Kapitel 7

Entkräftet sinke ich auf die Knie und stütze meine Hände auf dem harten Erdboden auf, dessen Frostschicht sich langsam zurückzieht. Ich versuche, tief und bewusst zu atmen, doch meine Lungen brennen vor Kälte.

»Scheiße, geht’s dir gut?«, ruft Cara.

In Windeseile ist sie bei mir und geht vor mir in die Hocke. Mit beiden Händen umfasst sie mein eiskaltes Gesicht, während sie mich anstarrt, als müsste sie herausfinden, ob sich hinter meinen Augen noch Leben verbirgt.

»Ach, was frage ich überhaupt? Deine Lippen sind verdammt noch mal blau.« Schuldbewusstsein macht sich in ihrer Miene breit. »Wir haben versucht, zu dir durchzukommen, aber dieser Kälteausbruch war so heftig, dass er dich verschluckt hat. Wir dachten, du stirbst!«

Ihr zerknirschter Gesichtsausdruck tut mir unfassbar leid. Eigentlich sollte ich ein schlechtes Gewissen haben, immerhin habe ich sie hierhergeschleift.

»Es geht mir gut. Mir ist bloß ein bisschen kalt.«

Was ich für mich behalte, ist die erschreckende Erkenntnis, dass sich das eben tatsächlich wie Sterben angefühlt hat. Ich bin gestorben. Der Baum hat sich lediglich dazu entschieden, es nicht zu Ende zu bringen.

Naomi kommt an Caras Seite und mustert mich besorgt. »Nimm meine Hände.«

Cara macht Platz, damit ich Naomi berühren kann. Ihre Hände sind wie immer warm, und sie lässt wohltuende Sommermagie in mich hineinfließen, die allmählich die hartnäckige Kälte vertreibt. Nach ein paar Sekunden ist die blauviolette Färbung meiner Nägel verschwunden.

»Wir müssen weiter«, dränge ich, bevor ich aufstehe.

»Bist du sicher?«, fragt Naomi. »Du siehst total fertig aus, und Cara ist auch müde. Wir sollten abhauen.«

»Auf keinen Fall.«

Nachdem ich dem Tod und meinem gebrochenen Herzen ins Auge geblickt habe, mache ich bestimmt keinen Rückzieher mehr.

Wir öffnen die Tür, die der Baum nun freigegeben hat, und gelangen in einen kleinen, fensterlosen Raum, in dessen Mitte ein schwarz glänzender Obelisk steht. Mit goldenen Buchstaben wurde etwas in den Stein graviert.

Die Wahrheit ist das schärfste Schwert. Wer altes Wissen nicht ehrt, dem bleibt der Pfad zu ihm auf immer verwehrt.

»Das ist eine Sackgasse«, entfährt es mir. »Aber das kann nicht sein. Irgendetwas muss hier sein. Was könnte das bedeuten, altes Wissen ehren

Wir sehen uns gemeinsam im Raum um. Mum hat definitiv gesagt, die Archive seien unterirdisch, also was übersehen wir?

»Hm«, macht Cara nachdenklich. »Vielleicht gibt es eine versteckte Tür?«

»Wahrscheinlich«, erwidert Naomi. »Nur wie finden wir die?«

»Ich könnte überprüfen, ob es einen Luftzug gibt.« Cara schließt die Augen und versucht, etwas zu spüren, das uns verborgen bleibt. Nach einigen Sekunden öffnet sie die Augen und marschiert zur östlichen Wand des Raumes. »Hier.«

Ein violettes Leuchten erscheint unter ihrer Hand. Kurz darauf ertönt ein metallisches Klicken. Während sich im Stein eine Geheimtür offenbart, macht Cara zwei Schritte zurück.

»Ein magischer Mechanismus«, sagt sie zufrieden.

Ich strahle sie begeistert an. »Du bist ein Genie.«

Sie grinst und atmet tief durch. »Manchmal.«

»Vergiss das manchmal. Ohne dich wären wir absolut aufgeschmissen.«

Cara vergräbt ihre Finger in ihrem Haar. »Am besten geht ihr ohne mich weiter. Wenn wir alle da drin sind und jemand kommt, können wir nicht verhindern, dass sie uns entdecken. Aber wenn ich bleibe und im richtigen Moment reagiere, haben wir eine Chance.«

Ich mustere sie besorgt. »Bist du sicher? Du musst doch erschöpft sein.«

»Bin ich«, bestätigt sie. »Solange ich allerdings die Wahl habe, entweder für den Einbruch in die Archive verknackt zu werden oder den letzten Rest meiner Magie zu mobilisieren, würde ich mich immer für Letzteres entscheiden.«

Dankbar berühre ich sie am Oberarm. »Du hast wirklich was gut bei mir.«

»Ich erinnere dich dran, darauf kannst du dich verlassen.«

Gemeinsam mit Naomi mache ich mich auf den Weg durch die geheime Tür, hinter der sich eine Menge Stufen befinden, die weit in die Tiefe führen. Naomi entzündet eine Flamme über ihrer Hand und geht voraus, um uns den Weg zu leuchten. Die Treppe ist schmal und von einer scharfkantigen Steinwand umgeben, so als würden wir geradewegs in eine Höhle hinabsteigen. Mit jeder Stufe wird die Luft kühler und trockener. Ich habe das Gefühl, dass wir eine halbe Ewigkeit unterwegs sind, bis wir endlich auf eine weitere Tür stoßen.

Wir gehen hindurch und befinden uns kurz darauf auf einer Art Empore, von der aus wir über den riesigen Raum unter uns hinwegblicken können. Sobald wir auf die Balustrade zutreten, entflammt goldenes Feuer in den Laternen, die von der Decke hängen, und taucht den großen Saal in mystisches Licht. Unter uns befinden sich Abertausende Bücher und Akten, die sauber aufgereiht in Regalen stehen und sich bis zur hohen steinernen Decke stapeln. Der Geruch von altem Pergament hängt schwer in der Luft.

»Wo sollen wir bloß anfangen?«, fragt Naomi und nimmt den Saal in Augenschein.

»Irgendwo müssen wir«, meine ich. »Wenn wir in einem der Bücher Namen finden, sind wir vielleicht schon richtig.«

Trotz meiner Überlegung verlässt mich der Mut. Es sind so viele Regale, wie soll es uns da ohne Kenntnis dieses Ortes gelingen, Unterlagen zu vier einzelnen Personen zu finden? In New London leben Tausende Hexen, und das schon seit Jahrhunderten. Es erscheint mir fast unmöglich, in so kurzer Zeit die Informationen zu finden, die wir brauchen.

Meinen Missmut teile ich jedoch nicht, sondern betrete die Stufen, die in die Halle hinunter führen. Jetzt sind wir hier, also können wir es wenigstens versuchen.

»Dann legen wir mal besser los«, sage ich. »Wenn du Unterlagen mit Namen findest, gib mir Bescheid.«

Wir teilen uns auf und durchstöbern die verstaubten Regale. Zu wissen, dass wir nicht viel Zeit haben, macht mich in Anbetracht der Größe dieses Saals nervös. In höchster Eile schnappe ich mir Bücher, Akten oder sonstige Unterlagen, die fein säuberlich sortiert wurden, und spähe hinein. Mitschriften von Ratssitzungen, archivierte Zeitungen und Geschichtsbücher, die das Leben der Hexen in der Menschenwelt beschreiben, bevor sie sich in ihre magischen Refugien zurückgezogen haben. Wäre ich nicht so unter Zeitdruck, würde ich das alles lesen wollen, aber jetzt brauche ich etwas anderes.

Frustriert arbeite ich mich von Regal zu Regal, nur um immer wieder die falschen Dinge zu finden. Auch Naomi scheint keine Fortschritte zu machen. Verdammt, die Uhr tickt. Ob wir wieder verschwinden sollten, bevor es zu spät ist?

»Hier sind ein paar Namen«, ruft Naomi, als ich kurz davor bin aufzugeben. »Allerdings scheinen diese Leute schon lange tot zu sein. Geboren vor über zweihundert Jahren.«

Ich gehe zu ihr hinüber. »Nicht gut. Die Opfer waren alle zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt.«

Wir suchen weitere Regale ab, in der Hoffnung, aktuellere Unterlagen zu finden. Doch egal, wo wir nachsehen, wir entdecken nur Einträge zu Personen, die längst tot sind.

Ich raufe mir die Haare und lege den Kopf in den Nacken. Irgendwie müssen wir an die oberen Regale herankommen. Wenn die älteren Einträge unten sind, dann befinden sich die neueren vielleicht dort.

»Würden wir wenigstens Informationen zu einer Person finden«, seufze ich. »Der Name Josephine Hill sagt mir was, aber mir fällt nicht ein, woher ich ihn kenne.« Verdrossen ziehe ich ein weiteres Buch aus dem Regal und blättere es durch, doch die Jahreszahlen und Informationen, die zu den Namen darin gehören, sind bei Weitem nicht jene, die ich bräuchte.

»Reva«, ruft Naomi. »Schau mal!«

Ich sehe erst sie an und folge dann ihrem überraschten Blick, der auf etwas über uns gerichtet ist. Als ich es ebenfalls erspähe, traue ich meinen Augen kaum. Ein Buch mit schwarzem Einband schwebt in der Luft und kommt langsam auf uns zu. Es sinkt herab, bis es sich direkt vor mir befindet. Ich greife danach und schaue Naomi an, die verwirrt mit den Schultern zuckt.

Neugierig werfe ich einen Blick in das Register des Buches. Eine Liste mit Namen, nach Geburtsjahr und alphabetisch geordnet. Ich lese alles sorgfältig und blättere Seiten um, bis ich den einen Namen finde, den ich gesucht habe. Josephine Hill. Mein Herz rast vor Aufregung. Kommentarlos zeige ich Naomi den Namen im Register.

»Aber wie …?«, fragt sie.

»Magie.«

Ich blättere auf die angegebene Seite und lese die Informationen zu Josephine Hill. Sie war einundzwanzig Jahre alt. Der Name ihrer Mutter lautet Elizabeth Hill, eine geborene Kent.

Plötzlich weiß ich, wer sie ist.

Ihre Mutter ist eine der drei Schwestern von Edward Kent, dem Ratsmitglied der Herbsthexen. Sie gehört zu einer Adelsfamilie. Wenn Jonathan jetzt bei uns wäre, würde er mir selbstgefällig vorhalten, was für eine großartige Idee es doch war, mich hierherzuschicken. Ob er das geahnt hat?

»Denkst du, es bringt was, wenn wir die anderen Namen auch laut aussprechen?«, fragt Naomi. »Als du vorhin den Namen gesagt hast, kam dieses Buch angeflogen. Vielleicht klappt das bei den anderen ja genauso.«

»Einen Versuch ist es wert.« Ich schaue wieder nach oben. »Florence Parker.«

Es dauert nur wenige Sekunden, bis sich ein weiteres Buch aus einem der obersten Regale löst und zu uns schwebt. Ein Grinsen stiehlt sich auf meine Lippen.

»Emma Morris«, fahre ich fort.

Das nächste Buch macht sich auf den Weg, noch bevor das andere bei uns angekommen ist.

»Milton Nicholls.«

Ich sammele die Bücher ein, bevor wir uns mit ihnen auf den Boden knien und sie durchsuchen. Die übrigen drei Opfer kann ich aufgrund ihrer Namen und dem der Eltern keiner bestimmten Familie zuordnen, aber alle wurden ebenfalls in der Hexenwelt geboren. Außerdem gibt es eine weitere Gemeinsamkeit.

»Da sind überall geschwärzte Passagen«, murmele ich.

»Ist dir das sonst noch irgendwo aufgefallen?«, fragt Naomi.

Ich blättere durch die Seiten von einem Buch. »Bisher nicht. Das scheint unüblich zu sein.«

»Hm«, macht Naomi. »Was da wohl verborgen werden sollte?«

Gute Frage. Leider haben wir keine Möglichkeit, das herauszufinden. Zumindest nicht, wenn niemand erfahren soll, dass wir hier gewesen sind.

»Lass uns alles aufschreiben und dann verschwinden«, sage ich, woraufhin Naomi aus der Innentasche ihres Umhangs ein Stück Pergament und einen Stift zieht.

»Sollen wir Cara holen, damit sie die Bücher wieder dorthin zurückfliegen lässt, wo sie hergekommen sind?«, fragt sie, als wir fertig sind. »Oder kennst du zufällig den geheimen Trick, mit dem sie wieder in ihr Regal fliegen?«

Noch einmal spreche ich alle vier Namen laut aus, in der Hoffnung, dass die Bücher zurück an ihren Platz schweben – ohne Erfolg. Wir probieren noch einige Wortkombinationen durch, aber nichts, was wir sagen, hat einen Einfluss auf sie, und wir schaffen es auch nicht allein, sie wieder nach oben zu befördern. Also machen wir uns auf den Weg zu Cara, damit sie die Bücher für uns an ihren Platz stellt.

Als wir auf der Empore ankommen, sehen wir jedoch, wie die Bücher nach und nach von selbst in die Luft steigen und zu ihrem Regal zurückkehren.

Naomi grinst. »So was bräuchte Jonathan auch, dann würden sich nicht überall in seinem Büro Akten türmen.«

Zufrieden verlassen wir den Saal und erklimmen mithilfe von Naomis Feuer die Stufen. Doch als wir zurück in den Raum mit dem Obelisken kommen, finden wir von Cara keine Spur mehr.

Ich blicke mich um. »Wo ist sie hin?«

»Vielleicht schon wieder beim Eingang?«, überlegt Naomi. »Immerhin wollte sie sicherstellen, dass keiner reinkommt.«

»Wahrscheinlich hast du recht.«

Um den Geheimgang kümmern wir uns nicht. Stattdessen ist mein Kopf schon damit beschäftigt, wie wir ungesehen wieder rauskommen. Am besten wäre es, nach einem Fenster zu suchen und dort auszusteigen, damit wir unauffällig das Gelände verlassen können. Aber was, wenn es noch weitere Fallen neben dem Baum gibt? Wenn uns draußen jemand sieht? Hoffentlich konnte Cara sich in der Zwischenzeit etwas regenerieren. Und hoffentlich bleibt der Baum uns freundlich gesinnt.

Als wir vorsichtig die Tür öffnen, ist es jedoch nicht der Baum selbst, der dafür sorgt, dass sich mein Puls beschleunigt, sondern unsere Freundin, die mithilfe eines äußerst biegsamen Astes an seinen Stamm gefesselt wurde.

»Es tut mir so leid«, ruft Cara unglücklich.

Ganz in ihrer Nähe steht eine Person, auf deren Anwesenheit ich in diesem Moment und auch in so ziemlich allen anderen verzichten könnte.

Das Sonnenlicht, das in den Raum fällt, zaubert goldene Reflexe in Gabriels Haar und lässt seine Augen genauso glühen wie damals im See.

Er taxiert mich. »Manche Dinge ändern sich wohl nie, nicht wahr?«