Montag, 22. Dezember
N och ehe ich die Augen aufschlage, atme ich den exotischen und inzwischen so wohlvertrauten Duft nach erdigen Hölzern, würzigen Kräutern und frischer Bergamotte und lausche dem gleichförmigen Klackern der Computertastatur ganz in meiner Nähe. Kaum zu glauben, dass ein Geruch und ein Geräusch genügen, um dieses Gefühl tiefster Entspannung und wohliger Behaglichkeit zu erzeugen. Ich kuschele mich in die weiche Federdecke, an der Serges Geruch haftet, und lasse den gestrigen Tag Revue passieren. Ich denke an unser Abenteuer im Schnee, daran, wie wir uns in der Badewanne geliebt haben und wie Serge mich anschließend so zärtlich in ein großes Handtuch gehüllt und trocken gerieben hat. Ich denke an unseren gemütlichen Adventsnachmittag am Kamin, an das gemeinsame Kochen und daran, wie wir spätabends bei einem Glas Rotwein zu den Klängen von Eric Claptons Weihnachtsalbum den Sapin de Noël geschmückt haben. Ich habe noch immer den frischen Tannenduft und den leicht muffigen Geruch der alten Kisten und Schachteln in der Nase und das Rascheln des Seidenpapiers im Ohr, als wir die nostalgischen Reflexkugeln, die buntgläsernen Glöckchen und kleinen Vögelchen mit ihrem bunten Gefieder ausgewickelt haben. Viele davon stammen noch von meiner Großmutter, die im lothringischen Metz aufgewachsen ist, andere haben Maman und ich über die Jahre auf Antik- und Trödelmärkten erstanden. Für mich war es ein Schwelgen in Erinnerungen, für Serge offenbar eine Reise in seine Kindheit. Ich spüre, wie sich meine Lippen unwillkürlich zu einem Lächeln verziehen, als ich an das kindliche Leuchten in seinen Smaragdaugen denke, als er die kleinen Vögel behutsam auf den Astgabeln verteilte.
»Lass mich teilhaben an deinen süßen Gedanken, chérie «, bittet Serge mit sonorer Stimme.
Ich blinzele und sehe erst jetzt, dass er gegen das Betthaupt gelehnt mit dem Laptop auf dem Schoß neben mir im Bett sitzt. Mit verwuscheltem Haar und freiem Oberkörper sieht er einfach unverschämt attraktiv aus.
»Guten Morgen«, murmele ich und reibe mir die Augen. »Wie kommst du auf die Sache mit den süßen Gedanken?«
»Du hast gerade so versonnen gelächelt, dass man kein Hellseher sein muss, um zu erraten, dass dir etwas sehr Sinnliches durch den Kopf gegangen sein muss.«
Ich grinse. »Wenn du das Schmücken des Sapin de Noël als erotischen Gedanken einstufst, liegst du richtig.«
»Daran hast du gedacht?«, fragt er und stellt sein Notebook auf den Nachttisch.
Ich nicke. »Genauer gesagt, an deine kindliche Begeisterung beim Platzieren der Vögelchen auf den Ästen.«
Serge sieht mich stirnrunzelnd an. »Meine kindliche Begeisterung?«
»Die war nicht zu übersehen, Serge. Du hattest diesen besonderen Glanz in den Augen, wie ein kleiner Junge an Weihnachten.«
Serge lächelt. »Das ist dir aufgefallen?«
»Klar ist mir das aufgefallen. Es hat mich sehr berührt.«
Er streicht mir zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und setzt einen weichen Kuss auf meine Stirn. »Du bist eine faszinierende Frau, Julie Bélingard, und eine gute Beobachterin. Vielleicht solltest du die Bestseller schreiben.«
»Das überlasse ich lieber dir«, entgegne ich grinsend.
»Diesen alten Baumschmuck, die schillernden Kugeln mit dem silbrigen Innenleben und die kleinen Vögel, habe ich seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen. Das war wie eine Zeitreise.«
»Ja, das war es für mich auch«, erwidere ich lächelnd und dehne meine Schultern. »Aber ich wette, du hast nicht über das Schmücken des Sapin de Noël geschrieben.«
Serge schüttelt den Kopf und reicht mir sein Notebook.
Jean-Luc Truffaut betrachtete die schöne junge Frau, die mit aufgelöstem blondem Haar neben ihm im Bett lag und friedlich schlief. Er atmete tief ein und inhalierte ihren Duft nach Jasmin und Tuberose, der sich an diesem Morgen mit den dekadenten Gerüchen von Sex und Champagner mischte. Juliette hatte das zartgeschnittene Gesicht eines Engels und den Körper einer Göttin. Das weiße Laken gab ganz zufällig den Blick auf eine ihrer bezaubernden Brüste frei, umschmeichelte ihre schmale Taille und straffte sich über der betörenden Wölbung ihrer Hüfte. Truffaut spürte ein verlangendes Ziehen in seinen Lenden, als er an die magische Nacht zurückdachte, die er mit ihr verbracht hatte. Ihre Liebeskunst war nicht von dieser Welt. Juliette hatte ihn an den Abgrund geführt und ihm das Paradies gezeigt. Sie hatte ihn mit Haut und Haaren verschlungen, seinen Körper und seinen Geist gleichermaßen in Besitz genommen. Sein Instinkt und sein Verstand rieten ihm, sich von dieser Frau fernzuhalten, die ganz sicher auf der Gehaltsliste von Bluebeard stand und die ihm nur Morgan Sachs ins Bett gelegt haben konnte. Und doch war er ihr verfallen. Schon in dem Augenblick, als er sie auf dem Empfang erblickt hatte und sie in ihrer grünen Seidenrobe dastand wie eine Leinwandgöttin, erhaben und ein wenig entrückt, hatte er gewusst, dass diese Begegnung sein Schicksal besiegeln würde.
Damit endet der letzte Absatz des Manuskripts.
»Wow«, murmele ich verzaubert.
»Ich hoffe, du verzeihst mir, dass ich dich beim Schlafen beobachtet habe.«
Ich spüre, wie ich wieder einmal erröte, als mir bewusst wird, dass ich es bin, die er in dieser Szene beschrieben hat; dass es mein Körper ist, den Truffaut und sein Autor begehren.
»Klingt so, als hätte Truffaut diesmal wirklich etwas für das Mädchen übrig«, sage ich mit belegter Stimme.
»Es ist, wie er sagt. Er ist ihr mit Haut und Haaren verfallen – ihrer Schönheit, ihrem Charme, ihrer schnellen Auffassungsgabe. Und das schon seit ihrer ersten Begegnung«, erklärt Serge und sieht mir dabei so intensiv in die Augen, dass ich mich frage, ob er von sich oder von seiner Romanfigur spricht. Er lässt seine Worte wirken, ehe er hinzufügt: »Truffaut ist ein messerscharfer Analytiker, der genau weiß, dass Juliette ein doppeltes Spiel spielt und ihn manipuliert. Er kennt das Risiko und kommt doch nicht gegen seine Gefühle an. Das ist neu für ihn. Sie ist seine Irene Adler.«
»Seine Irene Adler?«, frage ich grinsend.
Serge nickt. »Du warst es doch, die Truffaut als eine Mischung aus James Bond und Sherlock Holmes charakterisiert hat. Juliette ist für ihn die Frau , die alles verändert.«
❄❄❄
»Ich kann dir leider nur noch ein paar Kekse zum Kaffee anbieten«, erklärt Serge entschuldigend, als wir später zusammen in der Küche sitzen. »Unsere Vorräte gehen allmählich zur Neige. Die Croissants sind aufgegessen, die Milch aufgebraucht, Eier, Brot und Käse haben wir auch nicht mehr.«
Ich sehe aus dem Küchenfenster, wo der Schnee noch genau so hoch liegt wie am Vorabend. An eine Autofahrt nach Briançonnet zum Einkaufen ist noch immer nicht zu denken.
»Es gibt einen kleinen Bauernhof, einen knappen Kilometer nordöstlich von hier«, erwidere ich grübelnd. »Da haben wir als Kinder Milch und Eier geholt.«
»Nun, dann sollten wir hoffen, dass man dort ein Herz für eingeschneite Städter hat«, entgegnet Serge und grinst schief.
»Davon kannst du ausgehen«, antworte ich lachend. »Tante Amélie und Onkel Bernard werden uns ganz sicher nicht verhungern lassen.«
»Das sind Verwandte von dir?«
Ich schüttele den Kopf. »Nur freundliche alte Leutchen aus der Nachbarschaft  mit einem kleinen Bilderbuch-Hof. Als Fünfjährige fand ich es ganz toll, die Ferkel zu streicheln und die Hühner zu jagen.«
Serge grinst. »Das kann ich mir bei dir gar nicht vorstellen.«
»Das mit den stinkenden Ferkeln oder das mit den armen Hühnern?«, frage ich lachend.
»Ganz generell, dass du in einem Stall gespielt hast.«
Ich grinse. »Ich bin keine Prinzessin, Serge. Mein Spielzimmer war ein Künstleratelier. Pascal und ich durften alles ausprobieren und sollten immer unsere eigenen Erfahrungen machen – auch mit Zigaretten, Alkohol und Drogen.«
»Und hast du deine Erfahrungen gemacht, Julie?«
»Ja, aber nicht besonders exzessiv. Rückblickend war das wohl ein sehr cleveres Erziehungskonzept. Ohne Verbote und Reglementierungen verlieren die Dinge sehr schnell an Reiz.«
»Auch in sexueller Hinsicht?«, fragt Serge und sieht mir forschend in die Augen.
Ich lächele ihn offenherzig an. »In sexueller Hinsicht werden sie gerade täglich reizvoller.«
Und dann machen wir uns bereit für unsere nächste Expedition in die Zauberwelt der verschneiten Seealpen. Auch an diesem Vormittag scheint die Sonne bei eisigen Temperaturen und lässt das Panorama der schneebedeckten Gipfel vor azurblauem Himmel filmreif erstrahlen.
»C’est canon!« , ruft Serge begeistert aus. »Was für ein sagenhafter Fernblick!«
Tatsächlich wirken die Berge heute so nah und gestochen scharf wie selten. Im Moment ist es absolut windstill und es ist kein Wölkchen am Himmel zu sehen. Aber wie schnell das Wetter hier oben umschlagen kann, haben wir in den letzten Tagen ja zur Genüge erlebt.
Mein roter Fiat lugt aus dem Schnee heraus wie ein Fliegenpilz. Der geschotterte Privatweg, der zu unserem Chalet führt, ist unter den Schneemassen ebenso wenig auszumachen wie das schmale Sträßchen, das Amélies und Bernards Hof normalerweise mit der Zivilisation verbindet. Allerdings ist die Schneedecke heute kompakter und stabiler als gestern, sodass man nicht mehr so sehr einsinkt und etwas leichter voran kommt. Also stapfen wir querfeldein über die Bergwiese und an dem malerisch mäandernden Wildbach entlang, an dem Pascal und ich früher Dämme gebaut haben.
Gesäumt von strahlend weißem Schnee glitzert das kristallklare Bergwasser noch mehr als in jeder anderen Jahreszeit. An den Bruchkanten, an denen das rauschende Bächlein züngelt, schimmert der Schnee in eisigem Türkisblau.
Immer wieder bleiben wir stehen, um die Winterwunderwelt um uns herum mit allen Sinnen zu genießen. Wir atmen die frische Bergluft, lauschen dem Murmeln des Wassers und lassen uns die Wintersonne ins Gesicht scheinen.
»Sieh mal! Ein Schneehase! Oh ist der putzig«, wispere ich verzückt und deute auf das flauschige weiße Kaninchen mit den schwarzen Ohrenspitzen, das nur ein paar Meter von uns entfernt am gegenüberliegenden Ufer im Schnee sitzt und uns aufmerksam anblickt. Die langen Ohren sind konzentriert aufgestellt, das kleine graue Näschen ist ununterbrochen in Bewegung. Beim Versuch, möglichst geräuschlos mein Smartphone hervorzuholen, mache ich einen unachtsamen Schritt nach vorn, trete ins Leere und gleite aus. Merde! Ich rudere mit den Armen und sehe mich schon bäuchlings, Gesicht voran im Bachlauf liegen. Mein spitzer Schrei vertreibt das possierliche Tier, das aufgeschreckt davon hoppelt, doch Serge ist im selben Augenblick bei mir und fängt mich noch im Sturz, sodass ich in seinen Armen und nicht im eiskalten Wasser lande.
»Merci!« , keuche ich und klammere mich an ihn.
»Nichts zu danken, mein kleiner Schneehase«, entgegnet er schmunzelnd und küsst mich zärtlich. »Ich hoffe, du hast dir nicht wehgetan?«
Ich schüttele den Kopf, während er mich noch immer festhält. »Dank dir bin ich ja um das Bad im eisigen Wildbach herumgekommen.«
Von nun an greift Serge, wo immer der Weg abschüssig oder das Gelände ein wenig unwegsam wird, schon vorsorglich nach meiner Hand, damit ich nicht stürze.
Wir nehmen die Abkürzung durch den kleinen Lärchenhain, der von stattlichen alten Zirbelkiefern durchwachsen ist. Die knorrigen Baumriesen, deren unter der Schneelast heruntergebrochenen Äste so gut duften, wirken in ihrem Winterkleid noch bizarrer.
Und dann taucht umgeben von schneebedeckten Feldern der Hof vor uns auf. Es handelt sich um ein schlichtes, langgezogenes Haupthaus aus grobem Naturstein, wie es in der Gegend so typisch ist, das zusammen mit einem unverputzten Nebengebäude, dem Stall und der Scheune einen kleinen Innenhof einrahmt. Der Schnee türmt sich gefährlich hoch auf den flachen Dächern der Gebäude und zur Straße hin, wo man ihn zu einem bedrohlichen Wall aufgetürmt hat, um wenigstens Teile des Hofes begehbar zu halten. Die rostigen Dachrinnen wirken wenig vertrauenserweckend und die Tore und Fensterläden könnten dringend einen neuen Anstrich gebrauchen. Von der hellblauen Farbe, mit der sie einst gestrichen waren, ist kaum noch etwas übrig und die Reste davon blättern in großen Stücken vom Holz. Der kleine Hof hat zweifellos schon bessere Zeiten gesehen und doch strahlt er selbst in dieser Jahreszeit einen rauen, urwüchsigen Charme aus.
Eine schmale Außentreppe mit einem rostigen Handlauf parallel zur Hauswand führt hinauf zur Wohnung von Amélie und Bernard. Die Pergola, die im Sommer voller Blumen steht und von üppigen Glyzinien und Bougainvillien überwuchert wird, ist jetzt winterfest gemacht und ein großer Mistelzweig an der Haustür weist darauf hin, dass bald Weihnachten ist.
Serge lässt mir den Vortritt und bleibt zwei Stufen unter mir auf der Treppe stehen, während ich klingele.
»Julie?« Die kleine rundliche Frau, die im Türrahmen erschienen ist, rückt ihre Brille zurecht und wischt sich die Hände an ihrer blauen Schürze trocken. Sie trägt ein weiß-blau gepunktetes Kleid und ein ebensolches Kopftuch, das sie in traditionell bäurischer Manier um den ergrauten Kopf geknotet hat.
»Tatsächlich, meine kleine Julie!«, ruft sie erfreut aus, obwohl ich sie um mehr als eine Kopflänge überrage.
»Salut Tante Amélie«, sage ich und erwidere ihre herzliche Umarmung und die drei schmatzenden Wangenküsse.
»Dass du dich mal blicken lässt. Und das bei diesem Wetter! Lass dich erst mal anschauen, Kindchen. Hübsch siehst du aus, aber ein bisschen blass um die Nase.« Sie kneift mir beinahe schmerzhaft in die Wange. »Und zu dünn. Immer noch viel zu dünn.«
Dann erst scheint sie Serge wahrzunehmen.
»Und du hast endlich geheiratet!«, ruft sie verzückt aus.
»Nein, wir sind nicht verheiratet«, erkläre ich schnell. »Das ist Monsieur Signac. Er hat über den Winter unser Chalet gemietet.«
Tante Amélie sieht skeptisch zwischen uns hin und her, ehe sie Serge die Hand gibt.
»Monsieur.« Ihre Stimme klingt mit einem Mal reserviert.
»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Madame«, sagt Serge und küsst formvollendet ihre Hand.
»Ach, nicht doch«, murmelt Tante Amélie und wird tatsächlich ein bisschen rot im Gesicht. »Ich habe doch gerade Kartoffeln geschält. Jetzt kommt erst mal schnell rein, ehe ihr noch krank werdet.«
Mit dem Handkuss hat Serge ihr Herz im Sturm erobert.
Wir folgen Tante Amélie durch den düsteren Flur in die große Wohnküche, die ich schon als Kind so heimelig fand und in der es auch heute verführerisch nach deftiger Hausmannskost duftet. Der rustikale Natursteinboden, die grob getünchten Wände und die freiliegenden Deckenbalken, von denen kunstvoll gebundene Zöpfe mit bunten Peperoni, Zwiebeln und Knoblauch herabhängen, verleihen dem Raum eine urgemütliche Atmosphäre. Da gibt es den alten Küchenschrank mit dem offenen Tellerregal, den wunderschönen emaillierten Kohleherd, der denen aus Puppenhäusern gleicht, und natürlich den großen Küchentisch.
»Meine Güte, Julie«, sagt Tante Amélie und tätschelt meine Hand. »Wie lange ist das her?«
»Fünf oder sechs Jahre«, schätze ich.
»Ja. Damals war gerade unser Philippe geboren worden«, grübelt sie und nickt bedächtig mit dem Kopf. »Danach kam die kleine Aurelie. Inzwischen ist Nummer vier unterwegs.«
Ich nicke anerkennend. »Wow.«
Sie zeigt auf eines der Familienfotos, die in blitzblank polierten Messingrahmen sorgfältig aufgereiht auf der Ablage hinter der Eckbank stehen. »Das ist unser Edouard mit seiner Familie. Du kennst Edouard doch noch?«
Das Bild zeigt einen untersetzten Enddreißiger mit schütterem Haar, eine schwangere Frau mit freundlichem Gesicht und drei hellblonde Kinder von etwa drei, sechs und zehn Jahren. Ehrlich gesagt bin ich ein bisschen erschüttert, wie sehr Edouard, den ich noch als draufgängerischen Bauernjungen im Gedächtnis habe, gealtert ist und wie abgearbeitet er aussieht.
»Natürlich kenne ich ihn noch«, entgegne ich lächelnd. »Er hat mich doch immer die Ferkel streicheln lassen.«
»Ja, ja.« Tante Amélie lächelt verklärt. »Das waren noch Zeiten. Mittlerweile wohnen sie seit fast zehn Jahren in Marseille. Der Hof wirft einfach zu wenig ab, um eine Familie zu ernähren.«
Und dann kommt Onkel Bernard mit Filou herein.
Der schwarzweiße Border Collie begrüßt uns schwanzwedelnd, während Onkel Bernard seine karierte Schiebermütze abnimmt. Er ist ein kleiner gedrungener Mann mit einer markanten schwarzen Brille, um dessen Mundwinkel trotz der harten Arbeit immer ein verschmitztes Lächeln spielt.
»Welcher Glanz in dieser Hütte! Unsere kleine Julie!«, ruft er aus und umarmt mich herzlich in seiner gewohnt zupackenden Art. »Das ist ja eine Überraschung!«
»Das ist Monsieur Signac. Sie sind nicht verheiratet«, erläutert Tante Amélie beflissen, ehe sich die beiden Männer die Hand schütteln.
»Freut mich«, sagt Onkel Bernard, als hätte er den Einwurf seiner Frau gar nicht gehört. »Sie kommen also vom Chalet der Bélingards rüber gelaufen, hm?«
Serge nickt. »Wir wurden von dem plötzlichen Wintereinbruch überrascht.«
»Ja, der hat uns dieses Jahr alle überrascht, mein Junge. Kalt erwischt hat er uns, könnte man sagen. Seit Tagen geht hier nichts mehr.«
»Das Wetter wird immer extremer«, fügt Tante Amélie kopfschüttelnd hinzu. »Immer extremer.«
»Wir sind in der cabane über Nacht buchstäblich eingeschneit«, berichte ich. »Mein Auto steckt seit Freitag im Schnee fest und wir kommen nicht einmal nach Briançonnet, um ein paar Lebensmittel einzukaufen.«
»Da mach' dir mal keine Sorgen, Julie«, entgegnet Bernard lachend. »Zu essen haben wir genug. In Vorratshaltung ist meine Frau unerreicht. Damit bringen wir euch notfalls bis zum nächsten Frühjahr durch.«
»Na, verhungern wird hier keiner. Soviel steht fest«, bestätigt Amélie. »Und frisches Baguette habe ich auch gerade gebacken.«
»Amélie, hast du den beiden noch gar keinen Platz angeboten?«, rügt Onkel Bernard seine Frau und fügt an uns gewandt hinzu: »Setzt euch doch. Ich hole uns eine Flasche Wein.«
Also nehmen wir auf der Eckbank Platz, während sich Filou herzhaft gähnend in sein Körbchen neben dem Ofen zurückzieht.
Ich erkundige mich nach Tante Amélies Hüftleiden und sie will wissen, wie es Maman, Papa und Pascal geht.
»Und Pascal und du seid immer noch beide an der Universität, Julie?«
»Ja, ich arbeite inzwischen dort und versuche nebenbei zu promovieren.«
Tante Amélie runzelt die Stirn. »Aber geht das denn überhaupt, ohne verheiratet zu sein? Habt ihr denn alles andere probiert, Liebes? Manchmal braucht es einfach seine Zeit …«
Jetzt bin ich es, die irritiert die Stirn runzelt.
»Julie will sagen, dass sie an ihrer Doktorarbeit schreibt, Madame«, kommt mir Serge zu Hilfe.
»Sie sagte promovieren. Nicht adoptieren, Amélie«, korrigiert Onkel Bernard seine Frau und stellt vier Weingläser auf den Tisch, ehe er uns einen provenzalischen Rotwein aus einer für diese Region so typischen bauchigen Flasche einschenkt. Es ist ein süffiger, vollmundiger Landwein, der in meinem fast leeren Magen umgehend für ein flaues Gefühl sorgt.
»Und was machen Sie beruflich?«, will Tante Amélie von Serge wissen.
»Ich bin Schriftsteller, Madame.«
»Schriftsetzer? Ach ja, auch so ein aussterbender Beruf, nicht wahr?«
Diesmal kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen.
»Schriftsteller, Tante Amélie«, wiederhole ich etwas lauter. »Serge schreibt Bücher, Kriminalromane.«
»Sie hat neuerdings ein Hörgerät«, flüstert mir Onkel Bernard zu und seufzt. »Aber sie schont es.«
Dann wendet er sich an Serge. »Kriminalromane also. Die lese ich gern, wenn ich mal dazu komme. Kennt man denn etwas von Ihnen?«
»Serge ist der Autor der Professor-Truffaut-Romane, die sie in Hollywood verfilmen«, komme ich Serge zuvor.
»Sie sind das? Serge Signac?«, fragt Onkel Bernard mit leuchtenden Augen. »Bon Dieu! Wir haben einen echten Prominenten zu Gast, Amélie!«
»Ich schreibe nur Bücher, Monsieur«, stapelt Serge tief, doch da ist Onkel Bernard schon aufgesprungen und aus dem Zimmer geeilt.
Als er zurückkommt, hat er eine zerlesene Taschenbuchausgabe von Serges erstem Truffaut-Roman Hitzetod in der Hand, einem Thriller über den Klimawandel.
»Es ist nicht mehr so ansehnlich. Aber vielleicht könnten Sie trotzdem …«
»Es signieren?«, fragt Serge lächelnd.
»Ja, das war das Wort, das mir gerade nicht einfiel.«
»Sicher, Monsieur. Soll ich etwas Bestimmtes schreiben?«
Onkel Bernard schüttelt den Kopf. »Sie sind doch der Schriftsteller.«
Und dann zückt Serge einen edlen Montblanc-Kugelschreiber, den er vermutlich immer dabei hat, und verfasst in einer beeindruckend markanten Handschrift eine längere persönliche Widmung.
»Vielen Dank, Monsieur Signac.« Onkel Bernard drückt das Buch an sich. »Das ist mein erstes signiertes Buch, wissen Sie? Das ist jetzt richtig wertvoll, oder?«
»Nur ein bisschen«, entgegnet Serge mit diesem aufrichtigen Lächeln auf den Lippen. »Wenn Sie möchten, schicke ich Ihnen meinen neuen Roman, sobald er erschienen ist.«
»Das würden Sie tun? Einfach so?«
Serge nickt. »Sicher. Meine Sekretärin wird sich darum kümmern.«
Und dann überreden Tante Amélie und Onkel Bernard uns zum Essen zu bleiben. Es gibt geschmortes Kaninchen mit Rosmarin und schwarzen Oliven, ein typisch provenzalisches Gericht, und es duftet verlockend.
Als Tante Amélie den schweren gusseisernen Bräter aus dem Ofen holt, können wir uns davon überzeugen, dass es mindestens ebenso gut aussieht, wie es duftet, und dass es noch fantastischer schmeckt. Das Kaninchen ist butterzart und verfeinert mit hauseigenem Chili, Knoblauch und Rosmarin schmecken das Fleisch und die mitgeschmorten Drillingskartoffeln einfach göttlich.
Serge und ich loben Tante Amélies Kochkünste und wir plaudern über das Wetter, die Schriftstellerei, die Politik; über Klimawandel, Flüchtlinge und darüber, was die EU-Bürokratie in Brüssel für Kleinbauern wie sie bedeutet. Tante Amélie und Onkel Bernard sind einfache Leute, die ihren Hof und das Bergdorf im provenzalischen Hinterland abgesehen von einigen Ausflügen ans Meer kaum je verlassen haben. Und doch sind sie interessierte, aufgeschlossene Menschen voller Empathie und Herzenswärme.
Zum Dessert gibt es gegrillte Rosmarinpfirsiche mit Akazienhonig, die Tante Amélie auf dem Herd brät. Der ganze Raum ist erfüllt vom weihnachtlichen Duft nach karamellisiertem Obst und das Ergebnis ist absolut köstlich.
Später, als ich Amélie beim Abwasch helfe, kommen wir noch einmal auf den Grund unseres Besuchs zu sprechen.
»Haben Sie schon einmal eine Kuh gemolken, Monsieur Signac?«, fragt Onkel Bernard und grinst beinahe spitzbübisch.
Serge schüttelt den Kopf. »Ich bin ein Pariser Stadtkind, Monsieur. Bei uns kam die Milch immer aus der Tüte.«
»Dann kommen Sie mal mit, mein Junge. Vielleicht können Sie das ja in ihrem nächsten Buch verarbeiten.«
Serges Smaragdaugen leuchten ungefähr so sehr wie beim Schmücken des Sapin de Noël, als er seinen Dufflecoat anzieht und Portemonnaie und Smartphone auf den Küchentisch legt. Dann folgt er Bernard in den Stall und Filou trottet hinterdrein.
»Ihr seid ein hübsches Paar, du und Monsieur Signac«, sagt Amélie, als wir allein sind und bei einem hausgemachten Génépi zusammensitzen.
»Wir sind kein Paar, Tante Amélie«, wehre ich ab. »Wir kennen uns ja erst seit ein paar Tagen.«
»Du bist dir seiner nicht sicher?«, fragt sie und sieht mich forschend an.
Ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was das zwischen Serge und mir ist. Es ist wie ein wunderschöner Traum und ich habe Angst aufzuwachen. Er ist ein weltberühmter Schriftsteller und führt ein Jetset-Leben jenseits meiner Vorstellungskraft. Ich weiß nicht, ob ich mehr für ihn bin, als ein Urlaubsflirt und ein willkommener Zeitvertreib.«
»Ach, Kindchen.« Tante Amélie drückt meine Hand. »Wie er dich ansieht, spricht Bände, Julie. Wie ihr einander anseht und gegenseitig eure Sätze vollendet. Ihr wirkt so frisch verliebt und gleichzeitig sehr vertraut miteinander. Glaub einer alten Frau: Ihr werdet heiraten und wunderhübsche Kinder haben. Du wirst schon sehen.«
In diesem Moment vibriert Serges Smartphone neben mir auf der Tischplatte.
Mehr einem Reflex denn einer bewussten Entscheidung folgend, werfe ich einen Blick auf die aufleuchtende Nachricht.
Hast du die Einsiedelei nicht allmählich satt? Komm nach Hause, Sergei. Paris und ich vermissen dich!
Das Foto neben dem Textfeld zeigt eine grünäugige Schönheit mit dunkelbraunen Traumlocken.
Das Lächeln, das ich eben noch auf den Lippen hatte, gefriert, sodass meine Mundwinkel schmerzen. Eine unangenehme Mischung aus Hitze und Kälte durchfährt mich. Er hat eine Geliebte in Paris. Natürlich hat er eine Geliebte in Paris. Vielleicht sogar mehrere. Wie habe ich nur so grenzenlos naiv sein können?
»Julie? Hörst du mir überhaupt zu, Liebes?«
Ich höre Tante Amélies Stimme wie von Ferne und habe Schwierigkeiten, mich auf den Sinn ihrer Worte zu konzentrieren.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragt sie besorgt.
»Nein, Tante Amélie«, höre ich mich selbst sagen und ringe mir erneut diese zittrige Kopie eines Lächelns ab.
»Aber du siehst plötzlich so blass aus, Kindchen. Ist dir nicht gut?«
»Ich fürchte, die Kombination aus Wein und Likör bekommt mir nicht so gut«, lüge ich.
»Aber der Génépi ist das beste Mittel gegen Magenschmerzen und Verdauungsprobleme, Julie. Willst du nicht noch einen trinken?«
»Merci . Aber ich glaube, das wäre wirklich keine gute Idee, Tante Amélie.«
Plötzlich will ich nur noch hier weg. Raus aus diesem Haus, raus aus dieser Schneewüste und vor allem weg von Serge.
❄❄❄
»Ich habe soeben eine ganze Kindheit auf dem Land nachgeholt«, berichtet Serge freudestrahlend, als er die Küche betritt, und präsentiert mir triumphierend einen Korb voller Leckereien, die uns locker bis ins neue Jahr ernähren könnten. »Ich habe Ferkel und Kaninchen gestreichelt, einen Käse gebürstet und den Hühnern die Eier geklaut. Nur das mit dem Melken habe ich mich nicht getraut.«
»Na, da hast du ja wirklich etwas zu erzählen, wenn du zurück in Paris bist«, entgegne ich polemisch.
Serge sieht mich stirnrunzelnd an, ehe er Portemonnaie und Smartphone einsteckt, ohne die Nachricht eines Blickes zu würdigen.
Tante Amélie besteht darauf, uns noch frisch gebackenes Baguette und selbstgemachte Butter mitzugeben, dann dränge ich mit Verweis auf das unbeständige Wetter zum Aufbruch.
Ich umarme Onkel Bernard und Tante Amélie zum Abschied und trotz allem berührt es mich, zu beobachten, wie herzlich sich auch Serge von den beiden verabschiedet. Da ist nichts Gekünsteltes oder gar Überhebliches an der Art, wie er mit Menschen umgeht. Für einen Mann, dessen Romane sich millionenfach verkaufen und der Jahre in Hollywood verbracht hat, ist er verblüffend bodenständig geblieben. Was aber leider nichts daran ändert, dass er offenbar nichts anbrennen lässt.
Auf dem Rückweg zum Chalet rede ich nur das Nötigste mit Serge. Die meiste Zeit stapfe ich schweigsam hinter ihm her und hänge meinen trüben Gedanken nach.
Plötzlich bleibt er stehen und dreht sich zu mir um. »Was ist los mit dir, Julie? Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen?«
Ich sehe ihn verwundert an, als wüsste ich nicht, wovon er spricht.
»Ich merke doch, dass etwas nicht stimmt. Seit ich mit Bernard im Stall war, bist du wie ausgewechselt. Ich bekomme nur noch bissige Einwort-Antworten von dir. Was habe ich verkehrt gemacht, Mademoiselle Bélingard?«
Ich kräusele die Lippen. Ich weiß einfach nicht, wie ich ihm sagen soll, dass ich diese Textnachricht gesehen habe. Egal, wie ich es anstelle, wird es aussehen, als ob ich ihm nachspioniert und sein Handy kontrolliert hätte. Damit hätte ich den Schwarzen Peter und er jeden Grund, mich zu verurteilen. Und er hätte Recht damit. Diese Nachricht geht mich nichts an, ebenso wenig wie seine Liebschaft in Paris. Schließlich hat er mir mit keinem Wort zu verstehen gegeben, dass das hier mehr für ihn ist, als ein romantischer Urlaubsflirt. Worte wie Beziehung, Zukunft oder gar Liebe hat er nie in den Mund genommen. Nein, er hat mir keine falschen Hoffnungen gemacht. Ihn trifft im Grunde keinerlei Schuld. Das Einzige, was ich ihm vorwerfen kann, ist, mir nichts von dieser Frau erzählt zu haben. Aber ich habe ihn auch nicht danach gefragt. Vielleicht wollte ich es einfach nicht wissen. Nicht wahrhaben, dass ein Mann wie Serge Signac nach seiner Scheidung ganz bestimmt nicht wie ein Mönch gelebt und nur darauf gewartet hat, dass eine betrogene Literaturwissenschaftlerin ihn aus seiner selbstgewählten Einsamkeit befreit. Alles, was ich mir über diese Affäre hinaus ausgemalt, erträumt und zusammenfantasiert haben mag, ist allein mein Problem und nicht seines.
»Nichts«, sage ich. »Du hast nichts verkehrt gemacht, Serge.«
Ich stapfe an ihm vorbei und verzichte darauf, seine Hand zu ergreifen, als der Weg abschüssig wird. Diesmal habe ich keinen Sinn für die Schönheit der schneebedeckten Landschaft, den Duft der Zirben, das Glucksen des kristallklaren Baches oder für das süße, kastanienrote Eichhörnchen, das vor uns einen Baum hinauf huscht.
Als wir aus dem Tannenwäldchen heraustreten, in dem Serge gestern Morgen den Sapin de Noël geschlagen hat, setzt plötzlich ein ohrenbetäubendes Getöse ein.
Wir beide blicken erschrocken zum Himmel, wo ein Helikopter Kurs auf unsere Bergwiese nimmt.
»Der will landen! Der will tatsächlich hier landen«, schreie ich verblüfft gegen den Höllenlärm an, ehe ich wegen des gewaltigen Schneesturms verstumme, den die Rotorblätter erzeugen.
Geradezu reflexartig schließt Serge die Arme um mich und schirmt mich mit seinem Körper so gut es geht gegen den aufgewirbelten Schnee ab, der wie eine Windhose über uns hinwegfegt und wie ein eisiger Sandsturm auf uns einprasselt. Ich schließe die Augen und verberge das Gesicht an seiner Brust, um den frostigen Geschossen zu entgehen.
Als sich Krach und Sturm allmählich legen und ich wieder atmen kann, riskiere ich blinzelnd einen Blick.
Der Hubschrauber ist etwa dreißig Meter von uns entfernt mitten auf der schneebedeckten Wiese gelandet. Die Rotoren stehen jetzt fast still und die Türen öffnen sich. Ich komme mir vor wie in einem James-Bond-Film, als ein Mann im schwarzen Anzug und zwei langbeinige Blondinen mit neckischen weißen Fellmützen aus dem Helikopter klettern.
»Serge!«, ruft der Typ im Maßanzug und winkt überschwänglich mit beiden Armen.
»Das ist Antoine, mein Agent«, knurrt Serge, als wir uns dem UFO nähern.
»Was machst du hier?«, brüllt er dem anderen entgegen.
»Na, dich abholen, mein Freund! Die Zeit des Eremitentums ist vorbei. Du musst mal wieder unter Leute.«
Serge lässt die kumpelhafte Umarmung des smarten Anzugträgers über sich ergehen.
»Das sind übrigens Angélique und Fabienne, die uns den Heimflug nach Paris versüßen sollen. Aber wie ich sehe, hast du schon ein Schneehäschen gefunden.«
»Das ist Mademoiselle Bélingard. Ihrer Familie gehört das Chalet, das ich bewohne«, entgegnet Serge reserviert.
»Oh, verzeihen Sie, Mademoiselle. Wo habe ich bloß meine Manieren? Antoine Ringaud, Monsieur Signacs Agent.« Er streckt mir seine Hand entgegen, die ich nur zögernd ergreife.
Ringaud ist ein braungebrannter Sonnyboy mit Zahnpastalächeln und rotblonden Locken, der mit seiner großspurigen Art so gar nicht zu Serge zu passen scheint. Aber was weiß ich überhaupt von Serge Signac?
»Was soll diese verrückte Aktion, Antoine?«, zischt Serge gereizt. »Der Hubschrauber, die Playmates? Was willst du wirklich?«
Antoine Ringaud legt ihm vertraulich eine Hand auf die Schulter. »Ich habe da eine Wahnsinns-Promotion für dich. Morgen Nachmittag in den Galeries Lafayette. Serge Signac is back in town . Einen Tag vor Heiligabend, zur Rush Hour, quasi zur Prime Time des Christmas Shoppings. Nur dreißig Minuten lächeln und Bücher signieren. Keine Interviews, keine Lesung. 250 Mille Gage plus Buchverkäufe. Mehr Marketing und mehr Cash geht nicht, mein Freund.«
»Was, wenn ich nein sage, Antoine?«
»Du kannst nicht nein sagen, Serge. Ich habe bereits unterschrieben.«
Serge runzelt die Stirn. »Wie kommst du dazu, über meinen Kopf hinweg Termine zu vereinbaren, Antoine?«
»Ich habe es selbst erst heute erfahren und musste schnell handeln. Ursprünglich war Grisham für das Event gebucht, aber er musste aus gesundheitlichen Gründen kurzfristig absagen. Es ist die ideale Veranstaltung für dein Europa-Comeback.«
Serge seufzt. »Gib uns ein paar Minuten, Antoine.«
Der Agent sieht zwischen Serge und mir hin und her, ehe er nickt. »Ja sicher, Kumpel. Ich kann mit den beiden Bunnys ja einen Schneemann bauen, während du in dich gehst.«
Serge trägt den Korb mit den Lebensmitteln ins Haus und ich folge ihm. Er stellt den Korb auf den Küchentisch, während ich in der Tür stehen bleibe.
»Da draußen wartet dein Charterflug in die Zivilisation. Worauf wartest du noch?«, frage ich so kühl und emotionslos wie möglich.
Serge dreht sich zu mir um. »Ich fürchte, ich muss diesen Termin wahrnehmen, aber ich möchte nicht ohne dich gehen.« Er macht eine Pause. »Komm mit mir nach Paris, Julie.«
Seine Stimme klingt so ruhig und aufrichtig, dass ich eine Gänsehaut bekomme und mein Herz einen nervösen Sprung macht. Mit diesem Angebot habe ich nicht gerechnet. Ein Teil von mir ist tatsächlich bereit und willens, alle Bedenken über Bord zu werfen und ihm zu folgen. Wenn es sein muss, nicht nur nach Paris, sondern bis ans Ende der Welt. Aber ein anderer Teil von mir kann die Augen nicht so einfach vor der Realität verschließen. Nicht noch einmal. Nicht nach der Sache mit Théo. Was soll ich in Paris, wo schon eine andere auf ihn wartet?
Ich schüttele den Kopf. »Nein, Serge. Du weißt selbst, dass das keine gute Idee wäre. Lass es uns als das sehen, was es war. Wir saßen hier fest und haben das Beste aus der Situation gemacht. Wir hatten unseren Spaß miteinander und jetzt ist der Zeitpunkt gekommen …«
»Was redest du da, Julie?«, unterbricht er mich barsch und sieht mich stirnrunzelnd an. »Das Beste aus der Situation gemacht? Unseren Spaß miteinander gehabt? Findest du wirklich, das war schon alles?«
Ich zucke mit den Schultern. »Sag du es mir, Serge.«
»Was ist nur los mit dir, Julie? Ich dachte, das zwischen uns wäre mehr, als nur Spaß und Sex. Und ich hatte gehofft, du sähest das genauso.«
Er sieht mir auf diese unvergleichlich intensive Weise in die Augen, doch ich weiche seinem Blick aus.
»Was ist so verkehrt an Spaß und Sex?«, frage ich stattdessen und versuche mich an einem unbekümmerten Lächeln, das aber gründlich missglückt.
»Hör auf damit, Julie. Du bist eine wunderbare Frau, aber eine grauenhafte Schauspielerin. Sag mir endlich, was du wirklich denkst.«
Ich atme tief durch. »Ich denke, dass ich Angst habe, Serge. Angst vor mir, vor dir und davor, noch einmal enttäuscht zu werden. Da draußen wartet ein Hubschrauber mit zwei Playmates auf dich. Du solltest dich beeilen.«
Er tritt auf mich zu und nimmt mein Gesicht behutsam in beide Hände, sodass ich gezwungen bin, ihn anzusehen. »Sag mir, dass ich hier bleiben soll und ich werde bleiben.«
»Ich will, dass du gehst«, entgegne ich mit tonloser Stimme und blinzele gegen die Tränen an, die mir in den Augen brennen.