XIII
Der letzte Nachmittag
EON
Victor schlug die Augen auf und erblickte sich selbst.
Seine hageren Glieder, die fahle Haut und der schwarze Anzug spiegelten sich in der Decke. Er lag auf einer niedrigen Pritsche an der Wand eines quadratischen Raums. Einer Art Zelle.
Panik stach ihn mit tausend Nadeln. Vier Jahre hatte er an einem Ort wie diesem verbracht – nein, nicht genau wie diesem, nicht so technisch ausgefeilt, aber ebenso kahl. Damals hatte man ihn in einer Isolationszelle lebendig begraben, und er hatte sich täglich geschworen, dass er sich – sollte er jemals wieder rauskommen – nie wieder einsperren lassen würde.
Er fasste sich an die schmerzende Stelle, wo der Pfeil sich zwischen seine Rippen gebohrt hatte. Mühsam setzte er sich auf, wartete kurz, bis die Übelkeit sich legte, und stand auf. Hier drinnen gab es keine Uhr und auch keine andere Möglichkeit herauszufinden, wie lange er bewusstlos gewesen war. Der einzige Anhaltspunkt war das Summen seiner Energie, das von Minute zu Minute anschwoll.
Victor unterdrückte den Drang, laut zu rufen. Der Gedanke, dass ihm nur das Echo seiner Stimme antworten würde, war beängstigend. Stattdessen sah er sich genau um. Die Wände waren nicht aus Stein, wie er zunächst vermutet hatte, sondern aus Plastik oder Fiberglas. Er konnte den Strom spüren, der die Oberflächen durchfloss. Zweifellos eine Sicherheitsmaßnahme.
Er suchte die Decke nach Kameras ab, woraufhin eine bekannte Stimme die Zelle flutete.
»Mr. Vale«, sagte Stell. »Nach so vielen Jahren befinden wir uns wieder am Ausgangspunkt. Mit dem kleinen Unterschied, dass Sie nie wieder rauskommen werden.«
»Da wär ich mir nicht so sicher«, gab Victor zurück und versuchte, Schärfe in seine Stimme zu legen. »Aber zugegebenermaßen finde ich das nicht gerade lustig.«
»Wir sind hier auch nicht im Kindergarten. Sie sind ein Mörder und entflohener Sträfling und sitzen deshalb im Gefängnis.«
»Was ist mit meinem Recht auf einen fairen Prozess?«
»Das haben Sie verwirkt.«
»Und Eli?«
»Der hat eine Aufgabe zu erfüllen.«
»Er führt Sie an der Nase herum«, höhnte Victor, »und Sie werden es erst merken, wenn es zu spät ist.«
Stell ließ diese Bemerkung unkommentiert, und Victor blieb allein mit seinen Gedanken zurück. Er schaute zu den Kameras hoch. Ihm gingen die Geduld und die Zeit aus. Doch auch wenn er in einem Käfig saß – er hatte diese Möglichkeit ebenfalls bedacht. Draußen war jemand, den keine Tür aufhalten konnte.
Die Frage war nur: Wo steckte Dominic Rusher?
Dom zerrte an seinen stählernen Handschellen, doch die waren am Tisch festgemacht.
Drei Jahre lang hatte er Angst gehabt, irgendwann in einer Zelle von EON aufzuwachen. Stattdessen fand er sich nun allein in einem Verhörraum wieder.
Auf einem Metallstuhl, gefesselt an einen Metalltisch. Die einzige Tür war verschlossen, und im Kontrollfeld an der Wand leuchtete ein roter Balken.
Panik flackerte in ihm auf. Zum Glück wusste EON nicht, dass er ein EO war.
Noch nicht.
Was unbedingt so bleiben musste.
Für den Augenblick war er gefangen. Er hätte natürlich in die Schattenwelt fliehen können, aber auch dort wäre er weiterhin an dem gottverdammten Tisch festgekettet. Und obendrein würde sich in dem Moment, in dem er wieder in die Wirklichkeit zurückkehrte, ein kurzer Riss in der Struktur des Seins zeigen. Ein Flackern. Und jeder, der sich die Aufzeichnungen der Kameras ansah, würde sofort kapieren, was es damit auf sich hatte.
Was er war.
Also wartete Dom, zählte die Minuten und fragte sich, wo Eli gerade sein mochte. Und hoffte, dass Victor entkommen war.
Endlich leuchtete der Balken auf dem Kontrollfeld grün.
Die Tür öffnete sich mit einem Klicken, und zwei Soldaten betraten die Zelle.
Dominic hatte auf ein freundliches Gesicht gehofft. Stattdessen sah er sich wieder Rios gegenüber sowie Hancock, einem grobschlächtigen, brutalen Soldaten. Sehnsüchtig heftete Dominic den Blick auf den schrumpfenden Türspalt, bis ein erneutes Zischen erklang und der rote Balken auf dem Kontrollfeld aufleuchtete.
Mist.
Rios trat zu ihm und legte eine Akte auf den Tisch. Seine Akte. Dominics Blick glitt über die hervorstehenden Seiten, auf der Suche nach einer Büroklammer oder Ähnlichem. Irgendetwas Nützlichem.
»Agent Rusher«, sagte Rios. »Würden Sie uns bitte erklären, was Sie im Büro des Direktors zu suchen hatten?«
Dom hatte die Wartezeit gut genutzt. Sich auf alle Fragen vorbereitet. »Ich wollte einen Mörder an der Flucht hindern.«
Mit hochgezogener Braue fragte Rios: »Können Sie mir das näher erläutern?«
Dom beugte sich vor. »Wissen Sie, was Eli Ever – oder Eliot Cardale, wie er früher hieß – getan hat?«
»Ich habe seine Akte gelesen«, sagte sie. »Genauso wie Ihre.«
»Dann wissen Sie ja, dass ich eines seiner Ziele war. Ich hab nach wie vor keine Ahnung, warum. Wenn Eli mich damals erwischt hätte, wär ich schon längst tot. Als ich gehört hab, dass der Direktor ihn aus seiner Zelle rauslassen will, hab ich beschlossen, das zu verhindern. Ich konnte doch nicht zulassen, dass dieser wahnsinnige Massenmörder frei in Merit herumläuft.«
»Dazu hatten Sie keine Befugnis, Soldat.«
»Dann entlassen Sie mich«, gab Dom zurück.
»Dazu bin wiederum ich nicht befugt«, sagte Rios. »Ich halte Sie hier fest, bis der Direktor zurückkehrt und eine Entscheidung trifft.«
Während sie sprach, blätterte Rios in der Akte, und Doms Blick fiel auf eine Heftklammer, kurz bevor Hancocks Funkgerät sich meldete. Aufgrund des Rauschens konnte Dominic kaum etwas verstehen. Ein Wort stach jedoch heraus.
Vale.
Dom versuchte, jede Regung zu unterdrücken, während Hancock das Gerät ans Ohr hob.
Vale … aufgewacht …
»In der Zwischenzeit«, fuhr Rios fort, »sollten wir …«
»Wie sind Sie in Stells Büro gekommen?«, fragte Dominic, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Ein Schatten huschte über Rios’ Gesicht, als sie ihn ansah. Dom ließ nicht locker. »Es gibt nur eine Tür, die ich immer im Blick gehabt habe. Aber Sie sind hinter mir aufgetaucht.«
Rios warf ihm einen scharfen Blick zu. »Hancock«, sagte sie. »Rufen Sie den Direktor an, und fragen Sie ihn, wie wir hier vorgehen sollen.«
So gespannt Dominic auf Rios’ Erklärung war, wollte er in erster Linie hier raus. Er wartete, während Hancock die Karte durchzog, der Balken auf dem Kontrollfeld sich wieder grün färbte und die Tür sich klickend öffnete.
»Und jetzt, Agent Rusher«, hörte er Rios sagen, »ist es Zeit, dass wir ein Wö…«
Bevor sie zu Ende sprechen konnte, sog Dominic die Luft tief in die Lungen, wie ein Schwimmer vor dem Sprung ins Wasser, und kippte mit dem Stuhl nach hinten. Die Luft um ihn herum teilte sich, während er in die Schattenwelt eintauchte.
Der Verhörraum wirkte nun wie ein nachgedunkeltes Schwarzweißfoto. Rios war in der Bewegung erstarrt, ihr Gesicht unlesbar. Hancock stand in der geöffneten Tür. Und Dominic war noch immer an den Tisch gefesselt.
Er stand auf, zog die Akte zu sich heran und löste die Heftklammer aus den Papieren. Dann bog er das schmale Metallstück gerade und ging daran, damit das Schloss der Handschellen zu öffnen. Die Schatten legten sich schwer auf ihn wie nasse Wolle, auf seiner Haut bildete sich durch den permanenten Druck ein roter Striemen, aber nach mehreren vergeblichen Versuchen hatte er es geschafft. Der erste Metallring löste sich. Er wiederholte die mühsame Prozedur am anderen Arm, bis auch dieser befreit war.
Dann legte er Rios die Handschellen an, duckte sich unter Hancocks Arm durch und trat hinaus in den Gang. Die Luft schien ihn mit zähen Fingern festzuhalten, während er in Richtung des nächstgelegenen Kontrollraums ging. Dort saß eine Soldatin namens Linfield vor einem Schaltpult, das Gesicht im Gähnen erstarrt. Dominic nahm ihr den Elektroschocker ab, setzte ihn ihr an den Nacken und verließ die Schattenwelt wieder.
Bläuliche Funken knisterten, und Linfield sackte in sich zusammen. Dominic schob sie mitsamt dem Stuhl weg und machte sich an die Arbeit. Seine Finger flogen über die Tastatur.
Ihm blieb nicht viel Zeit. Hier in der Realität konnte jede Sekunde der Alarm losgehen, sich eine Schar Soldaten auf ihn stürzen. Und trotzdem schlug sein Herz ruhig und stetig, und die Welt schrumpfte auf die Tastatur vor ihm zusammen. Seine Zeit beim Militär hatte ihn auf Situationen wie diese vorbereitet.
Dom hatte keine Zeit herauszufinden, in welcher Zelle man Victor gefangen hielt. Daher wählte er den schnellsten Weg.
Er öffnete alle Zellen.
Soeben war Victor noch unruhig in seiner stillen, kahlen Zelle auf und ab gegangen, und im nächsten Moment schlug eine Woge von Lärm und Bewegung über ihm zusammen. Ein Alarm schrillte, während die weiße Fiberglaswand im Boden verschwand.
Weiße Lichter blinkten an der Decke, aber statt sich zu verriegeln, öffnete sich die Anlage. Auf allen Seiten hörte Victor, wie Schlösser sich klickend entriegelten und Metalltüren aufsprangen.
Na endlich.
Er verließ seine Zelle und fand sich nunmehr in einer Betonhalle von den Ausmaßen eines kleinen Hangars wieder. Er schritt die Wände ab, bis er auf eine Tür stieß. Diese ließ sich mühelos öffnen und führte in einen weißen Gang.
Bereits nach wenigen Schritten wurde alles, was soeben passiert war, rückgängig gemacht.
Türen schlossen sich krachend, Schlösser schnappten zu, und der Alarm verstummte, bevor er neuerlich einsetzte, nur dass die Lichter nunmehr in tiefem Rot blinkten.
Victor dachte gar nicht daran, stehen zu bleiben.
Auch nicht, als er in einem Nebengang Schüsse hörte, gefolgt von Stiefeltrampeln auf glattem Linoleum, und weiße Gaswolken aus den Lüftungsschlitzen an der Decke drangen.
Erst als sich eine Barriere krachend quer über den Gang vor ihm schob, machte Victor auf dem Absatz kehrt. Mit angehaltenem Atem bog er um eine Ecke und sah sich plötzlich zwei bewaffneten und behelmten Soldaten gegenüber.
Die beiden rissen die Waffen hoch, und Victor griff nach ihren Nerven. Doch er war einen Sekundenbruchteil zu langsam. Sie hatten schon abgedrückt.
Eine Stahlkugel – diesmal kein Betäubungspfeil – streifte seine Hüfte und brachte ihn ins Straucheln. In diesem kurzen Augenblick seiner Unaufmerksamkeit richteten sich die Waffen auf Victors Kopf und Herz.
Er hörte Schüsse krachen und wartete auf den Schmerz.
Stattdessen legte ihm jemand den Arm um die Schulter. Dann schob sich Dominics Körper vor ihn wie ein Schutzschild.
Die Welt um ihn herum verstummte plötzlich.
Er und Rusher befanden sich noch in demselben Gang, aber jede Spur von Gewalt und Bewegung war verschwunden, ersetzt durch friedliche Stille. Die Soldaten waren in der Bewegung erstarrt, die Kugeln hingen auf ihrer Flugbahn in der Luft.
Victor atmete mehrmals tief durch, dann versuchte er zu sprechen. Vergeblich. Die Schatten verschluckten nicht nur Licht und Farben, sondern auch sämtliche Laute.
Dominics maskenstarres Gesicht schwebte nur wenige Zentimeter vor ihm, seine Hand hielt ihn am Ärmel gepackt. Dann ruckte er auffordernd mit dem Kopf.
Mir nach.