VI
Vor Zwei Jahren
Merit, Schießhalle
An ihrem Geburtstag hatten sie das ganze Gebäude für sich.
Marcella hätte auch ein Restaurant, Museum oder Kino wählen können – Marcus hätte ihr jeden Ort zu Füßen gelegt. Ihre Entscheidung für die Schießhalle hatte ihn überrascht.
Marcella hatte schon immer schießen lernen wollen.
Ihre hohen Absätze klackten auf dem Linoleumboden. In den Schränken glänzten zahllose Waffen im hellen Licht der Neonröhren.
Marcus legte ein halbes Dutzend Pistolen vor ihr auf die Theke, und sie fuhr mit der Hand über die verschiedenen Modelle. Wie Tarotkarten, dachte sie. Als kleines Mädchen hatte sich Marcella einmal auf dem Rummelplatz in das Zelt einer Wahrsagerin geschlichen. Dort hatte ihr eine alte Frau – die sie an eine Märchenhexe erinnerte – die Karten gelegt und gesagt, sie solle, ohne nachzudenken, nach der greifen, die zu ihr spreche.
Woraufhin sie die Königin der Münzen gezogen hatte.
Der Wahrsagerin zufolge stand diese Karte für Ehrgeiz.
»Macht«, fuhr die Alte fort, »gehört denen, die sie sich nehmen.«
Marcellas Finger schlossen sich um eine chromglänzende, schlanke Beretta. »Genau die«, sagte sie und lächelte.
Marcus nahm eine Packung mit Patronen und führte Marcella zum Schießstand. Dort hängte er eine Zielscheibe auf, die eine menschliche Silhouette mit dem üblichen Scheibenspiegel aus ineinanderliegenden Ringen zeigte. Er drückte auf einen Knopf,
woraufhin die Scheibe von ihnen wegglitt und in einem Abstand von fünfzehn Metern stehen blieb.
Marcus zeigte Marcella, wie die Beretta zu laden war – es sollte noch Monate dauern, bis sie es konnte, ohne sich einen Fingernagel abzubrechen –, und drückte sie ihr in die Hand. Die Waffe fühlte sich schwer an. Gefährlich.
»Vergiss nie«, sagte er, »dass dieses Ding nur einen Zweck hat: Menschen zu töten.«
Er drehte Marcella in Richtung der Zielscheibe und schmiegte sich von hinten an sie. Presste seine Brust an ihre Schultern, seine Arme und Hände auf die ihren, die die Pistole hielten. Sie konnte seine Erregung spüren. Aber der Schießstand war mehr als ein ausgefallener Ort für einen Geburtstagsfick. Dafür blieb später genügend Zeit. Schließlich war sie hier, um schießen zu lernen.
Sie lehnte den Kopf zurück an Marcus’ Schulter. »Liebling«, flüsterte sie. »Lass mir Luft zum Atmen.«
Er trat einen Schritt zurück. Marcella zielte auf die Scheibe und drückte ab.
Der Schuss hallte vom Beton der Anlage wider. Ihr Herz hämmerte vor Erregung, und ihre Hände vibrierten vom Rückstoß.
Die Kugel hatte die rechte Schulter der Figur durchschlagen.
»Nicht übel«, sagte Marcus, »wenn du es mit einem Amateur zu tun hast.«
Er nahm ihr die Waffe aus der Hand. »Die meisten Profis«, fuhr er fort, während er gekonnt das Magazin auswarf, »tragen aber eine schusssichere Weste. Wenn du versuchst, ihnen in die Brust zu schießen, ist das dein sicherer Tod.« Mit einem geübten Handgriff schob er das Magazin zurück. Seine Bewegungen waren so geschickt und präzise wie beim Streicheln ihres Körpers und spiegelten ein Selbstvertrauen, das nur aus jahrelanger Übung entstand.
Marcus hob die Beretta, zielte kurz und feuerte zwei rasche
Schüsse ab. Die erste Kugel durchbohrte das Bein, die zweite die Stirn der Silhouette.
»Warum zwei Schüsse«, fragte Marcella, »wenn ein einziger genügt?«
Lächelnd antwortete er: »Liebling, in meinem Geschäft bewegen sich die Ziele. Und sind meistens bewaffnet. Unter Zeitdruck ist es schwieriger zu treffen. Der erste Schuss verunsichert deinen Gegner, der zweite tötet ihn.«
Marcella schürzte die Lippen. »Eine blutige Angelegenheit.«
»Der Tod ist nun mal eine blutige Angelegenheit.«
Sie nahm ihm die Pistole ab, drehte sich zur Zielscheibe um und drückte ab. Die Kugel zerfetzte das Papier eine Handbreit rechts vom Kopf.
»Daneben«, sagte Marcus. Als hätte sie das nicht selbst gemerkt.
Marcella dehnte den Nacken, atmete aus und feuerte das Magazin leer. Ein paar Kugeln gingen fehl, die anderen zerfetzten Kopf, Brust, Bauch und Lenden des Papiermenschen.
»Na also«, rief sie und senkte die Waffe. »Den hab ich erledigt.«
In diesem Moment spürte sie Marcus’ Lippen auf den ihren. Als er sie an die Rückwand des Schießstands drängte, klirrten leere Patronenhülsen unter ihren scharrenden Füßen. Sie liebten einander kurz, aber heftig. Marcellas Nägel hinterließen tiefe Spuren auf Marcus’ Rücken, ihr Blick glitt jedoch immer wieder zu dem durchlöcherten Papiermann, der sie wie ein Schatten zu beobachten schien.
An diesem Abend nahm Marcella die Waffe nicht mehr in die Hand. Danach besuchte sie den Schießstand jede Woche, bis sie den Umgang mit der Beretta perfekt beherrschte.