I
Danach
Stells Apartment
Victor sah auf sein Handy.
23 .45 Uhr.
Nur noch fünfzehn Minuten bis Mitternacht, und er war immer noch in Merit.
Er lehnte sich in dem abgewetzten Sessel zurück und drehte den inneren Regler hoch, um seine Nerven zu testen. Vor ein paar Stunden, als die Wirkung von Havertys Serum nachgelassen hatte, hatten diese gekribbelt wie ein Arm, in den das Gefühl zurückkehrte. Dann erst hatte Victor die Kontrolle wiedergewonnen.
Mit seiner Gabe war auch das Summen in Victors Kopf wieder da, das elektrische Knistern, das den nächsten Schub ankündigte. Der dann allerdings ausblieb. Denn merkwürdigerweise hatte Victor, bevor er den Lagerraum betrat, das Summen schon in den Gliedmaßen gespürt und gewusst, dass die Spannung kurz vor der Entladung stand. Aber als Havertys Serum seine Gabe unterdrückt hatte, hatte sie auch den Schub verhindert. Und irgendwo tief in Victors Nervensystem auf den Reset-Knopf gedrückt.
Er zog eines der sechs Fläschchen aus der Tasche, die er aus dem Lagerraum mitgenommen hatte. Sogar in der Dunkelheit des Apartments leuchtete die Flüssigkeit hellblau.
Es war natürlich eine drastische Lösung, doch immerhin ein Fortschritt.
Natürlich musste er aufpassen. Jeder Gebrauch des Serums schützte ihn zwar vor dem Tod, nahm ihm jedoch gleichzeitig seine Gabe und machte ihn für ein paar Stunden verwundbar. Aber auch dazu hatte er sich bereits Gedanken gemacht. Einen Plan geschmiedet.
Vielleicht könnte er mit der richtigen Dosis ein Gleichgewicht finden. Und dieses Vielleicht gab ihm eine verloren geglaubte Hoffnung zurück.
Sein Handy leuchtete auf. Er hatte es auf leise gestellt, doch auf dem Bildschirm blinkte Sydneys Name.
Victor rührte sich nicht.
Er wartete, bis der Bildschirm wieder schwarz wurde, und steckte das Handy in die Tasche. Draußen waren Schritte zu hören, dann wurde ein Schlüssel im Schloss umgedreht, und Stell, der an einem Fuß einen Stützschuh trug, kam hereingehumpelt. Er warf die Schlüssel in eine Schale, hinkte, ohne das Licht einzuschalten, in die Küche und goss sich einen Whiskey ein.
Erst als er den Drink zum Mund führte, merkte er, dass er nicht allein war.
Er stellte das Glas wieder ab.
»Victor.«
Stell zog erstaunlich geistesgegenwärtig seine Pistole und richtete sie auf Victors Kopf. Oder vielmehr hätte er das getan, wenn Victor nicht nach seinen Nerven gegriffen hätte.
Mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht versuchte Stell, sich zu befreien. Sein Wille kämpfte gegen Victors Willen, aber natürlich war Victor der Stärkere.
Er hob eine Hand und richtete sie auf sich selbst, und Stell folgte der Bewegung spiegelbildlich, bis die Mündung der Pistole an seiner eigenen Schläfe ruhte.
»Wir können die Sache auch anders regeln«, sagte Stell.
»Sie haben mich schon zweimal eingesperrt«, erwiderte Victor. »Ein drittes Mal wird Ihnen das nicht gelingen.«
»Mich zu töten bringt Ihnen gar nichts!«, blaffte Stell. »Den Aufstieg von EON können Sie dadurch nicht aufhalten. Die Institution ist größer als ich und wächst mit jedem Tag.«
»Ich weiß«, sagte Victor und befahl Stells Finger, den Abzug zu berühren.
»Verflucht noch mal, hören Sie mir doch zu. Wenn Sie mich töten, machen Sie sich zum Hauptfeind von EON . Zur wichtigsten Zielscheibe. Die werden nicht aufgeben, bevor sie Sie erwischt haben.«
Mit einem grimmigen Lächeln antwortete Victor: »Ich weiß.«
Und ballte die Hand zur Faust.
Ein Schuss knallte durch den Raum. Victor ließ die Hand sinken, während Stell tot zu Boden sackte.
Victor atmete tief durch, um sich zu beruhigen.
Dann zog er einen Zettel aus der Tasche. Eine Seite aus dem zerlesenen Taschenbuch, auf der er alles geschwärzt hatte. Außer fünf Wörtern.
Fangt mich, wenn ihr könnt.
Victor ließ die Tür hinter sich offen.
Auf der Straße zog er das Handy aus der Tasche. Es vibrierte, und auf dem schwarzen Bildschirm leuchtete Sydneys Name in weißen Buchstaben. Er schaltete es aus und warf es in einen Mülleimer.
Anschließend schlug er den Kragen hoch und verschwand in der Dunkelheit der Nacht.