Kapitel 36

»Das geht nicht«, sagt Daisy, als ich sie kurze Zeit später zu Hause mit meinem Anliegen konfrontiere.

»Bitte, ich muss zur Quelle!«

»Das kann ich nicht erlauben.«

Ich sehe sie flehentlich an. »Daisy, es geht um Leben und Tod! Ich muss Gabriel finden!«

Angst spiegelt sich in ihren Augen wider – und Mitleid. »Wegen dieser Quelle hat so manche Hexe in unserer Familie den Verstand verloren. Mum hat darauf bestanden, dass wir sie niemals nutzen. Wir hatten diese Diskussion schon.«

»Das war etwas anderes!«, rufe ich und kann spüren, wie die Panik jeden Winkel meines Körpers beherrscht. »Ich war mein Leben lang die Erbin dieser Familie. Es ist genauso mein Geburtsrecht, wie es deine Pflicht ist!«

Ihr Kiefer spannt sich an. »Ein Geburtsrecht, das du nicht wolltest! Du hast dich nie darum geschert!«

»Hier geht es nicht um mich, okay?« Tränen treten mir in die Augen. »Gabriel könnte sterben. Sollte ich ihn nicht finden, bevor es zu spät ist, werde ich mir das nie verzeihen. Wenn es um Lou ginge und die Quelle die einzige Möglichkeit wäre, sie noch rechtzeitig zu retten, würdest du sie dann nutzen?«

Bei der Erwähnung ihrer Ex-Freundin beißt sie sich auf die Unterlippe. »Ich habe einen Schwur geleistet, als ich das Erbe von dir übernommen habe. Mum wollte –«

»Mum ist tot!«, rufe ich verzweifelt. »Sie ist nicht hier, um über dich zu urteilen, und wenn ich Gabe nicht finde, wird er vielleicht auch bald tot sein!«

Sie fährt sich durch ihr schwarzes Haar. »Ich verstehe nicht, wieso er in Gefahr sein soll!«

»Weil jemand hinter ihm her ist und ihn töten will. Wäre es nicht ernst, würde ich dich nicht darum bitten. Wenn ich könnte, würde ich vor dir auf die Knie gehen und das Erbe zurücknehmen, denn jetzt gerade würde ich verdammt noch mal alles tun, um zu erfahren, wo er ist. Mir ist egal, was für ein Opfer die Quelle verlangt. Ich werde es bringen.«

»Reva …«

Ich kann nicht verhindern, dass mir Tränen über die Wangen strömen. »Bitte, Daisy. Ich liebe ihn. So sehr, dass es wehtut. Ich könnte es ertragen, ihn nie wieder zu küssen, aber wenn er stirbt, weil ich ihm nicht geholfen habe, würde es mich umbringen.«

Ihr bleibt der Mund offen stehen, und für einen Moment starrt sie mich nur wortlos an. Ich weiß nicht, ob ihr je klar war, was ich wirklich für Gabriel fühle. Vielleicht dachte sie, es wäre lediglich eine Schwärmerei, die vorübergeht, oder mein Interesse an ihm wäre ein Akt der Rebellion gegen die Hexengesellschaft. Das ist gerade bestimmt das erste Mal, dass sie begreift, was er für mich ist.

Sie atmet tief ein und aus, dann nickt sie und bedeutet mir mit einer Handbewegung, ihr zu folgen. Ich komme der Aufforderung nach und begleite sie in den kleinen Abstellraum im Westflügel, wo sich an einer Wand unter einem Porträt von Mum eine handförmige Einbuchtung befindet. Daisy legt ihre Hand hinein und nutzt ihre Magie, woraufhin ein leuchtendes Symbol darunter erscheint, das an eine Schneeflocke erinnert. Ein magischer Mechanismus wird aktiviert, und die Wand gleitet wie eine Tür zur Seite, sodass dahinter ein Durchgang zum Vorschein kommt.

Wir betreten den dunklen Gang. Sobald sich die Wand hinter uns wieder an ihre ursprüngliche Position geschoben hat, entzünden sich mehrere Fackeln. Ihr blaues Feuer offenbart eine steile Treppe am Ende des Durchgangs, die in den Keller unseres Anwesens führt.

Als wir nach unten gehen, hallen unsere Schritte von den dicken Wänden wider. Ich war schon einmal mit Mum hier. Damals hat sie mir erklärt, was sich am Ende der Treppe und des langen Gangs dahinter verbirgt und dass ich diesen Ort beschützen muss. Dass ich ihn am besten nie betreten sollte und niemandem je den Zugang gewähren darf.

Am Ende des Durchgangs bleiben wir vor einer magischen Barriere stehen, die aus bloßem Eis besteht. Ein glühendes Siegel befindet sich in dessen Mitte. Dieses Eis kann niemand schmelzen, nicht einmal eine Sommerhexe und auch keine Winterhexe. Nur eine Person vermag das zu tun. Diejenige, die das Diadem meiner Familie trägt.

Daisy zögert kurz, bevor sie schließlich doch ihre Hand auf das Eis legt. Neben der Stelle, die sie berührt, bildet sich das Eis zurück, und ein schmaler Durchgang entsteht. Sie wendet sich zu mir um und mustert mich besorgt.

»Du solltest es nicht tun«, warnt sie mich, obwohl sie sicher weiß, dass diese Warnung umsonst sein wird. »Ich kann die Quelle spüren. Sie ist …«

»Hungrig.«

Als ich noch Erbin war, habe ich es ebenfalls gespürt. Diese Quelle ist ebenso ein magisches Artefakt wie der Baum in den Archiven. Sie ist älter als wir, war bereits vor uns an diesem Ort.

»Sei vorsichtig, Reva. Lass dich nicht von ihr zu irgendetwas verleiten, hörst du? Ich will dich nicht verlieren. Du weißt nicht, was dich erwartet.«

»Ich werde damit zurechtkommen«, behaupte ich, obwohl ich mir unsicher bin.

Aber was für eine Wahl habe ich? Ich muss das tun, und mit dem Baum bin ich auch fertig geworden. Wenn die Quelle etwas von mir will, dann gebe ich es ihr.

Ich gehe an Daisy vorbei und trete durch die Öffnung. Gelange zu der Quelle, die gefährlich still unter der glitzernden Steindecke liegt. Das Wasser ist eisblau und lässt mich bis auf den Boden sehen. Drei Stufen führen in das steinerne Becken hinab, das so breit ist, dass es sich komplett über diese kleine Höhle erstreckt. Die Quelle sieht aus wie eine friedliche Oase, aber ich spüre, wie sehr dieser Eindruck trügt.

Entschlossen bewege ich mich darauf zu, nehme die Stufen nach unten. Das Wasser ist eiskalt, sendet Schockwellen durch meinen Körper, obwohl ich eigentlich immun gegen Kälte sein sollte. Diese ist anders. Je tiefer ich ins Wasser gehe, desto mehr fühle ich mich, als ob eine frostige Faust sich um meinen Körper schließt, und je stärker ich zu zittern beginne, desto mehr wird mir etwas bewusst. Dieser Ort ist nicht dafür geschaffen worden, angenehm zu sein.

Als ich bis zur Brust im Wasser stehe, mit schwerer Kleidung und steifem Körper, höre ich eine Stimme. Sie drängt in meinen Kopf, beißt sich mit frostigen Zähnen dort fest und schickt mir Gedanken, die nicht meine eigenen sind.

Hatte er je echte Gefühle für mich? Was verbirgt er vor mir? Wer hat sie getötet? Warum hasst sie mich? Wird sie mir je verzeihen? War sie stolz auf mich? Wer hat all die Hexen auf dem Gewissen? Wozu ist der Kompass gut? Was will Diana von mir? Wäre ich glücklicher, wenn ich mondgeboren wäre?

Die Fragen in meinem Kopf nehmen kein Ende. Sie rauschen durch mich hindurch, formuliert von einer Stimme, die nicht mir gehört.

Stell eine Frage. Ich kann dir alles sagen. Alles, was du jemals wissen wolltest. Antworten, von denen du nicht einmal zu träumen wagst.

Ein Rauschen breitet sich in meinen Gedanken aus, so als stünde ich inmitten tosender Wellen. Ich denke darüber nach, was es mich kosten wird, und der Ozean in mir erbebt vorfreudig.

Etwas. Nichts. Alles.

All diese Worte prasseln gleichzeitig auf mich ein, aber ich weiß nicht, welches davon der Wahrheit entspricht.

»Reva!«, ruft meine Schwester, doch sie klingt dumpf, und ich höre sie kaum.

Erst jetzt realisiere ich, dass ich unter Wasser bin. Meine Beine haben nachgegeben, und mein Kopf befindet sich unter der Oberfläche.

Stell eine Frage.

Das Wasser spricht mit mir. Mit dieser unglaublich melodischen Stimme, die so vertrauenserweckend wirkt. In diesem Wasser zu sein und die Stimme zu hören, ist seltsam tröstlich. Da sind so viele Fragen in meinem Kopf. Wer ist für all diese Morde verantwortlich? Wie ist es möglich, dass aus Mondgeborenen Sonnengeborene werden? Welchen Preis muss man dafür zahlen? Hat meine Mutter mich wirklich geliebt, trotz allem, was ich war? War es die richtige Entscheidung, mein Erbe abzulehnen?

Du kannst sie alle stellen. Eine nach der anderen.

»Reva!«

Daisys Stimme scheint gedämpft und kommt von irgendwo weit entfernt.

Ich könnte alles in Erfahrung bringen, was ich schon immer wissen wollte.

Ja. Du musst nur bei mir bleiben. Ich kann dir all deine Fragen beantworten. Ich kann dich Wissen lehren, das niemand sonst besitzt.

Ein Lächeln schleicht sich wie von allein auf meine Lippen. Das klingt perfekt. Ich kann jede Antwort haben, die ich immer wollte.

»Ahhh!«

Daisy.

Plötzlich werde ich der Kälte gewahr, die um mich herum herrscht. In meinen Lungen befindet sich keine Luft mehr. Ich treibe reglos im Wasser, während ich zuhöre, wie diese sirenenartige Stimme mir etwas zuflüstert. Ich muss hier raus und zurück zu meiner Schwester. Etwas stimmt nicht.

Als ich versuche, mich zu bewegen, hindert mich das Wasser daran, indem es mich wieder nach unten drückt.

Du hast noch keine Frage gestellt, mahnt die Quelle. Es gibt so viel, das du erfahren musst. So vieles, das dich schon lange beschäftigt.

Was sie mir anbietet, ist verlockend, denn in den letzten Jahren hat mir einiges schlaflose Nächte bereitet. Aber ich rufe mir in Erinnerung, dass ich wegen jemand anderem hergekommen bin.

Sag mir, wo Gabriel Silverstein jetzt ist, verlange ich von der Quelle.

Sobald dieser Gedanke mir durch den Kopf geht, scheint sie erleichtert zu seufzen. Im nächsten Moment formt sich ein Bild vor meinem geistigen Auge. Es zeigt mir ein altes, unscheinbares Gebäude, das mitten in New London steht. Das Bild dieses Hauses brennt sich so tief in meine Seele, dass ich problemlos eine Kutsche dorthin lenken könnte.

Stell mir weitere Fragen, fordert die Quelle. Willst du nicht wissen, wie es ihm geht? Warum er dich belogen hat? Was an diesem Ort auf dich wartet? Es könnte wichtig sein.

Sie fleht mich beinahe an, hält mich in ihrer eisigen Umarmung, obwohl ich schon viel zu lange unter Wasser bin. Aber das Gefühl, mit ihr verbunden zu sein, ist so tröstlich. Was, wenn sie recht hat? Ich sollte diese Dinge wissen.

Ja. Wissen ist Macht. Ich kann dir zu einer Macht verhelfen, die du nie hattest. Dir alle Geheimnisse der Welt verraten. Du musst nur bleiben.

Es klingt so reizvoll, doch gerade, als ich eine weitere Frage stellen will, erinnere ich mich wieder an letzte Nacht. Daran, wie Gabriel mich angesehen, mich geküsst und geliebt hat, entgegen seiner Prinzipien. Er hat mich gewählt, nur dieses eine Mal, also sollte ich mich jetzt genauso für ihn entscheiden.

Ich wehre mich gegen den Einfluss der Quelle. Keine Geheimnisse mehr. Keine Fragen. Ich habe dir eine gestellt, also lass mich los.

Schmerz gräbt sich in meinen Körper, eisig und unerbittlich. Meine Antwort scheint ihr zu missfallen.

Du kannst gehen, zischt sie. Doch entkommen kannst du mir nicht. Niemals.

Mit dieser Drohung gibt das Wasser mich frei. Ich kehre an die Oberfläche zurück, hustend und nach Luft japsend. Meine Lungen brennen wie Feuer, und meine Glieder sind vollständig taub. Meine Haut ist blass und bläulich verfärbt. So schnell ich kann, wate ich aus dem eisigen Wasser, kaum fähig, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Doch als ich Daisy am Rand der Quelle liegen sehe, bewegt sich mein Körper wie von selbst.

»Daisy!«, rufe ich und knie mich neben sie. Ihre Augen sind geschlossen, und sie bewegt sich nicht. »Daisy, wach auf!«

Mit meiner kalten Hand berühre ich ihre Wange, woraufhin sie zusammenzuckt und die Augen öffnet.

»Reva …«

Als sie erkennt, dass ich leibhaftig bei ihr bin, setzt sie sich auf und fällt mir um den Hals. Drückt mich so fest an sich, dass ich glaube, sie will mich nie mehr loslassen.

»Ich dachte, du ertrinkst!«, ruft sie mit erstickter Stimme und mehr als vorwurfsvoll. »Du warst eine halbe Ewigkeit da unten und hast nicht reagiert! Ich wollte zu dir und dich retten, aber die Quelle hat mich zurückgeschleudert …«

Ihre Stimme versagt. Sie hat versucht, mich zu beschützen. So, wie sie es immer tut.

»Ich bin hier«, murmele ich. »Alles ist gut.«

»Was ist da drin passiert?«, wispert sie.

»Ich habe die Antwort bekommen, die ich wollte. Ich weiß jetzt, wo Gabe ist.«

Sie löst sich ein Stück von mir, um mir in die Augen zu blicken. »Himmel, du bist so kalt. Was wollte die Quelle von dir? Was musstest du ihr geben?«

»Nichts«, antworte ich. »Ich glaube, sie wollte mich da drin festhalten. So lange, bis ich ertrinke. Sozusagen an meinem eigenen Wissensdurst.«

Tränen wallen in Daisys blauen Augen auf. »Mach das nie wieder. Nie wieder, hörst du? Du bist so, so kalt. Wir müssen dich aufwärmen.«

»Das geht nicht. Ich muss Gabe finden.«

»Lass mich dir helfen.«

»Kommt nicht infrage«, blocke ich ab. »Du hast mir schon genug geholfen. Wenn ich mich in Gefahr bringe, ist das meine Entscheidung. Aber ich könnte mir nie verzeihen, wenn dir was passiert. Du bist die Erbin dieser Familie, Daisy. Eine von uns muss es sein, und du bist besser darin als ich.«

Sie schnieft. »Sag so was nicht. So wie du es aussprichst, klingt das nach einem Abschied.«

»Soll es nicht. Was auch immer mit Gabe ist, ich finde ihn und komme dann wieder.«

»Versprich es«, fordert sie. »Als Erbin dieser Familie befehle ich dir verdammt noch mal zurückzukommen.«

Ich lächele sie an. »Ich versprech’s. Und jetzt komm. Wir müssen hier raus. Die Quelle ist mir echt nicht geheuer.«

Daisy nickt ernst. Gemeinsam ziehen wir uns auf die Füße. Mithilfe ihrer Magie saugt meine Schwester die eisige Flüssigkeit aus meiner Kleidung und leitet sie zurück in die Quelle.

Als wir durch die Öffnung des magischen Eistores treten, fährt mir ein schmerzhafter Stich zwischen die Rippen. Für einen Moment bleibt mir die Luft weg. Ich lege mir eine Hand auf die Brust, gehe zwei Schritte nach vorn und kehre Daisy den Rücken zu, während sie das Tor erneut versiegelt. Kalter Schmerz breitet sich in mir aus, begleitet von einem beängstigenden, erdrückenden Gefühl. Ich spüre Reue und ein unterschwelliges Verlangen nach etwas, das ich nicht benennen kann. Es fühlt sich an, als wäre ich kurz davor gewesen, mir einen Lebenstraum zu erfüllen, nur um ihn in letzter Sekunde wie Sand zwischen meinen Fingern hindurchrieseln zu sehen. Vorsichtig wage ich einen Blick zurück. Es ist die Quelle. Sie will, dass ich zu ihr zurückkomme.

Doch entkommen kannst du mir nicht. Niemals.

Ich schlucke, balle meine Hände zu Fäusten. Nein, diesem Gefühl darf ich jetzt nicht nachgeben. Ganz egal, was ich vorhin da drin erlebt habe, es spielt keine Rolle mehr. Es wird vergehen. Jetzt muss ich Gabriel finden, bevor es zu spät ist.