Kapitel 23

Alistair ist tatsächlich ein guter Verlierer und hat einen seiner Freunde davon überzeugt, sich unten mit Daisy zu treffen. Sogar ich bin angenehm überrascht, dass dieser auf all die unnötigen Versuche verzichtet, meine Schwester zu beeindrucken. Kein Handkuss, keine offensichtlichen Schleimereien, und den Sternen sei Dank unternimmt er auch keinen Versuch, über magische Föhntechniken zu reden. Er ist sehr aufmerksam, und sein Lächeln wirkt natürlich, sodass einige Personen in der Umgebung ihm bewundernde Blicke zuwerfen, während er mit meiner Schwester tanzt. Die beiden wiegen sich im Takt der leisen Musik, und Daisy haucht mir ein tonloses Danke zu, bevor sie sich ganz auf ihre neue Bekanntschaft konzentriert.

Als ich Lou in ihrer Nähe entdecke, kehrt der kalte Knoten wieder in meine Magengrube zurück, denn sie tanzt erneut mit Gabriel. Dabei schaut sie ihm so tief in die Augen, dass ich es ein wenig bereue, vorhin Alistairs Angebot ausgeschlagen zu haben.

Gemeinsam mit Rami beobachte ich unsere Schwester noch eine Weile, und wir überlegen, ob wir sie retten müssen oder nicht. Bisher scheint Alistairs Freund allerdings eine Menge richtig zu machen, sonst würde sie längst nicht mehr mit ihm tanzen.

»Gleich ist Mitternacht«, meint Rami und leert sein Getränk. »Für mich heißt das jetzt erst mal abhauen, bis die Gewitter-Show vorbei ist.«

»Kommst du danach wieder?«, frage ich.

»Mal sehen. Unserer Schwester gefällt der Kerl viel zu gut. Entweder müssen wir sie von ihm wegkriegen, oder wir müssen Lou von ihr wegkriegen, je nachdem, ob sie sich auf sie stürzt.«

»Lou ist viel zu beschäftigt mit Silverstein.«

Obwohl ich es vermeide, die beiden noch einmal anzusehen, bin ich mir dessen sicher. Sie waren sich bei diesem Tanz so nah, und im Gegensatz zu mir ist Lou absolut unkompliziert, weil sie nun einmal zu keiner verbotenen Familie gehört.

»Hm«, macht Rami. »Silverstein hat nicht einmal gelächelt, seit sie wieder angefangen haben zu tanzen.«

»Silverstein lächelt doch nie.«

»Dann habe ich mir das letzte Woche bei der Eröffnungsfeier wohl eingebildet. Oder du musst ihm den Witz des Jahrtausends erzählt haben.«

O nein, hat Rami uns etwa beobachtet? Das ist mir unangenehm, auch wenn mir bei seinen Worten ein bisschen warm wird.

»Vielleicht bin ich ja witziger, als du denkst«, erwidere ich.

»Versuch das mal bei Edward Kent. Wenn du aus dem alten Griesgram auch ein echtes, ehrliches Lächeln herausbekommst, kannst du dir das bestimmt als besondere Leistung anerkennen lassen.«

Das wiederum bringt mich zum Lachen.

Nachdem Rami mich verlassen hat, fühle ich mich unten verloren und gehe wieder nach oben, um mir einen Platz auf einem der kleineren Balkone zu sichern. Das Kuppelspektakel will ich mir heute auf keinen Fall entgehen lassen. Je weiter oben ich bin, desto besser kann ich es sehen.

Tatsächlich schaffe ich es, einen Balkonplatz zu ergattern und ihn ganz für mich zu haben. Nach mir kommt ein Pärchen, das wohl einen Rückzugsort für ein wenig Zweisamkeit gesucht hat, aber als die beiden mich entdecken, machen sie kehrt.

Ich sehe nach unten. Dorthin, wo meine Schwester noch immer tanzt. Obwohl es hier oben ziemlich dunkel ist, kann ich sie in ihrer saphirblauen Robe ausmachen. Bestimmt hat ihr Partner auch schon bemerkt, wie perfekt das Diadem auf ihrem Kopf zu ihren Augen passt. Hoffentlich hat sie eine gute Zeit mit ihm. Sie verdient es, glücklich zu sein, auch wenn ihr Herz noch an Lou hängt.

Ich beobachte die Menge unter mir, während ich über die Briefe nachdenke. Was könnte Josephines Geheimnis gewesen sein? Musste sie deswegen sterben? Ist das die Verknüpfung zu den anderen Opfern? Es muss etwas geben, das sie miteinander verbindet. Der Briefeschreiber könnte den anderen Opfern ebenfalls Drohungen geschickt haben. Vielleicht sind sie alle vor ihm in die Menschenwelt geflüchtet. Die große Frage ist allerdings, warum er sie ausgerechnet dort haben wollte. Um weniger Aufsehen zu erregen? Ich grübele und grübele, aber egal, wie viel Zeit vergeht, der Geistesblitz lässt auf sich warten.

»Hier bist du.«

Der Klang seiner Stimme jagt mir einen warmen Schauer über den Rücken. Nach allem, was ich vorhin unten gesehen habe, wehre ich mich gegen dieses Gefühl, doch es siegt trotzdem über meinen Verstand.

»Ich denke nach«, sage ich, ohne mich umzudrehen.

»Worüber?«

»Über meinen Auftrag. Manche Leute sind nämlich nicht zum Vergnügen hier.«

Ein bisschen schäme ich mich dafür, wie beleidigt ich klinge. Dazu habe ich kein Recht. Außerdem haben wir uns beim letzten Mal gewissermaßen vertragen, also sollte ich mich zusammenreißen, statt einen neuen Streit vom Zaun zu brechen.

Gabriel lehnt sich neben mir über die Balustrade. »Konntest du mit Kents Hilfe etwas herausfinden?«

Sein beiläufiger Tonfall hört sich an, als wollte er eigentlich etwas anderes fragen.

»Wenig«, gestehe ich. »Seine Cousine wurde schon lange vor ihrem Tod bedroht. Sie hatte wohl irgendein Geheimnis, das ein Unbekannter in Erfahrung gebracht hat. Er hat sie damit erpresst, es auffliegen zu lassen, wenn sie nicht die Stadt verlässt. Ich kann mir nur keinen Reim auf das Motiv dahinter machen … Hattest du in den letzten Monaten das Gefühl, beobachtet zu werden?«

»Kann man so sagen.« Gabriel sucht meinen Blick. »Zumindest bezweifele ich, dass die Person, die mich mit einem vergifteten Messer attackiert hat, mir spontan über den Weg gelaufen ist und dann dachte, man könnte mich ja mal abstechen. Leider konnte ich ihr Gesicht nicht sehen.«

»Hast du versucht, denjenigen zu finden?«

Er sieht mich fragend an. »Wie denn? Es hätte ausnahmslos jeder sein können.«

»Es hat also jeder ein Motiv, dich abzustechen?«, frage ich zweifelnd.

»Vermutlich mehr, als mir lieb wären.«

»Dann solltest du einen Personenschutz engagieren«, schlage ich vor.

Jetzt lächelt er mich an. »Dafür habe ich ja zum Glück dich.«

Ich weiß nicht, ob seine Worte oder sein Lächeln die unzähligen Schmetterlinge in meinem Bauch zum Tanzen bringen. Wieso ist es so leicht für ihn, mich diese Dinge fühlen zu lassen? Das muss dringend aufhören.

»Du hattest mich«, korrigiere ich.

Gabriel wendet sich von mir ab und starrt hinunter in die Tiefe. Er wirkt gedankenverloren.

»Entschuldige, ich hätte mich vorhin nicht in die Sache zwischen dir und Kent einmischen dürfen. Wahrscheinlich mag ich ihn nur deshalb nicht, weil er all diese Dinge tut, die mich in einen Abgrund aus Schuld und Selbsthass stürzen würden, und sich nicht einmal schlecht dabei fühlt. Er wirkt immer so … gleichgültig. Das ist für mich schwer zu ertragen.«

Seine Ehrlichkeit verwirrt mich. Jedes Mal, wenn ich ihn für seine Aussagen und Taten hassen möchte, gibt er mir diese nachvollziehbaren Erklärungen, die ihn so reflektiert erscheinen lassen.

»Manchmal wäre ich gern pflichtbewusst und egoistisch«, fährt er fort. »Aber ich fürchte, beides ist unmöglich.«

Er klingt frustriert. Ich habe nie verstanden, warum er so verflucht hart zu sich selbst ist und alles dafür tut, um seiner Rolle gerecht zu werden. Wir mögen Hexen sein, aber im Grunde sind wir auch nur Menschen mit magischen Talenten, die ihre Fehler haben. Seine menschlichen Schwächen konnte Gabriel sich schon früher schwer verzeihen. Während die utopischen Erwartungen meiner Mutter mich dazu gebracht haben, das Gegenteil von dem sein zu wollen, was sie sich von mir erhofft hat, wollte Gabriel den Erwartungen seines Vaters umso mehr gerecht werden, je unrealistischer sie wurden.

»Ist es das?«, frage ich.

»So ziemlich. Aber wenn es um dich geht, bin ich immer ein bisschen weniger pflichtbewusst, als ich sein sollte.«

Bei diesem Geständnis schließe ich resigniert die Augen. Weil es dennoch nie genug war, um mir das zu geben, was ich mir von ihm gewünscht habe. Weder damals noch in Zukunft wird es ausreichen, und egal, wie sehr er mich reizt, das darf ich nie vergessen. Was sind diese tiefen Blicke und heimlichen Berührungen schon wert, wenn ich nie diejenige sein kann, die er so hält, wie er Lou vorhin gehalten hat? Wie echt ist etwas, das sich nur im Nebel oder der Sicherheit von Träumen abspielt?

Einen Moment verharren wir so nebeneinander, und als er gerade Luft holt, um noch etwas zu sagen, wird sämtliches Kerzenlicht von einem auffrischenden Wind gelöscht. Kurz darauf zucken blau-violette Blitze durch die Kuppel über unseren Köpfen, bevor ein Donnergrollen die Luft erschüttert.

Ich lege meinen Kopf in den Nacken und beobachte das Schauspiel. Die gezackten Blitze tanzen anmutig über uns hinweg und scheinen in der Kuppel aus Silber und Amethyst einzuschlagen. Alistairs Familie ist für dieses Spektakel verantwortlich. Mit den Blitzen malen sie verzweigte elektrische Bilder an die Decke. Ich bin wie gebannt von der Show. Gewitter haben mich schon immer beeindruckt. Diese aufgestaute Energie, die sich entlädt, um der Welt einen Neuanfang zu schenken.

Trotz meiner Faszination merke ich, wie Gabriel dichter neben mich tritt. Sein Oberarm berührt meinen, und der Stoff unserer Kleidung trennt die Hitze unserer Haut nur bedingt voneinander.

»Ich weiß, welche Erinnerung den Baum dazu gebracht hat, dich in die Archive zu lassen«, sagt er zwischen zwei Donnergrollen.

Angespannt atme ich ein und aus. »Ach ja?«

Ihn so nah bei mir zu spüren, macht etwas mit mir, das ich nur schwer erklären kann. Es verschafft mir ein unvergleichliches Hochgefühl, so als wäre einer der Blitze von dort oben direkt durch meinen Körper geschossen.

»Es war die Erinnerung an unseren Kuss. Habe ich recht?«

Mein Mund wird ganz trocken. Jetzt gerade wäre ein wenig Regen durchaus willkommen.

»Warum hat er mich deshalb am Leben gelassen?«, frage ich.

»Als Wächter der Archive ist er gewissermaßen mit mir verbunden«, erklärt Gabriel, während das Schauspiel über uns seine Worte beinahe übertönt. »Er muss gespürt haben, was damals zwischen uns war. Dass ich dir mehr vertraut habe als jeder anderen Person. Deshalb hat er dich nicht als Gefahr wahrgenommen.«

Ich bekomme eine Gänsehaut am ganzen Körper. Mit wild pochendem Herzen drücke ich mich dichter an ihn.

»Was, wenn er sich geirrt hätte? Wenn meine Absichten keine guten gewesen wären?«

Gabriel seufzt leise. »Selbst ein jahrhundertealter mächtiger Wächter lässt sich manchmal von Gefühlen an der Nase herumführen.«

Mein Puls rast immer mehr. Ich sollte gehen. Das hier kann nur auf genau die gleiche Weise enden wie damals, denn zwischen uns hat sich nichts geändert. Doch er ist trotz allem bei mir und sagt diese Dinge, obwohl er es besser wissen sollte. Dafür schulde ich ihm auch etwas Ehrlichkeit.

»Vorhin habe ich gelogen«, gebe ich zu. »Die Rose habe ich nicht wegen Alistair gewählt, sondern wegen dir. Ich wollte deine Reaktion sehen.«

Krachender Donner rollt über uns hinweg, bevor Gabriel den Kopf senkt und seine Lippen dicht vor mein Ohr hält, sodass ich seinen Atem auf meiner Haut spüre. »Weißt du, wofür sie steht?«

Ich schüttele langsam den Kopf.

»Für unerfüllte Sehnsucht.«

Seine Worte hallen mindestens so intensiv in mir nach, wie der Donner von den hohen Wänden des Turms widerhallt. Von dieser Bedeutung wusste ich nichts. Jetzt bekommen all die blauen Rosen, die ich nach der Feier vor vier Jahren für ein Friedensangebot gehalten habe, eine ganz neue Bedeutung.

»Es hat mich um den Verstand gebracht, ausgerechnet diese Blume in deinem Haar zu sehen«, fährt er fort. »Viel schlimmer war allerdings der Gedanke, dass du damit bei Kent bist und nicht bei mir.«

Meine Knie werden weich. »Zum Glück hatte ich herzlich wenig Interesse daran, den Schreibtisch seines Vaters auszuprobieren.«

Jetzt streifen seine Lippen mein Ohr. »Gut. Es gibt nämlich nur einen Schreibtisch, auf dem ich mir dich vorstellen möchte.«

Hätte ich gewusst, was eine einzige Blüte alles anrichten kann, hätte ich sie mir schon viel früher ins Haar gesteckt. Es erregt mich, seine Lippen auf meiner Haut zu spüren. Inmitten all dieser Leute, in dem Wissen, dass die Show jeden Moment vorbei sein und jemand die Kerzen wieder entzünden könnte. Dass man uns sehen könnte. Er geht ein Risiko ein, und das gibt mir wieder dieses erfüllende Gefühl von Macht, weil er seine Regeln für mich bricht. Etwas, das er für niemanden sonst tut.

»Auf der Campbell-Party hast du gesagt, du könntest genauso verführerisch sein wie ich«, erinnere ich ihn. »Sag mir, was du jetzt tun würdest, wenn wir jemand anderes wären. Wenn es keine Regeln für uns gäbe.«

Er lässt seine Finger gemächlich meinen nackten Rücken hinabwandern, während seine Lippen noch immer auf meinem Ohr liegen. »Ich würde dich von diesem Balkon führen, damit wir aus diesem Turm verschwinden können. Sobald wir an der frischen Luft wären, würde ich mit dir in die erstbeste Kutsche steigen und sie zu meinem Anwesen lenken.«

Seine Stimme ist jetzt so tief, dass ich mir einbilde, zu spüren, wie sie in meinem Körper vibriert.

»Ist das schon alles, du großer Verführer?«, provoziere ich ihn, woraufhin er seine Lippen zu einem Lächeln verzieht.

Der Donner über uns ist ohrenbetäubend, aber ich habe das Gefühl, mein Herzschlag ist so viel lauter als die magisch erzeugte Druckwelle.

»In der Kutsche würde ich den Vorhang zuziehen«, fährt Gabriel fort und zeichnet mit dem Zeigerfinger meine Wirbelsäule nach. »Du wärst direkt neben mir, deine Wangen gerötet von dem Schampus, für den du in den letzten Tagen anscheinend eine Vorliebe entwickelt hast. Wir hätten nur Augen füreinander. Ich würde meine Finger unter dein Kinn legen und mit dem Daumen langsam über deine Unterlippe streichen. Und dann würde ich dich küssen, bis du vergisst, wo du dich gerade befindest.«

Mit staubtrockener Kehle schließe ich die Augen. »Ich bin in einer Kutsche. Du musst dich schon etwas mehr anstrengen, damit ich das vergesse.«

Es ist keine gute Idee, ihn herauszufordern. Aber heute will ich es wissen. Denn vielleicht ist dieses Was-wäre-wenn-Szenario, das nie Wirklichkeit werden kann, alles, was wir jemals haben werden.

»Während wir uns küssen, würde ich dich auf meinen Schoß ziehen«, raunt er, und ich kann es mir in diesem Moment bis ins kleinste Detail ausmalen. »Du würdest dich dicht an mich drücken und spüren, wie sehr ich dich begehre. Ich würde deinen Hals küssen und mit meinen Lippen immer tiefer wandern, weil ich jede Stelle deines Körpers mit ihnen bedecken will.«

In meinem Kopf formen sich Bilder, die ich nicht einmal in Gedanken zulassen sollte. Trotzdem kann ich nicht anders, als sie bereitwillig heraufzubeschwören, weil ich mich so sehr nach ihm sehne.

»Was, wenn ich mehr wollen würde?«, frage ich leise.

Seine Hand hält auf meiner Hüfte inne. »Dann würde ich dich so berühren, wie du es dir von mir wünschst. So lange, bis mein Name dir auf jede erdenkliche Weise über die Lippen gekommen ist.«

Keiner der Blitze da oben könnte mich so pulverisieren, wie seine Worte es gerade getan haben. Die Muskeln in meinem Unterleib ziehen sich auf eine Art zusammen, die mir wehmütigen Schmerz bereitet.

»Und was, wenn ich alles von dir wollen würde?«

Gabriels Hand wandert minimal tiefer, und es reicht aus, um mich lichterloh in Brand zu stecken. »Dann würde ich dir sagen: Hab Geduld, Darling. Und wenn die Kutsche endlich anhält, würde ich dich auf Händen in mein Schlafzimmer tragen, wo ich dir jede einzelne deiner Sehnsüchte erfüllen würde. Wieder und wieder, bis dein Körper meinen so gut kennt, dass er sich für immer an ihn erinnern wird.«

Mit heftig rasendem Puls befeuchte ich meine Lippen. »Klingt vielversprechend.«

»Mh«, macht er, und ich glaube, ich habe noch nie ein sinnlicheres Geräusch von irgendjemandem gehört. »Und? Wo befindest du dich jetzt?«

»In einer sehr schwierigen Lage.«

Er lacht heiser. »Das ist wohl ein Punkt für mich.«

Gabriels Lippen streifen die empfindliche Stelle hinter meinem Ohr. Die Berührung lässt mich brennen, brennen, brennen, bis ich glaube, wir sind ganz allein in diesem Turm voller Hexen, die von dem Gewitter über uns abgelenkt sind.

Ich drehe meinen Kopf in seine Richtung und öffne meine Augen. Als weitere Blitze durch die Luft zucken, sehe ich ein dunkles Verlangen in seinem Blick, das nicht zu leugnen ist. Trotz unserer Kleidung spüre ich die Hitze seines Körpers so intensiv, dass mein Kopf vollkommen leer gefegt ist.

Er lehnt seine Stirn gegen meine und schließt seufzend seine Augen. »Weißt du, wie gern ich dich jetzt küssen und das alles wahr machen würde?«

»Wir dürfen nicht«, hauche ich. »Das hast du selbst gesagt.«

»Ich sage ständig schrecklich vernünftige Dinge, die ich später bereue.«

Keiner von uns zieht sich zurück. Irgendein Gast könnte jederzeit diesen Balkon betreten und uns erkennen. Wenn man uns in dieser Situation erwischt, sind wir geliefert. Gabriel noch mehr als ich. Ich sollte es besser wissen, sollte einmal diejenige sein, die die vernünftige Entscheidung trifft, wenn er es schon nicht kann. Aber seine Lippen sind so, so nah, und ich will das hier viel zu sehr. Nur für einen Moment möchte ich die süßen Verlockungen kosten, die er mir eben in den Kopf gesetzt hat.

Doch dann ertönt ein grausiger Knall, und erst als nach einem Moment der Stille kollektives Geschrei ausbricht, realisiere ich, dass er kein Teil des Gewitters war.