XVIII
Zwei Wochen vorher
EON
Eli schaute sich die Aufzeichnung wieder und wieder an.
Der Einsatz im National hätte Routine sein sollen.
Aber was Marcella Riggins anging, war nichts Routine.
»Du solltest feiern«, sagte Victors Geist. »Hast du dir das nicht gewünscht?«
Eli antwortete nicht. Stattdessen spulte er die Aufnahme Bild für Bild vor und verfolgte, wie die Kugel das Fenster zerschlug und, statt Marcellas Hinterkopf zu treffen, funkensprühend von einem unsichtbaren Schutzschild abprallte.
Er hielt das Video an und trommelte, in Gedanken versunken, mit den Fingern auf die Tischplatte.
Die Chancen, dass ein EO
mehr als eine Gabe besaß, waren verschwindend gering. Viel wahrscheinlicher war es, dass Marcella ein dritter, bisher nicht identifizierter EO
zur Seite stand. Vermutlich der Mann, der wie ein Schatten ganz hinten im Zimmer lauerte.
Drei EO
s, die zusammenarbeiteten – das war äußerst ungewöhnlich. Die meisten blieben für sich, ob nun freiwillig oder aus Notwendigkeit. Selbst die wenigen, die Gesellschaft suchten, blieben oft notgedrungen allein.
»Wir haben es auch getan«, warf Victor ein.
Das stimmte. Eli und Victor waren beide zu dem Schluss gekommen, dass sie gemeinsam, durch die Kombination ihrer Fähigkeiten, stärker waren.
Und jetzt schien Marcella dieselbe Idee gehabt zu haben.
Eli ließ die Aufnahme vorlaufen und sah, wie Marcella
inmitten des Kugelhagels auf die Terrasse trat. Wie sämtliche Schüsse von ihr abprallten. Wie sie die Pistole hob und auf den Scharfschützen zielte.
Was für eine Unverfrorenheit.
EO
s flüchteten.
Sie versteckten sich.
Verteidigten sich womöglich, wenn sie unter Druck gerieten.
Doch sie verhielten sich nicht so.
Stellten ihre Kräfte nicht so zur Schau
.
Mit sichtlichem Genuss.
EO
s waren gebrochene Kreaturen, die wussten, wie fehlerhaft und widernatürlich sie waren. Von Verzweiflung getrieben, zerstörten sie ihre Umwelt und sich selbst.
Aber Marcella war anders.
Sie sonnte sich in ihrer Macht. Spielte mit ihren Verfolgern. Forderte sie heraus, es erneut zu versuchen. Sich noch mehr anzustrengen.
Dass sie ihren Mann umgebracht hatte, ergab Sinn. Sie hatte sich an ihm rächen wollen. Frieden finden. Danach hatte sie jedoch seine Konkurrenten beseitigt. Das war nicht die Tat einer Frau, die nichts zu verlieren hatte. Im Gegenteil – so handelte jemand, der ein Ziel vor Augen hatte. Ehrgeiz besaß. Ehrgeiz und Macht, das war eine äußerst gefährliche Kombination.
Was war ihr noch zuzutrauen, wenn man sie nicht aufhielt?
Victors Geist hatte recht. Eli hatte um ein Zeichen gebeten, dass er gebraucht wurde. Dass er das Richtige tat.
Und Stell würde bald begreifen – falls er das nicht schon kapiert hatte –, dass Eli der Einzige war, der Marcella Riggins aufhalten konnte.
Durch die Fiberglaswand waren Schritte zu hören. Eli schaute vom Computer hoch und sah Stell hinter der Scheibe auftauchen.
»Da sind Sie ja endlich«, sagte Eli und stand auf. »Ich habe mir die Aufzeichnung von dem gescheiterten Einsatz angesehen. Wir müssen uns eine gezieltere Herangehensweise überlegen,
insbesondere, da wir es nicht nur mit ei…« Eli verstummte, als Stell eine Akte in das Fach legte.
»Was ist das?«
»Zwei Stunden südlich von Merit wurde ein mutmaßlicher EO
getötet.«
»Und was ist mit Marcella?«
»Sie ist nicht unsere einzige Zielperson.«
»Aber die gefährlichste«, erwiderte Eli. »Und in nur drei Tagen hat sie zwei weitere EO
s um sich geschart. Was werden wir dagegen …«
»Wir
werden überhaupt nichts tun«, fiel Stell ihm ins Wort. »Ihr Job ist es, die Fälle zu analysieren, die ich Ihnen vorlege. Oder haben Sie etwa vergessen, dass Ihre ganze Existenz von EON
abhängt?«
Mit zusammengebissenen Zähnen sagte Eli: »Hier in Merit arbeiten drei EO
s zusammen. Und Sie wollen das einfach ignorieren?«
»Von ignorieren kann keine Rede sein«, erwiderte Stell. »Aber wir können uns keinen weiteren Misserfolg leisten. Marcella und ihre Verbündeten sind mit Vorsicht zu behandeln. Ich gebe Ihnen zwei Wochen, um an der gezielteren Herangehensweise zu arbeiten, von der Sie gerade gesprochen haben.«
Erstaunt fragte Eli: »Warum ausgerechnet zwei Wochen?«
Stell zögerte. Dann sagte er langsam: »Weil ich ihr so lange Zeit gebe, um ihren Nutzen für uns zu beweisen.«
Wütend stieß Eli hervor: »Sie haben sich auf einen Deal
mit einer EO
eingelassen?«
»Die Welt ist nicht schwarz oder weiß«, antwortete Stell. »Manchmal muss man eine ungewöhnliche Wahl treffen.«
»Und welche Wahl haben Sie mir gelassen?«, schrie Eli ihn an. »Labor oder Zelle. Das war alles.«
»Sie haben vierzig EO
s auf dem Gewissen.«
»Und wie viele hat sie schon getötet? Und wie viele wird sie noch ermorden, bis Sie sie endlich ausschalten?« Stell antwortete nicht. »Wie konnten Sie nur so dumm sein!«
»Passen Sie auf, was Sie sagen«, warnte Stell.
»Warum sind Sie einen Deal mit ihr eingegangen?«, beharrte Eli.
Dabei kannte er die Antwort genau. Um ihn in dieser Zelle zu behalten, ihn kontrollieren zu können, war Stell zu fast allem
bereit.
»Was meinten Sie«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen, »als Sie von ihrem Nutzen sprachen?«
Stell räusperte sich. »Ich habe ihr einen Auftrag gegeben. Sie soll einen Fall lösen, bei dem Sie versagt haben.«
Eli erstarrte. Nein. Der ungelöste Fall. Victor.
»Der Jäger gehört mir«, knurrte er.
»Sie hatten zwei Jahre Zeit«, sagte Stell. »Wir brauchen frischen Wind.«
Eli merkte erst, dass er an die Fiberglaswand getreten war, als er mit der Faust dagegenschlug.
Diesmal steckte keine Absicht dahinter. Sondern reiner Zorn, ein Augenblick ungezügelten Gefühls. Schmerz durchzuckte ihn, und die Glaswand vibrierte warnend, aber Eli hatte die Hand bereits wieder sinken lassen.
Stell verzog die Lippen zu einem grimmigen Lächeln. »Ich lasse Sie weiterarbeiten.«
Eli sah dem Direktor von EON
nach, bis sich die Fiberglaswand wieder weiß färbte. Dann ließ er sich rückwärts dagegen fallen und zu Boden sinken.
All seine Geduld. Der sanfte Druck, den er ausgeübt hatte. Und nun befand er sich auf dünnem Eis. Ein falscher Schritt, und es würde brechen. Er würde Victor und Marcella verlieren. Und mit ihnen die Hoffnung auf Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit. Vielleicht war es schon zu spät.
Er musterte seine Fingerknöchel, die an einer Stelle blutverschmiert waren.
»Wie viele müssen noch sterben, nur um seinen Stolz zu befriedigen?«, fragte Victor.
Eli schaute hoch und sah das Phantom wieder vor sich stehen.
Kopfschüttelnd sagte er: »Stell würde lieber die Stadt brennen sehen, als zuzugeben, dass er und ich auf derselben Seite stehen.«
Victor starrte die Wand an, als wäre sie noch immer durchsichtig. »Er weiß nicht, wie geduldig du bist«, sagte er dann. »Kennt dich nicht so gut wie ich.«
Eli wischte sich das Blut von der Hand.
»Nein«, murmelte er. »Niemand kennt mich so gut wie du.«