XXIII
Eine Woche vorher
EON
Ganz schön clever von ihr, dachte Eli.
Er lag auf seiner Pritsche und betrachtete sich in der Spiegeldecke.
Durch eine Mischung aus strategischem Geschick und Glück hatte Marcella nun zwei Verbündete an ihrer Seite, die ihre eigenen Fähigkeiten ergänzten. Er reihte sie im Geiste nebeneinander auf.
Die Zerstörerin. Die Gestaltwandlerin. Der Schutzschild.
Nähe. Ferne. Und alles dazwischen. Zusammen waren sie fast unbezwingbar. Aber gelang es, sie zu trennen, konnte Marcella getötet werden wie alle anderen auch.
Schritte näherten sich, dann wurde die Zellenwand durchsichtig. Draußen stand Stell und fragte wutentbrannt: »Haben Sie das gewusst?«
Eli blinzelte und setzte sich auf. »Ich bin kein Hellseher, Direktor. Wovon sprechen Sie?«
Stell klatschte ein Stück Papier gegen die Scheibe, woraufhin Eli die Beine von der Pritsche schwang und die Zelle durchquerte. Als er den Mann auf dem ausgedruckten Foto sah, blieb er stehen. Das schmale Gesicht mit der Adlernase, das Kinn im hochgeschlagenen Mantelkragen versteckt. Das Bild war unscharf, doch Eli würde ihn überall erkennen.
Victor Vale.
»Zwei ganze Jahre hatten Sie Zeit, um ihn zu finden«, sagte Stell. »Und Marcella braucht dazu nicht einmal zwei Wochen. Sie haben es gewusst. Und geschwiegen
.«
Beim Anblick des Fotos begriff Eli, dass er es nicht gewusst hatte. Zumindest nicht sicher. Er hatte recht haben wollen, jedoch immer einen Rest von Zweifel verspürt. Erst jetzt hatte er das Gefühl, auf dem festen Boden der Wahrheit zu stehen.
»Vermutlich haben Sie seine Leiche nicht verbrannt.«
»Verdammt nochmal, Eli«, stieß Stell hervor. Kopfschüttelnd fragte er: »Wie um alles in der Welt ist das möglich?«
»Victor ist schwer totzukriegen.«
»Wie
hat er das gemacht?«
»Serenas kleine Schwester besitzt die praktische Gabe, Tote wieder zum Leben zu erwecken.«
»Sydney Clarke? Die steht doch auf Ihrer Liste der hingerichteten EO
s!«
»Eigentlich sollte Serena sich um sie kümmern«, sagte Eli. »Aber sie hat es wohl nicht übers Herz gebracht.«
Noch etwas, das er erledigen musste.
Eli löste den Blick von dem Foto. »Was haben Sie nun vor?«
»Ihn ausfindig zu machen. Hier ist noch eine Zelle frei.«
»Oh, wie schön«, sagte Eli trocken. »Dann werden Victor und ich Nachbarn.«
»Sie halten das wohl für einen Witz«, meinte Stell scharf. »Ich wusste von Anfang an, dass Ihrem Geschwätz von Zusammenarbeit nicht zu trauen ist. Dass Ihnen
nicht zu trauen ist.«
»Sehen Sie in Gottes Namen«, entgegnete Eli verächtlich, »doch endlich ein, dass nur Ihre eigene Sturheit an allem schuld ist.«
»Sie haben von Anfang an gewusst, dass Victor Vale noch lebt. Dass er EO
s und Menschen tötet.«
»Ich hatte einen Verdacht …«
»Den Sie mit keinem Wort erwähnt haben.«
»Sie hätten die Leiche verbrennen müssen!«, schrie Eli. »Ich hatte ihn getötet, und es ist allein Ihre Schuld, dass er zurückgekehrt ist. Das und alle diese Toten haben Sie sich selbst
zuzuschreiben. Ja, ich habe meinen Verdacht für mich behalten. Aber nur, weil ich gehofft hatte, dass ich mich täusche. Weil
ich nicht glauben wollte, dass Sie so unglaublich dumm sein konnten. Zudem wusste ich genau, Sie würden meine Warnungen ignorieren. Sie wollen Victor Vale fangen? Gut. Ich werde Ihnen helfen, Ihren Fehler wiedergutzumachen.«
Eli trat an das niedrige Regal und nahm die Akte des Jägers aus der Reihe mit den offenen Fällen.
»Oder Sie lassen sich weiterhin von Marcella Riggins an der Nase herumführen.«
Er warf die Mappe in das Fach in der Trennwand.
»Wenn sie herausfindet, was Victor kann, werden Sie einen hohen Preis dafür zahlen.«
Mit versteinerter Miene griff Stell nach der Akte. Doch Eli konnte sehen, wie es in ihm arbeitete.
»Meinen Vorschlag«, sagte er, »finden Sie auf der letzten Seite.«
Schweigend las Stell die Instruktionen, dann sah er hoch. »Sie glauben also, wir werden ihn so kriegen?«
»So würde ich
jedenfalls vorgehen«, antwortete Eli wahrheitsgemäß.
Als Stell sich zum Gehen wandte, rief er: »Sehen Sie mir in die Augen und versprechen Sie mir, dass Sie Victor endgültig beseitigen werden.«
Stell erwiderte seinen Blick und sagte: »Ich werde tun, was ich für richtig halte.«
Mit einem raubtierhaften Grinsen gab Eli zurück: »Natürlich werden Sie das.«
Und er dachte: aber ich auch.