Dol beim Einsteigen zu. Victor nahm auf dem Beifahrersitz Platz.
»Geht es dir wirklich gut?«, fragte Mitch.
Victor blickte auf seine Hände. Er spürte das Prickeln der Energie unter seiner Haut, als er sie zu Fäusten ballte. Sofern sich überhaupt etwas verändert hatte, fühlte er sich stärker als zuvor. Seine Kraft war klar und konzentriert.
»Besser denn je.«