Am nächsten Abend sieht die Ashford Street noch verruchter aus als gestern. In einem der äußeren Viertel habe ich mir heute Nachmittag ein schlichtes schwarzes Kleid mit hohem Beinschlitz gekauft, um mich dem Stil an diesem Ort anzupassen. Darüber trage ich einen dunkelgrauen Umhang ohne jegliche Verzierungen. Man soll mir auf keinen Fall ansehen, aus welcher Schicht ich stamme, denn heute muss ich dazugehören.
Eine schwarze Spitzenmaske bedeckt meine Augen, meine Nase und die Hälfte meiner Stirn, sodass mich niemand erkennen dürfte. Mein Haar habe ich hochgesteckt, damit der Fokus auf meinem tief ausgeschnittenen Dekolleté liegt, und meine Lippen sind rot geschminkt. Hoffentlich wird mein Look es den anderen Gästen erschweren, sich beim Glücksspiel gegen mich zu konzentrieren.
Das Haus, nach dem ich gesucht habe, ist ein dreistöckiges altes Gebäude, das äußerlich nicht viel hermacht. Durch die dicken Stoffvorhänge vor sämtlichen Fenstern ist es unmöglich, zu erahnen, was sich im Inneren abspielt. Vor dem Eingang haben sich einige maskierte Hexen versammelt.
»Jane!«
Die unangenehm vertraute Stimme sorgt dafür, dass ich mich am ganzen Körper verkrampfe.
Bitte nicht.
Wenn ich keine Reaktion zeige, wird vielleicht auch niemand auf mich aufmerksam. Ob ich mich unauffällig entfernen und zu einem späteren Zeitpunkt wieder herkommen sollte?
»Versuch erst gar nicht, dich vor mir zu verstecken«, ruft Gregor.
Ich drehe meinen Kopf. Er stößt sich von der Hauswand des Nachbargebäudes ab und schlendert geradewegs auf mich zu. Im Gegensatz zu den anderen Leuten trägt er keine Maske, sodass ich das fiese Grinsen auf seinen spröden Lippen in all seiner Herrlichkeit ertragen muss. Mist, er hat damit gerechnet, mich heute an diesem Ort zu sehen.
»Sie müssen mich verwechseln«, behaupte ich und gebe mich verwirrt.
Er lacht trocken. »Das bezweifele ich. Wir beide haben noch eine Rechnung zu begleichen, meine Schöne.«
So selbstsicher, wie er klingt, habe ich keine Chance, ihn zu täuschen. Verdammt. Das kann ich jetzt absolut nicht gebrauchen.
»Lass mich in Frieden«, zische ich. »Ich schulde dir überhaupt nichts, okay? Statt deine Zeit mit einer Frau zu verschwenden, die kein Interesse an dir hat, solltest du lieber nach jemandem suchen, der dich will.«
Schlagartig macht er einen Schritt nach vorn und packt mein Handgelenk. »Kein Interesse? Gestern klang das aber noch ganz anders.«
Das Einzige, was mich davon abhält, ihn mit einem Griff aus dem Kampfsporttraining zu Boden zu drücken, ist meine Sorge, damit zu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Am Ende werde ich noch verhaftet.
Als ich versuche, meinen Arm wegzuziehen, hält Gregor ihn noch vehementer fest.
»Lass mich los!«
Seine Finger schließen sich fester um mich. »Du bleibst schön hier. Heute Abend werde ich dir nicht mehr von der Seite weichen.«
Mir wird übel. Furcht und Zorn bauen sich in mir auf und befeuern die Magie in meinem Blut. Ich bin mir der Dunkelheit und der damit einhergehenden Schwäche meiner Kräfte bewusst, doch mein Körper reagiert von allein. Ein Winterhauch erfüllt die Luft, durch den sich mein Atem vor meinem Gesicht wölkt.
»Vorsicht«, knurrt Gregor. »Mit Kälte kommst du bei einem anderen Winterhexer nicht weit. Wie wäre es also, wenn du uns beiden den Ärger ersparst und mich ohne Drama begleitest?«
»Wie wäre es, wenn du die Klappe hältst und dich endlich verziehst?«, gifte ich ihn an.
Das Messer, das ich versteckt an der Innenseite meines linken Oberschenkels trage, spüre ich nun überdeutlich an meinem Bein. Ich habe es für den Notfall mitgenommen. Mir war allerdings nicht klar, dass der schon so früh eintreten würde. Wenn der Kerl noch eine falsche Bemerkung von sich gibt, macht er Bekanntschaft mit meiner Klinge.
Gregor kräuselt die Lippen. »Warum musst du es nur so kompliziert machen? Ich garantiere dir, du und ich werden viel Spaß miteinander –«
»Hast du die Dame nicht gehört?«, ertönt eine tiefe, drohende Stimme hinter mir. »Sie hat kein Interesse. An deiner Stelle würde ich also tun, was sie sagt. Es sei denn, du willst, dass ich dir jeden deiner Knochen einzeln breche, bis du sie um Vergebung anflehst.«
Gregors Blick geht an mir vorbei. »Und wer bist du? Noch so ein armer Schlucker, den sie verarscht hat? Stell dich hinten an.«
»Glaub mir, du willst nicht herausfinden, wer ich bin«, erwidert Gabriel unheilvoll.
»Was interessiert sie dich? Dieses Miststück schuldet mir –«
Statt weiterzureden, zuckt er zusammen und krümmt sich, als hätte er intensive Schmerzen. Dadurch lässt er endlich von mir ab und weicht mit verkniffenem Gesichtsausdruck zurück.
»Verschwinde«, befiehlt Gabriel. »Falls du sie noch mal so nennen solltest, breche ich dir deinen Kiefer und sorge dafür, dass du deine vorlaute Klappe eine Weile nicht mehr aufreißen kannst.«
Gregor sieht aus, als würde er gern eintausend Flüche ausspucken, doch was auch immer Gabriel gerade tut, bringt ihn tatsächlich dazu, sich von uns abzuwenden und den Rückzug anzutreten. Ich folge ihm mit meinem Blick, bis er einen der benachbarten Pubs betritt.
»Alles in Ordnung?«, murmelt Gabriel hinter mir und berührt mich flüchtig am Arm.
»Ja. Danke.«
Okay, irgendwie ist es verdammt heiß, wenn er meinetwegen schmierige Typen bedroht. Manchmal vergesse ich, dass diese sanften, heilenden Hände mit einer simplen Bewegung auch Knochen brechen können. Das ist definitiv subtiler, als jemanden mit einem Messer zu bedrohen oder ihm zwischen die Beine zu treten.
Ich drehe mich zu Gabriel um. Zu meiner Überraschung ist auch er heute Abend inkognito unterwegs. Eine goldene Maske verdeckt seine obere Gesichtshälfte, und unter seinem schwarzen Umhang trägt er ungewohnt schlichte Kleidung. In so etwas sehe ich ihn zum ersten Mal.
Es fühlt sich seltsam an, ihm wieder gegenüberzustehen. Seit der Kent-Party haben wir nicht mehr miteinander geredet, und ich weiß nicht, wie ich nach unserem Moment auf dem Balkon mit ihm umgehen soll. Vor allem, nachdem er die Ergebnisse seiner Nachforschungen lieber mit Naomi geteilt hat als mit mir. Am besten vergesse ich, was in den letzten Tagen zwischen uns passiert ist.
»Was machst du hier?«, will ich wissen.
»Das könnte ich dich auch fragen. Immerhin hast du versprochen, nicht allein herzukommen.«
»Ich habe nicht –«, beginne ich, doch dann dämmert mir etwas. »Naomi hat es dir erzählt.«
Gabriel nickt. Verdammte Besorgteste-Freundin-aller-Zeiten. Sie kennt mich leider viel zu gut.
»Warum ist sie ausgerechnet zu dir gekommen?«
Er zuckt mit den Achseln. »Ich vermute, nachdem ich dir beim letzten Mal, als ihr in Schwierigkeiten geraten seid, geholfen habe, dachte sie, ich könnte gut auf dich aufpassen. Außerdem bin ich der Einzige, der weiß, was ihr in New London tut.«
Seit er mir gestanden hat, dass er sich nach mir sehnt und mich küssen will, fällt es mir schwer, mich in seiner Nähe zu konzentrieren. Aber das muss ich, denn es gibt weitaus Wichtigeres zu erledigen, als mich in meinem Liebeskummer zu suhlen.
»Ich brauche keinen Aufpasser«, versichere ich.
»Weißt du, was einen noch schneller umbringt als miese Ideen? Unbändiger Stolz.«
Oberlehrer.
Ich mustere ihn von oben bis unten. »Hast du heute nichts Besseres zu tun? Politikkram oder so was? Brautwerbung?«
Er lächelt schief. »Keine Angst, ich habe mir freigenommen, um dafür zu sorgen, dass du in einem Stück aus diesem fragwürdigen Etablissement herauskommst. Oder gar nicht erst hineingehst. Deine Freundin hat mich nämlich darum gebeten, dich von hier wegzubringen, sobald ich dich sehe.«
Naomi ist unglaublich. Und hat Gabriel etwa allen Ernstes die ganze Zeit über in der Kälte gewartet, für den Fall, dass ich auftauchen sollte?
»Niemand bringt irgendwen weg«, sage ich zu ihm. »Ich habe was zu tun, okay? Der Laden soll einem gewissen Byron gehören. Wenn man sich beim Glücks- und Kartenspiel gut anstellt, kann es sein, dass man seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Genau das muss ich schaffen. Weil ich denke, dass er wichtige Informationen für mich hat.«
Gabriel sieht mich an, als wüsste er genau, wie sinnlos es ist, mit mir darüber zu diskutieren.
»Glücksspiel, hm?«, fragt er. »Ist das etwa dein geheimes Laster?«
»Ich habe keine Laster.«
Außer dir. Den Gedanken behalte ich aber lieber für mich, bevor das zwischen uns wieder eskaliert.
»Schade, ich wollte dir wirklich gern deine Zigaretten-Predigt heimzahlen.«
»Träum weiter.«
»Immer.«
»Apropos Traum«, sage ich. »Mir fällt es ziemlich schwer, zu glauben, dass du hier bist. Hast du keine Angst, erkannt zu werden?«
»An diesem Ort?« Gabriel schüttelt den Kopf. »Ich trage eine Maske, unauffällige Kleidung, und in den äußeren Vierteln weiß ohnehin niemand, wie wir Adligen aussehen.«
»Ein Risiko ist es trotzdem«, antworte ich. »Ganz schön untypisch für dich.«
Er lacht leise. »Vielleicht braucht ein einsamer Mann auch mal einen spaßigen Abend außerhalb der Komfortzone.«
Diese Worte sagt er so beiläufig, als würde er über das Wetter sprechen. Er ist einsam. Ich weiß nicht, warum, aber bis jetzt war mir gar nicht klar, wie allein er ist. Seit dem Tod seines Vaters hat er außer seiner Tante und deren Familie niemanden mehr. Ich war bis vor wenigen Jahren seine engste Freundin. Die eine Person, der er all seine Zweifel anvertraut hat.
Ich wende meinen Blick ab, bevor ich noch sentimentaler werde. Das ist der falsche Zeitpunkt.
»Für Spaß bin ich nicht hergekommen«, mache ich Gabriel klar. »Das ist Arbeit.«
»Dann bist du heute also die Pflichtbewusste von uns beiden?« Er klingt ungläubig. »Wie schnell sich das Blatt doch wenden kann.«
»Tja, du bist eben ein leuchtendes Vorbild.«
Wir bezahlen den Eintrittspreis am Eingang und gelangen in einen dunklen, überhitzten Flur, wo die Gäste ihre Umhänge an der Garderobe zurücklassen. Ich schäle mich aus meinem eigenen und beobachte Gabriel dabei, wie er seinen ablegt. Darunter trägt er ein schwarzes Hemd aus Leinenstoff, das er bis zu seinen Ellenbogen hochgekrempelt hat. Ich verbringe eindeutig zu viel Zeit damit, seine definierten Unterarme anzustarren. Schnell wende ich mich ab und setze mich in Bewegung.
Gemeinsam betreten wir den Hauptraum des Gebäudes. Er ist größer, als ich von außen erwartet hätte. Die Decken sind überraschend hoch, und von einer Empore im oberen Stockwerk kann man das Geschehen unten perfekt beobachten. In der dicken, viel zu warmen Luft hängt ein süßlicher Duft, der sich mit dem Geruch von Alkohol und Schweiß mischt. Vielleicht ist die Hitze ja der Grund dafür, warum viele der Gäste so spärlich bekleidet sind. Dasselbe gilt für das Personal. Einige der bedienenden Männer tragen nicht einmal ein Oberteil, sodass alle ihre trainierte, eingeölte Brust bestaunen können.
An diesem Ort scheint jeder gute Laune zu haben. Die Leute lachen, trinken und spielen an verschiedenen Tischen Karten. Polstermöbel aus Samt sorgen für eine gemütliche Atmosphäre, und weiter hinten gibt es eine Art Lounge, wo rote und violette Kissen auf zahlreichen Decken verteilt liegen.
Einer der Kellner kommt auf uns zu und schenkt uns ein umwerfendes Grinsen. Der Kerl weiß seine perfekten Zähne zu nutzen.
»Willkommen im Paradies«, flötet er. »Kann ich euch etwas zu trinken bringen?«
»Später«, erwidere ich lächelnd.
Sofort schwirrt er um einen weiteren Gast herum, während ich die verschiedenen Eindrücke dieses zugegebenermaßen beeindruckenden Ortes in mich aufnehme.
»Sieht aus, als hätten wir ein wenig zu viel an«, meine ich und drehe mich zu Gabriel um.
Sein Blick wandert von meinem Gesicht zu meinem Dekolleté und wieder zurück. Dann legt er den Kopf schief, als würde er mich auf diese Weise fragen wollen, ob ich das ernst meine.
»Das werde ich ignorieren«, rüge ich ihn.
»Ich würde sagen, wenn du und ich zusammen sind, ist mehr Kleidung immer vernünftiger als weniger.«
Mir wird heiß. Was mir bei einem anderen Mann wie Gregor unangenehm wäre, macht mir bei Gabriel seltsamerweise nichts aus. Ich mag es, wenn er mich so ansieht wie gerade eben, auch wenn es in dieser Situation wenig hilfreich ist.
»Lass uns Karten spielen«, schlage ich vor. »Dann finden wir eventuell eine Möglichkeit, uns mit diesem ominösen Byron zu unterhalten.«
Gabriel schaut sich um. »Draußen habe ich ein paar Leute über ihn reden hören. Angeblich hat er hier drin Spione, die für ihn Augen und Ohren sind. Sie könnten der Schlüssel zu ihm sein.«
Ich stemme die Hände in die Seiten. »Dann versuchen wir wohl besser mal, sie auf uns aufmerksam zu machen.«