Prüfend betrachte ich mich im goldgerahmten Standspiegel neben meinem Himmelbett. Der samtige schwarze Stoff meines schulterfreien Abendkleides schmiegt sich sanft an meine Haut, und die aufgenähten Pailletten funkeln darauf wie goldene Sternenbilder. Sie passen farblich perfekt zum gleißenden Sonnenanhänger des Satinbands, das meinen Hals schmückt. So extravagant habe ich mich ewig nicht gefühlt.
Daisy steht hinter mir und zupft meine Frisur zurecht, sodass mein Haar in glanzvollen pechschwarzen Wellen über meine Schultern fließt.
»Du willst uns heute ganz sicher begleiten?«, fragt sie besorgt. »Immerhin wäre es das erste Mal seit …«
»… dem Vorfall«, beende ich ihren Satz.
Wir nennen den Reva-hat-aus-Liebeskummer-die-Bernsteinvilla-eingefroren-Abend inzwischen nur noch den Vorfall. Klingt harmloser, als es in Wirklichkeit war.
Meine Schwester nickt. »Zu der Eröffnungsfeier der Campbells kommen traditionell die meisten Leute. Die werden dich alle anstarren. Vor allem in diesem Outfit.«
Ich verstehe ihre Vorbehalte. In der Vergangenheit habe ich nie etwas getragen, was für eine Wintererbin derart unziemlich gewesen wäre. Innerhalb dieser Familie kleidet man sich zu offiziellen Anlässen stets in den repräsentativen Blautönen und entscheidet sich für klassische, zurückhaltende Schnitte. Unser Status muss über unseren körperlichen Attributen stehen, denn womit wir imponieren, soll einzig und allein unsere Macht sein.
Nur was, wenn man in den Augen der hohen Hexengesellschaft keine Macht besitzt?
Bei Daisy mag die Philosophie unserer Familie funktionieren. Mich haben die Leute dagegen bloß als das wahrgenommen, was ich bin. Die sonnengeborene Erbin, die für den Ratssitz der Winterhexen ungeeignet ist. Deshalb habe ich Kleider mit langen, weiten Ärmeln getragen, um das Zeichen auf meinem Handgelenk zu überdecken. Habe schamhaft die Wahrheit kaschiert, die man mich nie hat vergessen lassen. Aber diese Zeiten sind jetzt vorbei. Sie werden mich sehen, dafür sorge ich.
»Lass sie starren«, sage ich zu meiner Schwester. »Sie hätten mich sowieso angegafft. Wird Zeit, ihnen einen echten Grund zu geben.«
Der beklommene Ausdruck in ihrem Gesicht bleibt bestehen. Im Gegensatz zu mir hält sie mit ihrer stilvollen eisblauen Robe an unseren Traditionen fest. Dank der schicken, mit weißen Perlen veredelten Hochsteckfrisur kommen ihre Silberohrringe in Schneeflockenform perfekt zur Geltung. Sie hat schon immer eine mühelose Eleganz verkörpert, die ich nie hatte.
Ein Gefühl von kalter, bitterer Minderwertigkeit macht sich gegen meinen Willen in mir breit. So sollte ich nicht empfinden, schließlich ist Daisy meine Schwester. Abgesehen davon verdanke ich ihrer Perfektion meine Freiheit. Nur wegen ihr konnte ich mein Erbe aufgeben. Warum fühle ich mich manchmal also trotzdem so?
»Müssen wir dich heute vor Junggesellen beschützen?«, fragt Rami scherzhaft.
Als ich mich zur Seite drehe, lehnt mein Bruder mit einem breiten Grinsen am Türrahmen. Das dunkle Blau seines Gewands verleiht ihm eine geheimnisvolle Aura, und die Saphirringe an seinen Fingern sind allesamt darauf abgestimmt.
»Keine Angst«, erwidere ich. »Eine in Ungnade gefallene Erbin wäre eine ziemlich unpassende Wahl.«
Er schmunzelt. »Unpassend ist genau das, was die meisten Leute anzieht.«
Wo er recht hat …
Obwohl ich wenig Interesse daran habe, mir noch mal einen dieser feinen Herzensbrecher anzulachen, gehe ich zu meiner Kommode mit den handgeschnitzten Schubladenfronten und trage einen Spritzer Parfüm über meinem Dekolleté auf. Betörender Lavendelduft mit einem Hauch frischem Wasserjasmin breitet sich im Raum aus.
Ich sehe meine Geschwister zufrieden an. »Wollen wir dann los?«
Rami eilt voraus, um uns eine Kutsche zu organisieren, während Daisy und ich noch bei Dad anhalten, der draußen im Flur steht. Bei unserem Anblick schleicht sich ein seliges Lächeln auf seine Lippen, durch das die Falten um seine dunklen Augen tiefer werden. Mit der Rami-Gedächtnis-Sturmfrisur und dem Teefleck auf seinem weißen Leinenhemd wirkt er etwas entrückt, so als wäre er heute Nachmittag mal wieder über seinen Skizzen eingeschlafen. Typisch Dad. Er gönnt sich sogar an einem Samstag keine Pause.
»Meine beiden bezaubernden Schneestürme«, sagt er feierlich und schließt mich fest in seine Arme. »Eure Mutter wäre so stolz auf euch.«
Sie wäre stolz auf Daisy, schießt es mir durch den Kopf.
Ich bezweifele, dass Mum je stolz auf mich gewesen ist, die Tochter, die sie jeden einzelnen Tag an ihre eigene Schwäche erinnert hat. Ihr Unvermögen, meine Geburt nicht lange genug hinausgezögert zu haben, damit meine Magie sich an den Mond bindet. Ausgerechnet sie ist an etwas gescheitert, das so vielen gelingt, und das hat sie weder sich selbst noch mir jemals verziehen.
In Dads Augen finde ich jedoch keine Enttäuschung, als er mich loslässt. Nur warme, liebevolle Glückseligkeit.
»Denk an das, was ich dir immer gesagt habe«, murmelt er. »Arroganter bedeutet nicht besser.«
»Und nur, weil jemand auf dich herabblickt, heißt das nicht, dass er über dir steht«, vollende ich seine Predigt.
Er zwinkert mir verschwörerisch zu. »Das ist mein Mädchen.«
Sofort bessert sich meine Laune. Dad hatte schon immer ein Talent dafür, andere aufzubauen. Egal, wie oft ich nach einem langen Schultag niedergeschlagen nach Hause kam, er hat es jedes Mal geschafft, mich zu trösten. Hat mich so lange mit seinen altklugen Sprüchen zum Lachen gebracht, bis mir die Bauchmuskeln wehtaten, und mir dann höchstpersönlich eine Tasse Gewürztee gezaubert.
»Danke, Dad.«
Er schenkt mir sein Alles-wird-gut-Lächeln und drückt dann Daisy an sich. »Hör auf dein Herz, meine Kleine. Auch den stärksten Geist zwingt ein liebloses Leben in die Knie.«
Wir verabschieden uns von ihm und machen uns auf den Weg nach unten, wobei einige Angestellte uns bewundernde, verträumte Blicke zuwerfen. Die Aufmerksamkeit ist mir immer noch unangenehm, darum versuche ich, sie auszublenden.
»Was war das denn eben?«, will ich von meiner Schwester wissen.
»Meinst du den Lebensratschlag von Dad?«
»Ja.«
»Dachtest du, die hebt er sich alle für dich auf?«
Ich zucke mit den Schultern. Ehrlicherweise habe ich geglaubt, er hätte damit aufgehört, sie Daisy zu geben, nachdem er festgestellt hat, dass sie ihr Leben auch ohne seine Wie-überlebe-ich-da-draußen-Anleitungen im Griff hat. Neben ihr wirke ich wahrscheinlich sehr bedürftig.
»Meinen habe ich wenigstens verstanden«, merke ich an.
Sie wird ernst. »Ich meinen auch.«
Die Bedeutung von Dads Ratschlag interessiert mich brennend, aber wenn sie so wortkarg ist, will sie nicht darüber reden, also lasse ich das Thema ruhen. Ich hüte selbst mehr als genug Geheimnisse. Zum Beispiel den Grund dafür, warum ich die Party der Campbells besuche. Oder die Tatsache, dass ich mich mit Gabriel zusammengetan habe, um diesem Serienmörder auf die Schliche zu kommen. Daisy würde mir eine endlose Moralpredigt halten. Die beiden haben zwar im Rat miteinander zu tun, aber abseits davon meidet sie ihn wie ein Schneemann das Feuer.
Auf der Straße vor dem Anwesen steht eine Kutsche bereit, die Rami für uns aufgetrieben hat. Wir klettern hinein und stimmen den magischen Kristall im Inneren auf den Rubinpalast ein. Das letzte Mal war ich vor vier Jahren dort, und allein beim Gedanken daran, heute da aufkreuzen zu müssen, werden meine Handflächen feucht. Eigentlich kann es mir egal sein, was die Leute auf dieser protzigen Feier von mir halten, aber die Erkenntnis muss meinen Körper wohl erst noch erreichen.
Ich betrachte die Straßen und Gebäude von New London durch das Kutschenfenster. An einigen Hausfassaden und Steinmauern prangen Schriftzüge, die mir schon vor ein paar Tagen auf meinem Weg zur Schneiderei aufgefallen sind.
Die Sonne strahlt heller als der Mond, steht in blutroten Lettern an einer Außenwand geschrieben. Protestnachrichten von Sonnengeborenen, die sich gegen das System richten. Ein paar von denen gab es schon immer, aber es sind mehr geworden. Auch Anfeindungen gegen Gabriel entdecke ich unter den frustrierten Schmierereien. Nur Verräter gehen mit der Sonne ins Bett.
Mir wird schlecht, wenn ich das sehe.
Etwas hat sich verändert. Die Stimmung scheint auf beiden Seiten mächtig zu brodeln. Ob das in anderen Hexenstädten auch so ist? Ich habe mal gehört, in manchen von ihnen gibt es mehr Sonnenstunden. Vielleicht hätte ich nach New Lissabon oder New Madrid ziehen sollen.
Als wir beim Rubinpalast ankommen, stehen dort bereits so viele Kutschen, dass unsere in einer Parallelstraße anhalten muss. Sowohl vor dem Grundstück als auch im hell erleuchteten Innenhof des prächtigen dreistöckigen Gebäudes tummeln sich unzählige Hexen. Wir müssen uns regelrecht durch die Massen kämpfen. Die wenigsten von denen sind zur Feier geladen, doch das hält sie nicht davon ab, trotzdem hier aufzutauchen. Niemand lässt sich das Spektakel entgehen, wenn die Ballsaison eröffnet wird. Einige hoffen bestimmt, sich an jemanden mit einer Einladung für zwei Personen heften zu können.
Ich wünschte, Naomi wäre hier. Cara arbeitet heute zwar als Sängerin auf der Party, wird deswegen allerdings kaum Zeit haben.
Mühevoll bahnen wir uns einen Weg durch das Meer von edlen Umhängen, aufwendigen Frisuren und teuren Accessoires. In den pechschwarzen Laternen, die an Seilen über unseren Köpfen hängen, brennen rubinrote Flammen. Dafür war sicher einige Sommermagie nötig, aber Alexandra Campbell scheut grundsätzlich keine Kosten und Mühen für ihre aufgeblasenen Veranstaltungen.
Daisy kündigt uns bei den Wachen neben der halb geöffneten Doppeltür an. Ihre Stimme klingt so autoritär, dass die Männer nicht einmal ihren Wahrheitskristall nutzen, um unsere Identität zu überprüfen.
Bereits am Eingang schlägt mir der Geruch von einem frisch angezündeten Streichholz entgegen, ein untrügliches Zeichen dafür, dass man die Domäne der Sommerhexen betritt. In goldenen Schalen, die überall aufgestellt worden sind, lodern die gleichen rot glühenden Flammen wie draußen, nur dass die im Innenbereich von Zeit zu Zeit die Form eines sich windenden Drachen annehmen. An den Wänden hängen unzählige Porträts der allesamt bleichen, blauäugigen Familienmitglieder, deren herablassender Gesichtsausdruck den Anschein erweckt, als könnten sie das Wort Spaß nicht einmal buchstabieren.
Mein Blick fällt auf die sonderbaren lebensgroßen Obsidian-Figuren, die im schummrigen Licht der Flure verdammt unheimlich aussehen.
»Unsere Dekoration hat mir immer besser gefallen«, raune ich.
»Mit der Eleganz von Eis kann Feuer eben nicht mithalten«, meint Rami. »Dafür zünden sie um Mitternacht sicher wieder ein denkwürdiges Feuerwerk.«
Daisy verdreht die Augen. »Bevor es so weit ist, müssen wir uns leider erst durch eine zwei Stunden andauernde Feuershow quälen.«
Hätte mich auch gewundert, wenn sie diese Tradition abgeschafft hätten. Die Campbells lieben es, ihren Reichtum zur Schau zu stellen, was bereits die Einrichtung des Palasts eindrucksvoll demonstriert. In den goldenen Kronleuchtern an der Decke schimmern glühende Rubine, deren Farbe perfekt zu den schweren roten Samtvorhängen vor den bodentiefen Fenstern passt. Sie halten neugierige Blicke von ungebetenen Gästen draußen und machen diese Party damit zu einem exklusiven Event.
Je mehr Leute uns begegnen, desto nervöser werde ich. Als Detektivin, die sich regelmäßig an Tatorten herumtreibt, sollte ich in so einer Situation definitiv gelassener sein, aber was man sein sollte und was man tatsächlich ist, sind wie immer zwei grundverschiedene Dinge.
Wir erreichen den großen Festsaal, der an das Innere eines Vulkans erinnert. Das liegt einerseits an dem schwarzen Granitboden, in den feinste glitzernde Partikel eingearbeitet wurden, wodurch er aussieht wie veredelte Asche, und andererseits an der Tatsache, dass es hier drin viel zu heiß ist. So schnell wir können, geben wir unsere Umhänge bei einem Bediensteten ab. Jetzt bin ich doppelt froh über mein schulterfreies Kleid.
Schon als wir bei den breiten Marmorstufen ankommen, die in den Hauptbereich des Saals hinunterführen, richten sich zahlreiche Blicke auf uns. Ich würde mir gern einreden, dass sie alle Daisy gelten, aber das kollektive Geflüster lässt mich anderes vermuten. Während die Gäste vornehm an ihren Kristallgläsern mit Goldrand nippen, beobachten sie eindeutig mich. Manche Personen ganz in der Nähe geben sich wenig Mühe, ihre Stimme zu senken.
Siehst du, was ich sehe?
Ist das etwa …?
Meine Haut prickelt, weil die alten Ängste auf einen Schlag zurückkehren. Die Furcht davor, einen falschen Schritt zu machen. Etwas Unpassendes zu sagen und dafür verurteilt zu werden. Am liebsten würde ich wieder aus dem Saal stürmen, aber das würde ihnen bloß zeigen, wie sehr sie mich mit ihren Blicken und Worten verunsichern können.
Bleib ruhig, Reva. Du musst nicht länger die perfekte Erbin sein.
Ihre Mienen sind noch genauso kritisch wie damals, doch in manchen von ihnen entdecke ich auch etwas anderes. Neugier. Bewunderung. Und … Interesse?
In all den Jahren haben sie auf mich herabgeblickt, haben nur mein Sonnenzeichen wahrgenommen, und jetzt nehmen sie mich wahr. Das ist es, was ich immer wollte, doch jetzt bin ich unsicher, ob mir das gefällt.
»Einfach lächeln«, flötet Rami und winkt jemandem zu. »Damit können sie am wenigsten umgehen.«
»Und wenn man ihnen direkt in die Augen sieht«, fügt Daisy hinzu. »Also schön den Kopf oben halten.«
Obwohl sich mir vor Nervosität der Magen umdreht, setze ich ein selbstbewusstes Lächeln auf und begegne der unentwegt tuschelnden Menge. Einige von denen dachten wahrscheinlich, meine Familie hätte mich verstoßen.
Als die fröhliche, entspannte Musik aus der hinteren Ecke des Saals verklingt, ist uns auch der letzte Rest Aufmerksamkeit der etwa vierhundert Gäste sicher.
Je länger sich das Ganze hinzieht, desto unangenehmer wird es. Ich hasse die herablassende elitäre Hexengesellschaft, weil sie all jene ausschließt, die ihrer Meinung nach nicht gut genug sind. Mit den meisten dieser Leute würde ich nicht einmal freiwillig zu tun haben wollen, und doch fühle ich einen Stich in meinem Herzen, wann immer mir klar wird, dass ich nie richtig zu ihnen gehören werde.
Ich mache den Rücken gerade.
Augen zu und durch.
»Ja, ihr habt richtig gesehen«, verkünde ich dann lautstark. »Ich bin wieder da. Keine Angst, heute bin ich nicht in der Stimmung für einen Wintereinbruch, auch wenn die Luft hier drin ein bisschen kühler sein könnte. Falls ihr also irgendwann genug davon haben solltet, mich anzustarren oder über mich zu reden, dürft ihr mich gern zum Tanzen auffordern. Ich beiße auch nicht, versprochen. Es sei denn, ihr wollt es.«
Schwer zu sagen, wo ich in dieser Situation den Mut dafür hernehme, dem nächstbesten Kerl in der Menge zuzuzwinkern.
Die Leute sehen mich an, als wäre ich gerade vom Himmel gefallen. Vielleicht hätte ich das lassen sollen.