Dienstag, 23. Dezember
K opfschmerzen. Rasende, pochende Kopfschmerzen, brennende Augen, eine wunde Nase, ein übles Gefühl im Magen und entsetzlich schmerzende Glieder. Als ich aufwache, fühle ich mich, als hätte ich mir eine heftige Grippe eingefangen. Alles tut weh und ich fühle mich zu matt, um mich aus dem Bett zu quälen. Dann erst kommt mir mit einem gewaltigen Schreck wieder zu Bewusstsein, was gestern geschehen ist und dass ich mich wie ein liebeskranker Teenager in den Schlaf geweint habe. Dabei war ich nie ein liebeskranker Teenager. Ich habe nicht geweint, als die Sache mit Jean auseinander ging und auch nicht wegen Théo. Natürlich habe ich gelitten, aber es fühlte sich nicht an, als würde eine Welt zusammenbrechen. Als würde mein Herz zerrissen. Diesmal ist es anders. Diesmal habe ich geweint. Stundenlang, bis spät in die Nacht. Serge ist fort. Ich habe ihn weggeschickt. Und er ist tatsächlich gegangen.
Es ist überwältigend, wie wunderschön ein Mensch sein kann, der zur Tür hinausgeht. Überwältigend, wie sehr es wehtut. Überwältigend, wie falsch es sich anfühlt.
Aber was hätte ich tun sollen? Wie hätte die Alternative ausgesehen? Ihm blind nach Paris folgen? Alle Erfahrungen, alle Warnungen, alle Tatsachen in den Wind schreiben? Die Augen vor der Wahrheit verschließen? Mich selbst mit einer Lüge betrügen? Um den Traum vom großen Glück noch ein bisschen weiter träumen zu dürfen? Ihn noch ein bisschen länger auszukosten; noch ein paar Tage, ein paar Wochen, vielleicht für immer? Mich mit Kompromissen arrangieren? Mit der Gewissheit leben, nie die Einzige für ihn zu sein? Mit der Tatsache klarkommen, dass es andere neben mir gibt? Mit grünen Augen und braunen Locken oder mit elend langen Beinen und platinblondem Haar? Nehmen, was ich kriegen kann und was er bereit ist, mir zu geben? Darauf warten, dass er das Interesse an mir verliert, dass er meiner überdrüssig wird und mich durch eine andere ersetzt? Oder auf das, was ich mit Théo erlebt habe? Darauf, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, ein bisschen zu früh heimzukommen und die falsche Tür zu öffnen?
Nein. Ich habe alles richtig gemacht. Ich habe getan, was ich tun musste, um mich vor all dem zu schützen. Um nicht noch einmal belogen, betrogen und verletzt zu werden. Aber warum tut es dann so höllisch weh? Warum fühlt es sich so falsch an?
Ich krieche aus dem Bett, ziehe meinen Morgenmantel über, ohne mein grauenhaftes Spiegelbild eines Blickes zu würdigen und schlurfe wie ein Schlafwandler ins Badezimmer. Doch schon ein einziger Blick auf die Wanne genügt, um mir erneut Tränen in die Augen zu treiben. Ich denke daran, wie Serge mit der duftenden Bavaroise im Türrahmen stand, daran, wie er mir voller Zärtlichkeit den Rücken gewaschen hat und daran, wie wir uns auf diese besondere Weise geliebt haben.
Geliebt. Mon Dieu! Ein Teil von mir wehrt sich gegen dieses mächtige Wort. Schließlich waren es doch nur drei Tage. Drei Tage, die sich anfühlen wie ein ganzes Leben. So viele Erinnerungen, so viele Bilder, so viele Erlebnisse.
Da ist Serges Schlafzimmer mit dem Bett, dessen Laken noch nach ihm und nach mir riechen. Wie ferngesteuert gehe ich vom Bad in sein Zimmer und grabe die Nase tief in den weißen Batist seines Kissens. Es duftet nach erdigen Hölzern, würzigen Kräutern und frischer Bergamotte. Gestern Abend konnte ich den Gedanken nicht ertragen, in diesem Bett zu schlafen. Mich mit Serges Geruch in der Nase in den Schlaf zu weinen. Aber jetzt ist die Versuchung einfach zu groß. Ich inhaliere seinen Duft wie eine Süchtige.
Mit dem Kopfkissen im Arm schlurfe ich die Treppe hinunter, wo mich die nächsten Erinnerungen zu überwältigen drohen.
Eigentlich will ich mir nur einen Espresso machen, um meine Kopfschmerzen zu bekämpfen, doch schon der Gedanke daran, wie Serge an dieser Anrichte gestanden, Espresso gekocht und ihn mir mit diesem atemberaubenden Lächeln auf den Lippen serviert hat, lässt mich lediglich zu einem Glas Leitungswasser und einer Aspirin greifen.
Ich denke daran, wie wir zusammen am Küchentisch gesessen und geplaudert haben und – mon Dieu! – wie wir es darauf getrieben haben. An die Sache mit meinen halterlosen Strümpfen, an das Gefühl von Rotweinsirup auf meinen Brüsten, an Serges Hände auf meiner Haut und an seine Lippen zwischen meinen Schenkeln.
Und dann mache ich den Fehler, ins Wohnzimmer zu gehen. Gleich neben dem Kamin steht in all seiner nostalgisch funkelnden Pracht der Sapin de Noël. Die herrlich duftende Tanne, die wir im Tiefschnee ausgewählt, die Serge geschlagen und die wir gemeinsam im dichtesten Schneetreiben zum Haus gezerrt haben. Ich denke an unsere Schneeballschlacht; daran, wie wir ausgelassen wie Kinder im Schnee gespielt haben und daran, wie das vermeintliche Kinderspiel mit einem Mal eine ungeahnt sinnliche Wendung nahm. Ich denke an Serges funkelnde Smaragdaugen beim Schmücken des Baumes und ich frage mich, ob ich den alten Weihnachtsschmuck je wieder ansehen und Eric Claptons Christmas-Album je wieder anhören kann, ohne wehmütig an diesen besonderen Abend zurückzudenken.
Ich habe an die zurückliegenden drei Tage tatsächlich mehr wertvolle Erinnerungen als an die Monate mit Théo und ich verbinde mit Serge mehr besondere Erlebnisse als mit allen Männern, die ich vor ihm gekannt habe.
Serge Signac brauchte nur drei Tage, um mein Leben zu verändern, meine Welt aus den Angeln zu heben und mein Herz zu brechen.
Was, wenn ich doch nicht alles richtig, sondern alles falsch gemacht habe? Was, wenn ich falsche Schlüsse gezogen und wegen meiner Erfahrungen mit Théo überreagiert habe? Hätte ich nicht doch den Mut haben müssen, ihn auf diese Textnachricht anzusprechen? Ihm Gelegenheit geben müsse, sich zu erklären und Stellung zu beziehen?
Aber was hätte das geändert? Vielleicht hätten wir gestritten, weil ich seine Nachricht gelesen habe. Vielleicht hätte er abgestritten, dass die grünäugige Pariserin seine Geliebte ist. Vielleicht hätte er aber auch einfach dazu gestanden. Schließlich gäbe es keinen Grund, das nicht zu tun. Welchen Anspruch könnte ich schon auf ihn erheben? Ich, die ungefragt in sein Leben hineingeschneit ist, die sich in seinem Ferienhaus breitgemacht und seinen Alltag durcheinandergewirbelt hat? Vermutlich sollte ich dankbar für das sein, was das Schicksal bereit war, mir zu geben. Drei kostbare Tage lang hat er mir gehört und ich ihm.
In diesem Moment klingelt das Telefon und reißt mich aus meinen trübsinnigen Gedanken. Das Klingeln dröhnt und schmerzt in meinem Kopf.
»Maman?«, krächze ich und merke erst dabei, wie rau und verheult meine Stimme klingt.
»Julie, ist etwas passiert?«, fragt sie prompt und klingt richtig besorgt.
»Nein, Maman«, widerspreche ich schnell und putze mir die Nase. »Ich habe mir bloß eine leichte Erkältung eingefangen. Kein Wunder bei dem Wetter ...«
»Rede keinen Unsinn, Kind«, unterbricht sie mich resolut. »Du weißt, dass du deine Mutter nicht anlügen kannst. Ich weiß genau, wann du erkältet klingst und wann du geweint hast. Und heute hast du geweint.«
Ich seufze.
»Erzähl mir, was passiert ist, Julie. Ist es immer noch wegen Théo?«
»Nein.« Ich schlucke. »Es ist wegen Serge Signac.«
»Oh là là! « Maman pfeift durch die Zähne. »Da hast du dich aber wirklich schnell getröstet.«
»Maman!«, zische ich empört.
»Das war doch kein Vorwurf, Julie. Ehrlich gesagt wundert es mich auch gar nicht, dass das passiert ist. Serge Signac ist ein aufregender Mann. Den würde wohl keine Frau von der Bettkante stoßen.«
»Maman!«
»Du weißt, wie ich das meine, Schatz. Er ist attraktiv, kultiviert, kosmopolitisch – quasi das Gegenteil von Théo. Endlich ein Mann, der zu dir passt …«
»Er ist fort«, unterbreche ich sie und fange im selben Moment an zu schluchzen. Mince! Das wollte ich nun wirklich vermeiden.
»Ist ja schon gut, Liebes. Putz dir die Nase und dann erzähl mir, was diesmal schiefgegangen ist.«
Ich ignoriere den Seitenhieb und nehme einen Schluck Wasser. Dann erzähle ich ihr von der Textnachricht, von der Episode mit dem Hubschrauber und davon, wie ich Serge zum Teufel geschickt habe.
»Und du meinst nicht, dass du möglicherweise ein bisschen überreagiert hast, Schatz?«
»Das ist so typisch für dich, Maman«, ereifere ich mich. »An Théo konntest du nie ein gutes Haar lassen. Ich glaube, du warst sogar insgeheim froh, als das mit Inés passiert ist. Aber für Serge Signac, dem du vermutlich noch nie persönlich begegnet bist, ergreifst du sofort Partei. Du nimmst ihn in Schutz, weil er ein weltberühmter Schriftsteller ist, weil er so kreativ ist, so erfolgreich, so weltmännisch.«
»Nein, weil du glücklich mit ihm warst, Julie«, entgegnet sie ruhig. »Weil er es in nur drei Tagen geschafft hat, dich zum Weinen zu bringen. Weil er dir etwas bedeutet. Deshalb frage ich dich, ob du mit deiner Reaktion nicht eventuell über das Ziel hinausgeschossen bist.«
»Ich weiß es nicht«, schluchze ich. »Das ist es ja gerade.«
»Ach, mein Schatz. Mein armes kleines Mädchen. Jetzt beruhigst du dich erst mal und dann setzt du dich ins Auto und kommst nach Hause. Dann packen wir dich auf die Couch und du lässt dich so richtig verwöhnen. Und nach den Feiertagen sehen wir weiter ...«
»Ich kann nicht, Maman«, unterbreche ich sie schluchzend. »Selbst wenn ich wollte. Ich bin hier oben immer noch eingeschneit, mein Auto steckt bis zum Dach im Schnee. Wenn bis morgen nicht ein Wunder geschieht, sitze ich über Weihnachten hier fest.« Verlassen und mutterseelenallein, wie ich es anscheinend verdient habe , füge ich im Geist hinzu.
Jetzt ist es Maman, die am anderen Ende der Leitung ein Schluchzen unterdrückt.