Freitag, 19. Dezember
I
ch blicke von Théo zu Inés und wieder zurück zu Théo.
»Julie! Julie, ich kann dir das erklären!« Théos Stimme überschlägt sich beinahe, während er hektisch aus dem Bett klettert und sich dabei in seinen Boxershorts verheddert.
Ich sehe nicht mehr, ob er der Länge nach hinschlägt, wie er es verdient hätte, oder sich noch im letzten Moment fangen kann.
Jedenfalls habe ich schon die Wohnungstür erreicht, als er in Socken, aber noch immer ohne Hose aus dem Schlafzimmer gestolpert kommt. Er bietet einen lächerlichen Anblick. Leider ist mir ganz und gar nicht zum Lachen zu Mute.
»Julie, bitte. Ich wollte das nicht.«
Dieser idiotische Satz ist das Letzte, was ich von Théo höre, ehe die Tür zu seiner Wohnung scheppernd hinter mir ins Schloss fällt.
Tränen der Wut und der Enttäuschung brennen mir in den Augen, als ich die Treppe hinunterlaufe. Ich blinzele entschlossen dagegen an und kann im allerletzten Moment einen heftigen Zusammenstoß mit Théos Nachbarin, der entzückenden alten Madame Durat vermeiden, ehe ich auf den Trottoir hinaus eile und in meinen 500er Fiat steige.
Ein kurzer Blick in den Rückspiegel auf den Kleidersack auf der Rückbank genügt, um mich unsanft und mit voller Wucht daran zu erinnern, was mich heute Mittag zu Théos Wohnung geführt hat. Ich habe am Institut extra früher aufgehört, um ihn zu überraschen und etwas früher in unser Weihnachtsshoppingwochenende nach Paris starten zu können.
Ich schlucke gegen die Übelkeit an, die in mir aufsteigt.
Dann sehe ich Théo in Boxershorts aus dem Haus stürmen und starte den Motor. Dabei weiß ich gar nicht, wohin ich fahren soll. Sicherlich nicht nach Paris. Und auch ganz gewiss nicht in meine Wohnung, die ich mir momentan mit Inés teile. Allein der Gedanke an ihre Sachen, die überall dort herumliegen, treibt mir die Zornesröte ins Gesicht. Ich könnte jetzt nach Hause fahren, in einem melodramatischen Wutanfall ihre Habseligkeiten aus dem Fenster werfen und die spanische Göre vor die Tür setzen. Aber ich bin Dozentin an dem Fachbereich, an dem Inés ihr Auslandssemester absolviert. Wenn ich nicht will, dass nach den Weihnachtsferien jeder Student und jeder Kollege aus erster Hand über mein Beziehungsdesaster Bescheid weiß, gilt es jetzt einen kühlen Kopf zu bewahren und meine nächsten Schritte sorgfältig zu überdenken.
Geradezu reflexartig bin ich auf die A8 aufgefahren und nehme jetzt die erste Abfahrt Richtung Grenoble. Es ist die vertraute Strecke zu unserem Ferienhaus. Das Chalet meiner Familie liegt in malerischer Umgebung ziemlich abgelegen mitten in den Seealpen einige Kilometer von dem Bilderbuchdorf Briançonnet entfernt nördlich von Grasse. Da es im Dezember nie vermietet wird, ist es in dieser Situation der perfekte Zufluchtsort. Obwohl wir schon seit Jahren nicht mehr alle zusammen die Weihnachtstage oben in der cabane
verbracht haben, wie wir das wunderschöne alte Holzhaus liebevoll nennen, besteht Maman darauf, dass es in dieser Zeit nicht vermietet wird, damit einem spontanen Familienausflug in die Berge nichts im Wege steht.
Dann klingelt mein Handy. Ich werfe einen schnellen Blick auf das Display, auf dem Théos Foto erscheint. Théo breit grinsend in T-Shirt und Holzfällerhemd, vor ihm auf dem Bistrotisch ein Sandwich und ein Glas Rotwein. Es ist ein Schnappschuss, den ich im Herbst in einem Straßencafé in der Altstadt von Nizza gemacht habe. Es war einer der letzten herrlichen Oktobertage, an denen man noch im Freien sitzen konnte. Ich erinnere mich noch, dass wir anschließend ins Kino gegangen sind. Ich wollte eigentlich den neuen Almodóvar sehen, aber dann sah Théo im Foyer das Plakat einer kruden Comic-Adaption und setzte sich mal wieder durch. Vielleicht ist es gerade dieser Erinnerungsfetzen, den ich gebraucht habe, um auf meinem Smartphone-Display entschlossen auf Blockieren
zu tippen.
Schon bald wird die Straße schmal und schlängelt sich durch enge Schluchten und malerische Täler. Dass es allerdings zu schneien beginnen würde, habe ich nicht einkalkuliert. Merde!
Mein Auto hat keine Winterreifen, und ich habe für unser Wochenende in Paris nur schicke Sachen und nicht mal ein Paar flache Schuhe eingepackt.
Ich denke an das charmante Boutique-Hotel unweit von Louvre und Oper, das ich für Théo und mich gebucht habe. Ich kann einfach nicht fassen, dass er mir das angetan hat. Und dann auch noch mit Inés. Wieder brennen mir Tränen in den Augen.
Im Schritttempo taste ich mich im minütlich dichter werdenden Schneegestöber die Route de Grenoble entlang und ab Entrevaux wird es dann richtig abenteuerlich. Ich umkrampfe das Lenkrad und schicke nach jeder Kurve ohne Gegenverkehr ein Stoßgebet gen Himmel.
In Nizza hat noch die Sonne geschienen. Ich drehe die Wagenheizung höher und stelle die Scheibenwischer auf die stärkste Stufe. Im Grunde passt der plötzliche Wintereinbruch hier in den Bergen perfekt zu meiner gegenwärtigen Gemütsverfassung. Ich werde mich in der cabane
einmummeln und ein paar Tage lang für nichts und niemanden erreichbar sein. Ich werde am Kamin sitzen, Tee trinken und meine Wunden lecken.
Doch zuerst muss ich heil dort ankommen. Die schmale Straße ist kaum befestigt und verfügt über keine Schutzplanken. Obwohl ich die Strecke seit meiner Kindheit in und auswendig kenne, erscheinen mir die Kurven diesmal schärfer, die Schluchten tiefer und die Berge höher als jemals zuvor. Immerhin fordert die riskante Fahrt meine ganze Aufmerksamkeit, sodass ich kaum dazu komme, an Théo und Inés zu denken.
Innerhalb kürzester Zeit hat sich die Landschaft, durch die ich fahre, in einen Winterwald verwandelt. Auf den Dächern der Häuser von Briançonnet liegt eine zentimeterdicke Schneeschicht und die Flocken werden zusehends größer.
Einen Moment lang überlege ich, nicht weiterzufahren, und in der kleinen Pension am Marktplatz nach einem Zimmer zu fragen. Immerhin führt der letzte Teil der Strecke über eine unbefestigte Schotterpiste, kaum breiter als ein Feldweg und bestückt mit einer Reihe von serpentinenartigen Kurven. Andererseits bin ich nur noch ein paar Autominuten von meinem Ziel entfernt und wenn es über Nacht weiter schneien sollte, sitze ich unter Umständen auch morgen noch in Briançonnet fest.
Also umgreife ich das Lenkrad noch fester und hoffe inständig, dass mir auf dem schmalen Sträßchen niemand entgegenkommt.
Schon aus einiger Entfernung kann man das Chalet auf seiner Bergwiese liegen sehen. Mit der weißen Schneedecke auf dem vorgezogenen Dach bietet es einen besonders malerischen Anblick.
Leider braucht es keinen Gegenverkehr, um in der letzten Kurve von der Straße abzukommen. Es geht ganz langsam und unspektakulär. Ich kann nur tatenlos zusehen, wie mein störrisches Auto die Kontrolle übernimmt und beinahe im Zeitlupentempo Kurs auf den Straßengraben nimmt. Bremsen, gegenlenken, fluchen zwecklos. Wie ein unerzogenes Kind lässt es sich durch nichts von seinem Vorhaben abbringen und scheint sich diebisch zu freuen, als es gemächlich die Böschung hinunterrutscht und mit der roten Nasenspitze im Schnee steckenbleibt.
Merde!
Das hat mir gerade noch gefehlt. Was für ein beschissener Tag!
Fluchend öffne ich die Wagentür und stehe mit meinen Ankle Boots prompt im knöchelhohen Schnee. Mit nassen Füßen und einem veritablen Schreikrampf nahe klettere ich aus dem Graben und hieve meinen Trolley aus dem Kofferraum. Es ist gleich halb fünf. Bei dem starken Schneetreiben wird heute wohl kaum noch ein hilfsbereiter Bauer aus der Umgebung vorbeikommen und meinen Fiat aus dem Straßengraben ziehen.
Also stapfe ich verdrießlich mit meinem Rollkoffer im Schlepptau die schneebedeckte Straße entlang. Spätestens bei jedem dritten Schritt gleite ich aus und jedes Mal fährt mir der Koffer dabei mit Bravour in die Hacken, als hätte auch er mächtig Spaß an meiner Misere.
Mit vor Kälte kribbelnden Händen und schneedurchnässtem Haar erreiche ich das Chalet.
Erst als ich unter dem Vordach in der Handtasche nach meinem Schlüsselbund krame, fällt mir ein, dass der zusammen mit einigen anderen Dingen, die ich in Paris nicht brauchen würde, im Handschuhfach liegt.
»Putain de merde!
«, fluche ich frustriert und den Tränen nahe und lasse den Koffer stehen, um zum Auto zurückzustöckeln.
In diesem Moment öffnet sich die Haustür.
Mein Herz bleibt fast stehen vor Schreck. Klar, ein Einbrecher fehlt mir noch zu meinem Glück.
»Ich hätte nicht gedacht, dass die bei dem Wetter noch jemanden hier raus schicken. Kommen Sie rein«, erklärt er jovial.
Ich sehe den Mann im schwarzen Rollkragenpullover stirnrunzelnd an, der gegen die Haustür unseres Chalets gelehnt steht, als wäre er dort zu Hause. Er ist um die vierzig, groß, schlank und mit der markanten Nase, dem lässigen Henriquatre und seinem dunklen Wuschelhaar eine ziemlich attraktive Erscheinung. Eine äußerst attraktive Erscheinung, um ehrlich zu sein. Und er kommt mir bekannt vor.
»Serge Signac?«, frage ich verwirrt.
»Ist das ein Problem für Sie?«, antwortet er mit einer Gegenfrage.
»Was um Himmels willen machen Sie denn hier?«, platzt es aus mir heraus.
»Ich warte auf den Notdienst des Telefonanbieters. Das WLAN-Netzwerk ist ausgefallen. Aber mich beschleicht allmählich der Verdacht, dass Sie nicht die Technikerin sind.«
Ich schüttele konsterniert den Kopf. »Ich meine, was Sie hier in diesem Haus machen?«
»Schreiben und auf den Techniker warten«, entgegnet er lakonisch mit einem amüsierten Grinsen auf den Lippen. Dann weist er mit einer Kopfbewegung auf meinen Rollkoffer: »Und was wollen Sie hier?«
»Ich dachte … ich wollte … das Chalet ist sonst nie vermietet zu dieser Zeit«, bringe ich hervor.
»Nun, momentan ist es aber vermietet. An mich«, erwidert er und lächelt entwaffnend.
»Nom de Dieu!
«, entfährt es mir. »Das ist wirklich nicht mein Tag.«
»Ist das Ihr Wagen da unten?«, erkundigt sich Serge Signac und zeigt auf das leuchtend rote Osterei im Straßengraben, das gerade dabei ist, im Schnee zu versinken.
Ich nicke resigniert.
Serge Signac lässt seine Blicke von meinem Auto zurück zu mir wandern und mustert mich ungeniert von Kopf bis Fuß. Ich sehe genau, wie seine smaragdgrünen Augen mein derangiertes Haar, meinen durchnässten Übergangsmantel, meine ruinierten Booties registrieren.
»Nein, das scheint tatsächlich nicht Ihr Tag zu sein, Mademoiselle«, meint er mit einem ironischen Grinsen. »Jetzt kommen Sie erst mal herein. Sie holen sich da draußen ja noch den Tod.«
Seufzend folge ich ihm über die Schwelle, wobei ich registriere, dass er ein interessantes Aftershave benutzt. Es riecht auf elegante Weise holzig-balsamisch und ganz leicht nach Bergamotte.
»Ich habe Tee aufgesetzt«, erklärt er über die Schulter. »Gehen Sie geradeaus ins Wohnzimmer. Ich komme sofort nach.«
Mon Dieu!
Ich hatte beinahe vergessen, wie gemütlich es hier im Winter ist! Durch die großen bodentiefen Panoramafenster blickt man hinaus auf die schneebedeckten Wiesen und Gipfel und in dem freihängenden Kamin brennt ein heimeliges Feuer.
Ich registriere den aufgeklappten Laptop auf dem Tisch am Fenster, ehe ich meinen durchnässten Mantel ausziehe und mich auf den Hocker am Kamin setze.
Dann kommt Serge Signac mit zwei Teegläsern ins Zimmer. In natura sieht er tatsächlich noch besser aus als auf Fotos und im Fernsehen. Er ist nicht auf schwächliche sondern auf athletisch trainierte Weise schlank, wie man sie bei Schriftstellern kaum vermuten würde und er bewegt sich auf eine dynamische und zugleich geschmeidige Art. Ich habe in meinem Umfeld viele Schreibtischtäter, Lehrer und Dozenten an der Universität, denen man ansieht, dass sie ihre Zeit hinter Büchern und Laptops zubringen. Sie sind entweder schlaksig oder vollschlank, gewöhnen sich eine ungesunde Körperhaltung und einen nachlässigen Gang an. Ganz anders Serge Signac, dessen drahtiger Körper ganz aus Muskeln zu bestehen scheint.
»Nachdem Sie offenbar recht genau wissen, wer ich bin, wüsste ich auch gern, mit wem ich es zu tun habe, Mademoiselle«, sagt er und reicht mir ein Teeglas, ehe er sich in den Sessel neben mir setzt.
»Entschuldigung. Julie Bélingard.« Ich gebe ihm die Hand. »Meinen Eltern gehört dieses Chalet.«
Mir fällt auf, dass er schöne, gepflegte Hände mit langen, schlanken Fingern hat, von denen man sich gut vorstellen kann, dass sie über die Laptop-Tastatur fliegen wie die Hände eines Pianisten über seine Tasten.
»Sehr erfreut, Mademoiselle Bélingard. Und nun sind Sie hier, um Eigenbedarf anzumelden?«, fragt er grinsend.
Ô mon Dieu!
Dieser ironische Beiklang in seiner leicht rauchigen Stimme und das amüsierte Funkeln in seinen grünen Augen bringen mich völlig aus dem Konzept.
»Ich wusste nicht, dass Sie hier sind. Normalerweise ist das Haus im Dezember nie vermietet«, murmele ich.
»Nun, mein Agent und mein Anwalt empfahlen mir Luftveränderung. Eric hat sich um die Buchung gekümmert. Ich glaube, er ist mit Ihrem Vater bekannt«, entgegnet Serge Signac und nippt an seinem Tee. »Eric de Lautréamont. Kennen Sie ihn?«
Und ob ich diesen arroganten Pariser Staranwalt kenne. »Er ist auch der Anwalt meiner Familie«, erwidere ich diplomatisch. »Und sind Sie zufrieden mit seiner Empfehlung?«
»Ich bin hier, um zu schreiben. Und das hier ist ein idealer Ort dazu. Eigentlich.«
»Eigentlich, wenn ich nicht hereingeplatzt wäre und Sie von der Arbeit abgehalten hätte«, vermute ich.
»Nein, das ist nicht der Grund. Ich machte ohnehin gerade eine … Pause«, erwidert er ausweichend. »Und Sie, Mademoiselle Bélingard? Was führt Sie im größten Schneechaos hier in die Einöde?«
»Als ich heute Mittag in Nizza losfuhr, herrschte noch strahlender Sonnenschein. Der plötzliche Wintereinbruch war nicht abzusehen. Ich wurde vom Schnee überrascht.«
Wieder mustert er meine durchnässten Wildleder-Booties und hebt dabei skeptisch seine markant geschwungenen Augenbrauen. »Sie sehen nicht aus, als hätten Sie einen Winterurlaub in den Bergen geplant, wenn Sie mir diese Bemerkung gestatten. Sie sollten die nassen Schuhe besser ausziehen und sie ans Feuer stellen, wenn Sie sich nicht erkälten wollen.«
Ich sehe ihn unschlüssig an. Auf der einen Seite friere ich noch immer so sehr, dass ich das Zittern nur mühsam unterdrücken kann, auf der anderen erscheint es mir ziemlich unpassend, in der Gegenwart von Serge Signac die Schuhe auszuziehen.
»Nun seien Sie nicht verlegen und tun Sie, was ich sage. Sie sind hier doch zu Hause.«
Der resolute Klang seiner Stimme macht es mir leichter, dem verlockenden Angebot nachzukommen. Also streife ich meine Schuhe ab und halte meine halb erfrorenen Füße vor den Kamin.
»Was machen Sie, wenn Sie nicht gerade Hals über Kopf aus Nizza flüchten?«, erkundigt sich Serge Signac und nimmt einen weiteren Schluck Tee.
Ich sehe ihn verblüfft an.
»Ich bin Autor. Ich kann eins und eins zusammenzählen, Mademoiselle Bélingard. Sie tragen völlig unbrauchbares Schuhwerk und ein viel zu dünnes Designerkleid, Ihr Wagen hat keine Winterreifen und Sie haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich zu erkundigen, ob Ihr Chalet vermietet ist. Entweder haben Sie gerade Ihre Wohnung oder Ihren Job verloren oder Sie haben sich von Ihrem Freund getrennt. Unter Berücksichtigung Ihrer eleganten Kleiderwahl und des kleinen Rollkoffers bin ich geneigt, auf Letzteres zu tippen.«
Ich klappe den Mund auf und wieder zu. Ich habe bestimmt nicht vor, mit Serge Signac über Théo zu reden.
»Wie man so liest, spricht da wohl der Fachmann«, erwidere ich daher spitz.
Jetzt ist er es, der konsterniert blinzelt. »Ja, meine Trennung von Mia war für die Presse ein Fest«, entgegnet er bitter.
»Désolé
. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten«, murmele ich.
Serge Signac schüttelt den Kopf. »Schon gut, das haben andere getan. Es war eine echte Schlammschlacht.«
»Sind Sie deshalb hier in den Bergen? Wegen des Presserummels?«
»Wie ich schon sagte: Ich bin hier, um zu schreiben«, entgegnet er ausweichend. »Aber Ihrer Reaktion entnehme ich, dass ich mit meiner Annahme ins Schwarze getroffen habe, Mademoiselle Bélingard. Ich lehne mich sogar ganz weit aus dem Fenster und vermute, dass Sie eigentlich geplant hatten, ein romantisches Wochenende mit ihm
zu verbringen. Aber es kam etwas dazwischen, das Sie ihm nicht verzeihen konnten. Entweder hatten Sie einen heftigen Streit oder …«
»Hören Sie auf damit!«, fauche ich den Tränen nahe. »Ich bin nicht eine Ihrer Romanfiguren, Monsieur Signac.«
Jetzt grinst er wieder auf diese verflucht gewinnende Weise. »Sie sind vertraut mit meinen Romanen?«
»Ich habe ein paar davon gelesen«, erwidere ich reserviert. »Wie wohl beinahe jeder in Frankreich.«
Serge Signac lacht und es klingt echt und geradezu ansteckend. »Nein, die meisten haben nur die Verfilmungen gesehen. Aber Sie klingen nicht, als wären Sie ein Fan.«
»Ich bin Literaturwissenschaftlerin«, entgegne ich diplomatisch.
»Und das schließt aus, meine Romane zu mögen?«
Ich schüttele den Kopf. Diesmal bin ich es, die an ihrem Tee nippt, um Zeit zu gewinnen. »Nein, aber es schließt aus, Bücher unvoreingenommen zu lesen.«
Serge Signac fixiert mich mit seinen faszinierenden, smaragdgrünen Augen. »Das müssen Sie mir genauer erklären, Mademoiselle Bélingard.«
Ich spüre, wie ich prompt rot werde. Immerhin sitze ich einem Mann gegenüber, der mit Joanne K. Rowling und Dan Brown in einem Atemzug genannt wird. »Nun, Sie schreiben Bestseller, Monsieur Signac. Megaseller, wie man so sagt.«
Er runzelt die Stirn und hebt dann fragend eine Augenbraue. »Und dass sie sich blendend verkaufen, macht meine Bücher zu schlechter Literatur?«
»Das habe ich nicht gesagt und nicht gemeint«, beeile ich mich zu sagen. »Aber Sie schreiben Genre-Literatur. Bücher, die sich gut verkaufen und gut verfilmen lassen.«
»Gute Literatur muss also im Gegenzug schwer verdaulich und schlecht verkäuflich sein, um Ihre Wertschätzung zu genießen, Mademoiselle Bélingard?«
Ich lache verunsichert. »Sie drehen mir die Worte im Mund herum, Monsieur Signac. Sie schreiben sehr spannende, äußerst unterhaltsame und gut recherchierte Politthriller zu aktuellen Themen.«
Serge Signac lächelt siegesbewusst. »Klingt für mich wie ein lupenreines Lob.«
»Aber Sie bedienen auch Klischees«, füge ich hinzu. »Ihr chauvinistischer Professor Truffaut turnt durch die Betten hübscher weiblicher Nebenfiguren wie ein Neffe von James Bond. James Bonds Neffe mit den geistigen Fähigkeiten und den sozialen Kompetenzen eines Sherlock Holmes.«
Wieder lacht Serge Signac auf diese sympathische Art. »Autsch. Sie halten Truffaut für einen soziopathischen Macho?«
»Er ist
ein Macho«, bekräftige ich. »Frauen sind in Ihren Romanen ausschließlich schmückendes Beiwerk. Ihr Protagonist benutzt sie zu seinen Zwecken und wechselt seine Bettgefährtinnen wie andere Leute ihre Socken.«
»Wow. Klingt beinahe, als würden Sie mir die Eigenarten und Fehler meines Protagonisten zum Vorwurf machen. Aber Autor und Figur zu verwechseln, würde einer Literaturwissenschaftlerin sicher nicht in den Sinn kommen.«
»Ich will Ihnen bestimmt nicht die Charaktereigenschaften Ihrer Figur unterstellen, Monsieur Signac. Aber Sie werden mir Recht geben, dass Sie mit Ihren millionenfach verkauften Büchern und den Hollywoodverfilmungen Geschlechterrollen bedienen und transportieren, die zumindest fragwürdig sind.«
Serge Signac grinst. »Ich will Ihnen bestimmt nicht unterstellen, dass Sie die momentanen Probleme mit Ihrem Partner auf meine Bücher projizieren, aber …«
»Wie bitte?« Ich verschlucke mich beinahe an meinem Tee.
Serge Signacs Grinsen wird noch breiter, als er erkennt, dass er erneut ins Schwarze getroffen hat. »Désolé
. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten«, wiederholt er meine Worte mit einem leisen süffisanten Unterton.
»Schon okay. Ein Punkt für Sie«, murmele ich und schaue aus dem Fenster.
»Ô mon Dieu!
«, entfährt es mir. Seit ich hier bin, hat sich die Höhe der Schneeschicht locker verdoppelt und es schneit munter in dicken, wirbelnden Flocken weiter.
»Wie es aussieht, werden Sie heute nicht mehr hier wegkommen«, knurrt Serge Signac, der meinem Blick gefolgt ist.
Ich sehe ihn betreten an. »Es war nicht meine Absicht, Ihre Schreibklausur zu stören, Monsieur Signac. Lassen Sie sich von mir nicht von der Arbeit abhalten. Und morgen bin ich wieder weg.«
»Keine Sorge, Sie halten mich nicht von der Arbeit ab, Mademoiselle Bélingard.« Er seufzt und fährt sich mit beiden Händen durch sein seidiges, ebenholzfarbenes Haar. »Ich habe seit Wochen nichts Brauchbares geschrieben.« Es klingt beinahe wie ein Geständnis.
Ich sehe ihn mit großen Augen an. »Sie leiden an einer Schreibblockade?«
Er blinzelt, als hätte ich ein sehr unanständiges Wort gesagt. »Nun, so weit würde ich nicht gleich gehen. Es ist wohl eher eine kleine Flaute.«
»Sie haben sich gerade ziemlich öffentlichkeitswirksam von Mia Bolan scheiden lassen. Das würde wohl jeden aus der Bahn werfen.« Merde!
Das ist mir einfach so herausgerutscht.
»Ist das so?« Serge Signac lacht bitter auf. »Ich gebe Ihnen einen guten Rat, Mademoiselle Bélingard: Lassen Sie sich niemals mit der Hauptdarstellerin Ihrer eigenen Romanverfilmung ein.«
Es soll vermutlich scherzhaft klingen, aber tatsächlich ist der gallige Tonfall nicht zu überhören.
»Da besteht in meinem Fall wohl keine Gefahr«, murmele ich und versuche, den kleinen Fauxpas einfach wegzulächeln.
»Sie frieren ja immer noch«, stellt Serge Signac völlig unvermittelt fest.
Zut!
Er hat Recht. Obwohl ich mir Mühe gebe, es zu überspielen, zittere ich in etwa wie ein Junkie auf kaltem Entzug.
»Sie sollten ein heißes Bad nehmen und sich etwas Trockenes anziehen«, empfiehlt mir der Bestseller-Autor. Es klingt zu gleichen Teilen besorgt und resolut, fast so, als wäre er mein Hausarzt.
»Sie haben also nichts dagegen, wenn ich die Badewanne …«
»Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause, Mademoiselle Bélingard«, unterbricht er mich und lächelt gleichmütig. »Zum einen ist das hier ja ohnehin Ihr Chalet, zum anderen bleibt uns wohl kaum eine andere Wahl, als uns in den kommenden Stunden miteinander zu arrangieren. Und wenn wir schon dabei sind: Sie können selbstverständlich eines der Schlafzimmer haben.«
Ich nicke. »Merci beaucoup
. Ich weiß das wirklich zu schätzen.«
»Schon gut. Und jetzt sehen Sie zu, dass Sie in die Wanne kommen. Ich habe nämlich keine Lust, Sie zu umsorgen, wenn Sie morgen mit einer Lungenentzündung im Bett liegen.«
Ich grinse. »Nein, das hatte ich auch nicht vor.«
❄❄❄
Erst als ich die Badezimmertür hinter mir schließe, wird mir richtig bewusst, in welcher verrückten Situation ich mich befinde. Ich bin in unserem kleinen Chalet am Ende der Welt eingeschneit mit keinem Geringeren als Serge Signac! Als ich sagte, ich hätte ein paar
seiner Bücher gelesen, war das wohl ziemlich untertrieben. Tatsächlich habe ich fast alle seiner Professor-Truffaut-Thriller gelesen, manche von ihnen geradezu verschlungen und ich habe sie alle gemocht. Auch wenn meine Kritik an den Geschlechterverhältnissen in seinen Romanen sicher berechtigt und auch problemlos belegbar ist, ist das nur ein Teilaspekt. Ich habe ihm verschwiegen, welche Sogwirkung seine Bücher entfalten und wie grandios sie geplottet sind. Er ist einfach immer am Puls der Zeit und greift aktuelle, gesellschaftspolitisch relevante Themen auf, um sie in extrem spannende Thriller zu verpacken.
Er ist ein wirklich guter Schriftsteller und er sieht verdammt gut aus. Mon Dieu!
Dieses Lächeln und diese wahnsinnig grünen Augen!
Ich trete an die freistehende Badewanne und lasse Wasser ein. Während ich warte, wandert mein Blick durchs Zimmer. Da hängen seine Handtücher und sein Bademantel an den nostalgischen Wandhaken neben der Tür. Beinahe wie ferngesteuert gehe ich zum Waschtisch, auf dessen Ablage seine schwarze Kulturtasche und sein Aftershave stehen. Es handelt sich um ein Rasierwasser des luxuriösen britischen Traditionsparfümeurs Floris und ich kann nicht widerstehen, das Fläschchen zu öffnen und den herb männlichen Duft einzuatmen. Er riecht nach erdigen Hölzern, würzigen Kräutern und frischer Bergamotte.
Ich achte darauf, das Fläschchen wieder exakt an seinen Platz zu stellen, ehe ich anfange, mich auszuziehen. Beim Anblick meiner edlen schwarzen Aubade-Lingerie und meiner halterlosen Strümpfe wird mir mit einem Mal übel. Da sind sie plötzlich wieder, die Wut und die Enttäuschung über Théo, für den ich heute Morgen diese verführerische Wäsche angezogen habe. Die teuren Dessous, die hohen Schuhe, das hübsche Kleid.
Wieder versuche ich, die Tränen wegzuzwinkern, doch diesmal gelingt es mir nicht. Mit verschleiertem Blick greife ich nach dem blumigen Badeöl, das dank Maman immer neben der Wanne bereitsteht, lasse etwas davon ins Wasser tropfen und steige fröstelnd in das schaumig duftende Nass.
Es ist nicht so, dass Théo die eine große Liebe meines Lebens ist und mit seinem Seitensprung meine ganze Welt zusammengebrochen wäre. Aber ich hatte die Hoffnung, dass das zwischen uns etwas Ernsthaftes, Aufrichtiges und Erwachsenes werden könnte. Ich hätte ihm niemals zugetraut, dass er mich so schamlos dreist betrügen würde. Wir kennen uns schon seit ein paar Jahren, als wir als Studenten an der Universität die gleichen Literaturkurse belegten. Théo studierte auf Lehramt und wurde Grundschullehrer, ich blieb als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni. Ein Paar sind wir aber erst seit letztem Frühjahr, als wir uns nach der Geburtstagsfeier eines gemeinsamen Freundes ein Taxi teilten. Es war also weder Liebe auf den ersten Blick noch war es die ganz große Romanze. Eher war es eine weinselige Nacht, aus der mehr zufällig denn aus Berechnung ein Dreivierteljahr wurde. Théo ist kein umwerfend attraktiver, überaus intelligenter oder überdurchschnittlich erfolgreicher Mann. Im Grunde ist er sogar in beinahe allen Belangen ziemlich durchschnittlich und vielleicht dachte ich gerade darum, dass diese in vielerlei Hinsicht durchschnittliche Beziehung von überdurchschnittlicher Dauer und Beständigkeit sein würde.
Während meine Tränen in den knisternden Badeschaum tropfen, wird mir allmählich bewusst, dass ich nicht aus Trauer um eine große Liebe weine, sondern aus Selbstmitleid und weil ich mich zutiefst gekränkt fühle.
Und dann denke ich wieder an Serge Signac, der in keiner Beziehung durchschnittlich zu sein scheint. Er ist nicht nur einer der meistgelesenen Autoren Frankreichs, dessen Bücher mit riesigen Budgets in Hollywood verfilmt werden; spätestens seit seiner recht kurzlebigen Ehe mit der amerikanischen Schauspielerin Mia Bolan und der darauffolgenden lautstarken Scheidung ist er ein international bekannter Star und in die erste Celebrity-Liga aufgestiegen.
Ich lasse mich tiefer ins warme Wasser rutschen und schließe die Augen. Das Erste, das mir in den Sinn kommt, sind Serge Signacs smaragdgrüne Augen und sein verflucht anziehendes Lächeln. Doch im nächsten Augenblick blitzt das Bild von Théo und Inés auf. Inés mit dem zerwühlten Haar, den vom Sex geröteten Wangen und den schreckgeweiteten Augen, Théo, der mich ein paar quälende Sekunden lang nur blöde anglotzt, ehe ihm im Zeitlupentempo jegliche Gesichtszüge entgleiten und er kopflos hinter mir herstürzt. Ich schüttele den Kopf, um diese unendlich peinliche Szene zu vertreiben. Ich versuche an etwas anderes, an etwas Schönes zu denken, doch jedes Bild und jede Erinnerung, die mir in den Sinn kommt, hat irgendetwas mit Théo zu tun. Und dann ist da plötzlich wie aus dem Nichts das Bild von zwei auffällig schönen Männerhänden mit langen aristokratischen Fingern, die mir eine duftende Tasse Tee reichen. Théo hat breite Hände mit kurzen, kräftigen Fingern und abgestoßenen Nägeln, die sich immer ein bisschen rau und kratzig anfühlen, wenn sie mich anfassen.
Ich ertappe mich bei dem Gedanken, wie es sich wohl anfühlen würde, diese anderen eleganten Hände auf meiner Haut zu spüren, wie es sich wohl anfühlen würde, von diesen feingliedrigen Künstlerfingern liebkost zu werden.
Ein bisschen verschämt wird mir bewusst, dass ich dabei bin, mit meinem Badeschwamm auf geradezu laszive Weise meine Brüste einzuschäumen, deren rosige Knospen prompt auf die unerwartete Liebkosung reagieren.
Ich wundere mich über mich selbst und steige etwas übereilt aus der Wanne.
Ehe ich ein frisches Handtuch aus der Kommode nehme, halte ich einen Moment inne und sehe mich im Spiegel an. Das viele honigfarbene Holz an Decke und Wänden und der Natursteinboden sorgen hier im Bad sowie im ganzen Chalet für ein besonders warmes, beinahe sinnliches Licht, sodass meine feuchte Haut schimmert, als sei sie von flüssigem Gold überzogen. Zum ersten Mal seit einer ganzen Weile betrachte ich so ausgiebig und bewusst mein Spiegelbild. Ich registriere meine vom Weinen geröteten Augen, aber auch meine vom warmen Wasser erhitzten Wangen. Wie wohl beinahe jede Frau sehe ich da ein paar Dinge, die perfekter sein könnten. Mein gut schulterlanges aschblondes Haar könnte ruhig ein bisschen dicker sein und etwas mehr Spannkraft vertragen, außerdem könnte ich gut auf meinen minimalen Silberblick und auf das Muttermal auf meinem Schlüsselbein verzichten, von dem mir meine Dermatologin gesagt hat, dass die Entfernung eine unansehnliche Narbe verursachen würde. Meine Brüste könnten eine Idee größer sein, mein Po ein bisschen straffer. Und insgesamt könnte ich durchaus ein paar Zentimeter größer sein, um nicht immer Schuhe mit hohen Absätzen tragen zu müssen. Aber im Großen und Ganzen bin ich recht zufrieden mit dem, was ich sehe. Ich mag meine hellblauen Augen, meine gerade Nase, die geschwungene Form meiner Lippen und ich bin sogar ein bisschen stolz auf meine schlanke Figur und meine schmale Taille.
Es gelingt mir, mir selbst aufmunternd zuzulächeln, ehe ich mich vom Spiegel abwende. Einen Moment lang überlege ich, die Jeans und den Pulli hervorzukramen, die ganz unten im Koffer liegen. Doch dann entscheide ich mich ganz bewusst, die teure Lingerie wieder anzuziehen. Ich fühle mich sexy und begehrenswert, wenn ich schöne Dessous trage, und heute brauche ich dieses Gefühl dringender denn je. Anstelle des grafisch gemusterten Etuikleides von vorhin nehme ich das figurbetonte schwarze Strickkleid von Alexander McQueen mit dem aufregenden Ausschnitt aus dem Koffer, das eigentlich für ein romantisches Dinner in Paris gedacht war.
Ich habe ganz gewiss nicht vor, Serge Signac zu verführen, aber ich habe vor, mich heute Abend wohl zu fühlen in meiner Haut und nicht sein Mitleid zu erregen.
❄❄❄
»Mademoiselle Bélingard, ich dachte schon, Sie wären in der Badewanne eingeschlafen«, höre ich Serge Signac sagen, als ich die knarzende Treppe hinuntergehe.
Er steht unten am Treppenabsatz und scheint auf mich zu warten.
»Sie sehen bezaubernd aus«, murmelt er und es klingt aufrichtig beeindruckt. »Ich nehme an, dieser Anblick sollte eigentlich einem Anderen zu Teil werden.«
Ich seufze und nicke. »Wir wollten über das Wochenende nach Paris.«
»Der Mann muss ein Idiot sein«, knurrt Serge Signac.
Dann hält er inne und sieht mir prüfend in die Augen. »Und Sie haben seinetwegen geweint.« Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung.
Zut!
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er es bemerken würde.
»Kommen Sie, ehe das Essen kalt wird.«
»Das Essen?«, frage ich verwirrt.
»Nun, meine Köchin hat vorgekocht. Sonst würde ich hier oben ja verhungern«, entgegnet er schmunzelnd. »Es gibt ein Bœuf bourguignon.«
Ich lächele. »Das klingt fantastisch. Ich fürchte, ich müsste mich von etwas Couscous und etwas eingekochtem Gemüse aus der Vorratskammer ernähren, wenn Sie nicht hier wären.«
»Schön, dass Sie meiner Anwesenheit wenigstens einen positiven Aspekt abgewinnen können, Mademoiselle Bélingard.«
Die uneindeutige Mischung aus Ironie und Sarkasmus in seiner Stimme lässt mich prompt erröten.
Dann folge ich ihm in die Küche.
»Wow!«, murmele ich völlig überrascht, als ich den hübsch gedeckten Tisch mit den Weingläsern und den brennenden Kerzen sehe.
Den Küchentisch mit einem Kandelaber und gefalteten Stoffservietten zu decken, hätte Théo noch das erste Mal vor sich.
»Ein romantisches Dinner bei Kerzenschein? Habe ich da etwas verpasst, Monsieur Signac?«, erkundige ich mich stirnrunzelnd.
»Sie sind mein erster Gast seit etwa einer Woche, Mademoiselle Bélingard. Wenn mir schon so unverhofft eine hübsche junge Frau ins Haus schneit, können wir auch das Beste aus diesem gemeinsamen Abend machen. Und jetzt setzen Sie sich und genießen Sie das Essen.«
Ich nicke und lasse mich auf die gemütliche, mit weichen Schaffellen bedeckte Eckbank sinken, während Serge Signac uns Wein einschenkt.
»Ein 2009er Châteauneuf-du-Pape vom Château de Beaucastel«, erklärt er beiläufig, als der samtrote Wein in mein Glas rinnt.
Auch wenn ich mich nicht als ausgewiesene Weinkennerin bezeichnen würde, ist mir doch bewusst, dass es sich dabei um einen ziemlich edlen Tropfen handelt.
Dann nimmt Serge Signac auf dem Küchenstuhl mir gegenüber Platz.
»Auf schicksalhafte Winternächte«, sagt er mit seiner feinherben Stimme und sieht mir dabei auf eine so intensive Weise in die Augen, wie ich es noch nie zuvor erlebt habe. Es ist ein wundervoller Trinkspruch, schlicht und poetisch. Wie hypnotisiert blicke ich in diese smaragdgrünen Augen, in denen sich eine ganze Welt aufzutun scheint, als unsere Gläser klingend aneinanderstoßen.
Serge Signac ist nicht nur ein höllisch attraktiver Mann, er verfügt auch über einen erlesenen Geschmack und exzellente Umgangsformen. Und er weiß auf geradezu magische Weise mit Worten umzugehen.
Das Bœuf bourguignon ist einfach himmlisch und der schwere Wein schmeckt vorzüglich dazu. Wir reden über das Essen und über den Wein, über die Seealpen und über das launische Wetter hier oben, über Bücher und über Filme, über seine Arbeit als Schriftsteller und über meine als Literaturwissenschaftlerin, aber wir reden nicht über unsere gescheiterten Beziehungen, kein Wort über Théo oder Mia.
Das Gespräch plätschert dahin, unaufgeregt, aber geistreich und es gefällt mir, mit Serge Signac zu plaudern. Obwohl er ein weltberühmter Autor ist, Filmprojekte in Hollywood betreut und eine der begehrtesten Frauen der Filmbranche geheiratet hat, fühle ich mich nicht eingeschüchtert von ihm. Wir lachen viel und er gibt mir das Gefühl, sich ehrlich und aufrichtig für mich und meine Meinungen zu interessieren. Serge Signac ist ein guter, aber ruhiger Erzähler, kein grüblerischer Intellektueller, aber auch kein lärmender Selbstdarsteller. Vermutlich könnte er mit seinem sonoren Bariton aus dem Telefonbuch vorlesen und ich würde an seinen Lippen hängen. Aber stattdessen erzählt er mit Verve und Esprit von seinen Anfängen als Schriftsteller.
»Reisen und Schreiben. Das war schon immer meine Leidenschaft. Deshalb habe ich Journalismus studiert. Damals habe ich Fortsetzungsromane für Zeitungen geschrieben und sogar zwei Liebesromane unter weiblichem Pseudonym, um mir das Studium in Paris und London zu finanzieren.« Serge Signac lacht und schenkt uns beiden Wein nach.
»Liebesromane? Sie?«, frage ich überrascht.
»Sagen Sie nur, das hätten Sie mir nicht zugetraut?«
»Wenn ich ehrlich sein soll – nein. Ihre Thriller enthalten mitunter recht prägnante Sexszenen, aber Romantik?«
»Ich denke, Sie unterschätzen mich, Mademoiselle Bélingard.« Wieder sieht er mir auf diese wahnsinnig intensive Weise in die Augen, der ich kaum standzuhalten vermag, ehe er an sein Baguette beißt und lässig mit den Schultern zuckt. »Außerdem war ich jung und brauchte das Geld.«
Ich grinse. »Sind diese Bücher noch auf dem Markt? Das müssen doch heute echte Raritäten sein für Ihre Fans.«
»Nun, sie werden inzwischen sogar wieder aufgelegt. Und sie verkaufen sich nebenbei bemerkt ganz prächtig. Aber niemand weiß, wer sich hinter dem Pseudonym verbirgt. Und das wird auch so bleiben, solange ich lebe.«
»Ernsthaft?«, frage ich. »Sind Ihnen Ihre Werke etwa peinlich?«
»Sagen wir mal so: es würde meinem Image schaden.« Er grinst schalkhaft, wobei seine grünen Augen beinahe katzenartig funkeln.
»Und wie kamen Sie von den Liebesromanen zu den Politthrillern?«, erkundige ich mich und nehme noch einen Schluck von dem köstlichen Rotwein.
»Erst mal habe ich dann ein paar Jahre in meinem Beruf gearbeitet. Ich machte Sozial- und Politreportagen für verschiedene Zeitungen und Magazine. Ich war in Afghanistan, in der Ukraine, sogar in Nordkorea. Es war eine spannende Zeit. Aber irgendwann wurde mir das Medium zu eng. Ich brauchte mehr Zeit und Raum, um mich in gesellschaftspolitische Sachverhalte zu vertiefen. Eine fünfseitige Fotoreportage über die Verschmutzung der Meere oder den Drogenkrieg in Mexiko kann zwar starke Bilder liefern, aber das Thema unmöglich umfassend beleuchten. Darum begann ich mit dem Bücherschreiben.«
»Warum dann keine Sachbücher?«, will ich wissen.
»Weil die nicht gelesen würden«, erwidert Serge Signac lakonisch. »Ein Sachbuch über die Gefahren von Spähsoftware und künstlicher Intelligenz in Haushaltsgeräten würde kaum jemanden interessieren, aber ein Technik-Thriller, in dem intelligente Drohnen und selbstfahrende Autos die Kontrolle übernehmen, ist ein Mega-Hit.«
»Bad New World
war ein großartiges Buch, eines Ihrer besten. Trotz Truffauts chauvinistischer Attitüde.«
»Oh, vielen Dank.« Serge Signac grinst. »So viel Lob aus Ihrem Mund ehrt mich, Mademoiselle Bélingard.«
Wieder bringt mich sein milder Sarkasmus aus dem Konzept.
»Und wovon wird Ihr nächster Roman handeln?«, frage ich daher schnell.
»Kurz gesagt von dem unmoralischen Geschäft mit Nahrungsmittelspekulationen; von Banken, Hedgefonds und anderen Finanzakteuren, die mit Rohstoffen und Grundnahrungsmitteln spekulieren und damit Hungersnöte und globale Krisen auslösen.«
»Wow. Das ist ein heftiges Thema. Wie haben Sie sich da eingearbeitet?«
»Ich habe beinahe ein Jahr lang recherchiert. Ich habe Studien gewälzt, mit NGOs, EU-Abgeordneten und Investmentbankern gesprochen und ich war in Äthiopien und Somalia, wo die Spekulationen mit den Mais- und Weizenpreisen am dramatischsten spürbar sind. Jetzt allerdings ist die Recherche beendet und ich müsste schreiben. Eigentlich.«
»Das heißt, Sie haben noch gar nicht angefangen?«
Serge Signac lacht. »Doch natürlich habe ich angefangen. Aber meine Protagonisten verhalten sich nicht wie erwartet. Professor Truffaut und sein neues Bondgirl, wie Sie seine Gespielin vermutlich bezeichnen würden, bereiten mir Schwierigkeiten.«
Ich grinse über diese Formulierung und verkneife mir die küchenpsychologische Vermutung, dass dieser Umstand durchaus etwas mit seiner erst kürzlich gescheiterten Ehe zu tun haben könnte. Schließlich haben wir eine unausgesprochene Übereinkunft, heute Abend nicht über dieses Thema zu sprechen.
Stattdessen reden wir darüber, wie man Bücher schreibt, über das Mysterium, wie Figuren und Geschichten im Kopf eines Schriftstellers zum Leben erwachen und wie man anschließend in Literaturseminaren an der Uni über diese Bücher und die vermuteten Intentionen des Autors diskutiert.
Serge Signac ist ein hervorragender Erzähler, aber er ist auch ein sehr guter Zuhörer. Es ist fast ein bisschen gewöhnungsbedürftig, so präsent und aufmerksam scheint er zu sein, wenn er mir zuhört. Die Blicke seiner smaragdgrünen Augen ruhen unverrückbar auf mir und geben mir das Gefühl, im absoluten Zentrum seines Interesses zu stehen.
»Sie fangen ja schon wieder an zu frieren«, stellt er irgendwann fest. »Wir können unsere Unterhaltung auch drüben am Kamin fortsetzen, finden Sie nicht?«
Also räumen wir den Tisch ab und es liegt ein seltsamer Zauber von Intimität und irritierender Normalität in dieser banalen Tätigkeit. Serge Signac reicht mir die Teller und Bestecke zu, während ich an der Spüle stehe, und hin und wieder berühren sich unsere Hände dabei. Es sind flüchtige, ganz beiläufige Berührungen und doch erzeugen sie ein aufregendes Kribbeln auf meiner Haut, das bis tief in meinen Körper strahlt.
»Bleiben wir beim Wein oder möchten Sie lieber einen Cognac?«, fragt Serge Signac, als wir fertig sind.
»Man könnte meinen, Sie wollen mich betrunken machen«, entgegne ich lachend. »Ich fürchte, ich hatte schon mehr als genug.«
»Sie müssen nicht mehr fahren und haben einen kurzen Weg ins Bett«, erwidert er und nimmt eine zweite Weinflasche von der Anrichte. »Also tun Sie mir bitte den Gefallen und trinken Sie noch ein Gläschen mit mir.«
Ich seufze. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass ich möglicherweise mitten in unserer Unterhaltung einschlafe. Rotwein hat diese Wirkung auf mich.«
Serge Signac lächelt auf diese höllisch attraktive Weise. »Ich denke, das werde ich zu verhindern wissen.«
Ich hebe skeptisch eine Augenbraue, verkneife mir aber die Frage, wie er das meint.
Dann gehen wir ins Wohnzimmer, wo er die beiden Sessel näher zum Kamin schiebt. Anschließend tritt er an das Board mit Papas heißgeliebtem und nebenbei bemerkt sündhaft teurem Clearaudio-Plattenspieler und die Art, wie er mit dem empfindlichen Schätzchen umgeht, verrät mir, dass er nicht zum ersten Mal ein solches Gerät bedient.
»Mögen Sie Bryan Ferry?«, fragt er über die Schulter, während er eine Platte aus ihrer knisternden Papierhülle zieht und sie behutsam auf den Plattenteller legt.
Ich nicke. Irgendwie scheinen mir Serge Signac und der britische Gentleman-Sänger perfekt zusammenzupassen. Doch anstelle der erwarteten Roxy-Music-Hits erklingt im nächsten Moment eine wunderbar nostalgische, von Bryan Ferry gesungene Version von As Time Goes By
.
Draußen ist es inzwischen dunkel geworden, aber es schneit noch immer unermüdlich weiter. Es ist unbeschreiblich gemütlich, bei dieser charmant altmodischen Musik am knisternden Feuer zu sitzen und in die kalte Winternacht hinauszublicken, während der tiefrote Wein in unseren Gläsern im Schein des Kaminfeuers geradezu magisch zu leuchten scheint.
Mir wird bewusst, dass ich seit beinahe zwei Stunden keinen Gedanken mehr an Théo und Inés verschwendet habe. Dieser Tag, der mit Théos Seitensprung und dem Schneesturm so katastrophal begonnen hat und sich anschickte, einer der schwärzesten meines bisherigen Lebens zu werden, hat eine so positive, geradezu märchenhafte Wendung genommen, dass ich es selbst kaum glauben kann.
»Woran denken Sie gerade, Mademoiselle Bélingard?«, erkundigt sich Serge Signac prompt. »Vorausgesetzt, diese Frage ist nicht zu indiskret.«
Ich schüttele den Kopf. »Ich dachte nur, dass ich vermutlich hier sitzen und mir die Augen aus dem Kopf weinen würde, wenn Sie nicht hier wären.«
»Nun, vielleicht ist das der Beginn einer wunderbaren Freundschaft«, entgegnet er grinsend.
Mon Dieu!
Die Art, wie er mich dabei ansieht, lässt mich augenblicklich erröten. Im flackernden Licht des Kaminfeuers wirken seine scharf geschnittenen Gesichtszüge mit den hohen Wangenknochen, der markanten Nase und den sinnlichen Lippen noch ausdrucksstärker.
»Ich will mich nicht in Ihre Angelegenheiten einmischen, aber der Kerl, der eine wunderschöne, kluge Frau wie Sie gehen lässt, muss ein Vollidiot sein und kann Ihre Tränen nicht verdient haben, Mademoiselle.«
Ich blicke ihn skeptisch an und öffne den Mund, um etwas zu erwidern, aber der Kloß in meinem Hals ist zu groß. Die Zärtlichkeit und die Aufrichtigkeit in seiner Stimme machen seine Worte zu einem der schönsten Komplimente, die ich je bekommen habe.
»Suchen Sie keinen Grund, mir zu widersprechen, Mademoiselle Bélingard. Was auch immer heute Vormittag in Nizza vorgefallen sein mag, ich bin überzeugt, dass nicht Sie die Schuld daran tragen. Und ich bin froh darüber, dass dieser crétin
nicht Manns genug war, Sie von der Dummheit abzuhalten, bei diesem Wetter hierher in die Berge zu kommen.«
»Ist das Ihr Ernst? Immerhin mache ich Ihnen Ihr Feriendomizil streitig und halte Sie von der Arbeit ab«, wende ich ein.
»Sie haben mich davon abgehalten, den ganzen Abend wie paralysiert auf einen blinkenden Cursor zu starren und ein paar nichtssagende Sätze zu tippen, die ich morgen wegen schlechter Schreibe wieder löschen müsste«, entgegnet Serge Signac achselzuckend und lächelt gequält. »Stattdessen durfte ich die Bekanntschaft einer hinreißenden Frau machen, in charmanter Gesellschaft zu Abend essen und eine geistreiche Unterhaltung führen. Das hatte ich hier oben in der Einöde nicht erwartet. Anders gesagt – Sie sind das Beste, das mir passieren konnte.«
Ich lächele. »Dann sind wir ja schon zwei.«
Und dann sieht er mich wieder auf diese Weise an, die meinen Herzschlag aus dem Takt bringt und es mir schwer macht, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Sie gefallen mir, Mademoiselle Bélingard. Sie gefallen mir sehr.«
Einen Moment lang vergesse ich glatt zu atmen und habe das Gefühl, mich in der smaragdgrünen Tiefe seiner Augen zu verlieren wie in einem magischen Dschungel.
Plötzlich klingelt Serge Signacs Handy.
Er räuspert sich und wirkt, als müsse auch er den Zauber des Moments abschütteln, um klar denken zu können.
»Sorry, das ist mein Lektor. Da muss ich kurz rangehen«, murmelt er mit einer Stimme die noch verdächtig rau und unkonzentriert klingt.
»Salut Jacques. Ja, wie du hörst, lebe ich noch und die Einöde beginnt mir durchaus zu gefallen.« Er erhebt sich auf diese geschmeidige Weise von seinem Sessel am Kamin und geht mit dem Telefon am Ohr nach nebenan in die Küche.
Ich sitze da, als hätte man mich unsanft aus einem schönen Traum gerissen und lausche Bryan Ferrys nostalgischer Version von Kurt Weils September Song
, der wie dazu geschaffen ist, seinen Gedanken nachzuhängen. Ich versuche meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen und die Hitze aus meinen Wangen zu vertreiben. Was da eben zwischen Serge Signac und mir geschehen ist, war wie Magie und es hat mich kalt erwischt.
Dann ist der Song zu Ende und es ertönt das vertraute Knistern und Rauschen am Ende der Plattenseite, das dazu auffordert, die LP umzudrehen oder zu wechseln. Im Nebenzimmer höre ich Serge Signac durch die angelehnte Küchentür leise reden. Ich stehe auf, um eine andere Platte aufzulegen, doch einem inneren Impuls folgend, gehe ich nicht zur Kommode, sondern zur Küchentür.
»Sie ist ein Flittchen, Jacques«, höre ich Serge Signac gerade sagen und erstarre. »Sie trägt dieses sexy Kleid, dieses betörende Parfum, diese mörderischen Schuhe, alles pure Berechnung. Sie lässt keinen Zweifel an ihren Absichten und sie wird bekommen, was sie will. Eine heiße Nacht, einen harten Fick, einen Mann, der ihr gibt, was sie braucht.«
Ich spüre, wie mir heiße Tränen der Scham in den Augen brennen. Wie habe ich mich nur so sehr in Serge Signac täuschen können? Wieder ist mein erster Gedanke, davonzulaufen. Doch diesmal ist das nicht so einfach. Mein Auto steckt in einer Schneewehe fest und ich komme hier vor morgen Vormittag nicht weg. Auf leisen Sohlen schleiche ich mich aus dem Wohnzimmer und eile die Treppe hinauf. Wenn ich schon gezwungen bin, die Nacht hier zu verbringen, will ich ihm wenigstens nicht mehr begegnen.
»Mademoiselle Bélingard?«, höre ich Serge Signac hinter mir rufen und es klingt regelrecht besorgt. »Wo wollen Sie denn plötzlich hin? Sie haben ja nicht einmal Ihren Wein ausgetrunken.«
Merde!
»Ich bin müde und gehe ins Bett«, bescheide ich ihn spröde. »Gute Nacht, Monsieur Signac.«
»Gute Nacht, Mademoiselle Bélingard«, erwidert er konsterniert. »Schlafen Sie gut und träumen Sie süß.«
Gut schlafen und süß träumen
– wie entsetzlich verlogen seine Höflichkeit plötzlich klingt.
Mit tränenverschleiertem Blick erreiche ich das kleine Schlafzimmer am Ende des Flurs. Ich ziehe die Tür hinter mir zu, lasse mich dagegen gelehnt zu Boden rutschen und verberge das Gesicht in meinen zitternden Händen.
Was für ein schrecklich beschissener Tag! Erst betrügt mich mein Freund mit meiner jüngeren Mitbewohnerin und dann nennt mich Serge Signac ein Flittchen, das nur auf Sex aus ist. Mir wird übel, als ich an seine Worte denke. Für ein paar Stunden hatte ich tatsächlich das Gefühl, das Schicksal könnte wenige Tage vor Weihnachten ein Einsehen haben und diesen Tag nicht so grausam enden lassen, wie er begonnen hat. Aber stattdessen wurde es nur noch schlimmer. Wie konnte ich mich nur zweimal an einem einzigen Tag so sehr in Männern täuschen? Théo kenne ich inzwischen seit sechs Jahren und hätte ihm niemals zugetraut, dass er mich so schamlos betrügen könnte. Serge Signac kenne ich seit gerade mal sechs Stunden. Wie konnte ich da glauben, diesen Mann einschätzen zu können? Wie konnte ich ihm vertrauen? Wäre nicht der Anruf dazwischengekommen, hätte an diesem Abend alles Mögliche passieren können und ich hätte es nicht nur zugelassen, ich hätte es gewollt. Ich hätte mit ihm geschlafen, wie er es vorausgesagt hat.
Brennend heiße Tränen der Scham und des Selbstmitleids rinnen mir über die Wangen.
Das Verwirrendste ist, dass ich die Tatsache, mich in Serge Signac getäuscht zu haben, als noch weitaus schmerzhafter empfinde als Théos Treuebruch. Was sagt es über meine Beziehung zu Théo aus, wenn mich die Worte eines wildfremden Mannes mehr zu verletzen vermögen als der schamlose Seitensprung meines Freundes? Und was sagt es über Serge Signac aus? Im Grunde waren die Stunden mit ihm zu perfekt, um wahr zu sein. Der Tee am Kamin, das Essen bei Kerzenschein, die alte Bryan-Ferry-Platte. Nichts davon wäre Théo jemals in den Sinn gekommen. Doch statt misstrauisch zu werden, fühlte ich mich geschmeichelt von Serge Signacs Aufmerksamkeit, seiner geistreichen Plauderei, seinem charismatischen Charme. Dabei ist er nicht anders als die anderen, nur geschickter. Er ist ein kultivierter Chauvinist, genau wie sein literarisches Alter Ego Jean-Luc Truffaut.
Als ich mich irgendwann durchgefroren und mit schmerzenden Gliedern aufraffe, mich auszuziehen und ins Bett zu kriechen, bin ich hundemüde und fühle mich wie erschlagen. Lautlose Tränen begleiten mich in den Schlaf.